Nicht in Gottes Hand: Wie Parteianwälte das Zivilverfahren steuern können

Überlange Gerichtsverfahren: Vorbeugen ist besser als heilen
Prof. Dr. Reinhard Greger, Erlangen
Der Autor ist ehemaliger Professor der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und freiwillige Gerichtsbarkeit) sowie Richter am BGH a. D.

Quelle: Greger, AnwBl 2015, 541-545

Welche Handlungsoptionen haben Anwältinnen und Anwälte, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange Zeit dauert? Die Bestandsaufnahme in diesem Heft (AnwBl 2015, 536) fiel sehr ernüchternd aus: Bis auf die – zahnlose, aber gleichwohl unerlässliche – Verzögerungsrüge steht dem Rechtsanwalt kein wirksames Mittel zur Verfahrensbeschleunigung zur Verfügung. Die neue Entschädigungsklage nach § 198 GVG hat den Weg zu BVerfG und EGMR versperrt und bietet der um effizienten Rechtsschutz gebrachten Partei nur eine mehr symbolische Kompensation. Einziger wirksamer Rechtsbehelf ist die Amtshaftungsklage, die aber auch nur kompensatorisch wirkt und hohe Beweisanforderungen stellt. Der Beitrag schloss mit dem Fazit, dass man Nachteile durch überlange Prozessdauern nur verhindern kann, indem man ihrer Entstehung entgegenwirkt. Wie dies vor allem im Zivilprozess geschehen kann, erläutert der Autor nachfolgend – wobei viele Hinweise zwanglos auch auf Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz übertragen werden können.

I. Ursachen und Verantwortung für überlange Verfahrensdauern

Die Möglichkeiten des Rechtsanwalts zur Beschleunigung von Gerichtsverfahren erscheinen begrenzt, denn die Prozessleitung liegt in den Händen des Gerichts. Bestätigt hat dies eine im Auftrag der OLG-Präsidenten durchgeführte empirische Untersuchung. Sie hat folgende Hauptursachen für lange Verfahrensdauern aufgezeigt:

• unzureichende Verfahrensförderung durch das Gericht
• Erhebung des Sachverständigenbeweises
• Richterwechsel
• Terminsverlegungen und Fristverlängerungen

Nun hat zwar das BVerfG erkannt, dass die Gerichte die Verantwortung für die richtige Rechtsanwendung nicht auf dem Umweg über den Haftungsprozess den Rechtsanwälten überbürden dürfen. Die in der Berufsordnung verankerte Anwaltspflicht, den Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen, vor Fehlentscheidungen zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung zu sichern (§ 1 Abs. 3 BORA), begründet aber sehr wohl eine Mitverantwortung für die Sicherstellung eines effizienten Rechtsschutzes – ganz abgesehen davon, dass die Vermeidung langjähriger Prozessdauern auch im ureigensten Interesse des Anwalts liegt.

Mit der Einführung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) wurde zwar eine gesetzliche Mitverantwortung für die zügige Prozessbeendigung begründet. Dieser Rechtsbehelf gibt dem Anwalt aber, wie dargestellt, eine sehr schwache Waffe an die Hand (die zudem in Form von Haftungsrisiken nach hinten losgehen kann): Die Rüge muss nicht einmal beschieden werden; sie hat nur – um im Bild zu bleiben – die Qualität eines Warnschusses, der abgegeben werden muss, um eine spätere Entschädigungsklage zu ermöglichen.

Was kann der Rechtsanwalt sonst tun, um auf einen zügigen Fortgang des Rechtsstreits hinzuwirken? Die Antwort auf diese Frage erfordert einen Blick auf die Funktion des Zivilprozesses.

II. Ziel und Wirkungen des Zivilprozesses

Der Zivilprozess dient – anders als der Strafprozess – nicht primär dazu, ein öffentliches Interesse an der Bewahrung der Rechtsordnung durchzusetzen, sondern er soll vor allem sicherstellen, dass der Bürger seine Rechte durchsetzen kann, wenn Verhandeln oder Vermitteln nicht zum Erfolg führt. Hierfür stellt die ZPO ein geordnetes Verfahren bereit, welches von der Klageerhebung zum Urteilsspruch führt. Betrachtet man jedoch die Rechtswirklichkeit, so stellt man fest, dass nur ein Bruchteil der erhobenen Klagen zu einem Urteil führt: Mit einem streitigen Urteil enden von den Amtsgerichtsprozessen letztlich (das heißt in erster oder zweiter Instanz) nur etwa 22 Prozent, von den Landgerichtsprozessen sogar nur etwa 16,5 Prozent. Im Mittelpunkt der Zivilrechtspflege steht demnach nicht das Urteil, sondern die Streitbeilegung durch Unterwerfung (Klagerücknahme, Verzicht, Anerkenntnis, Versäumnisurteil) oder durch Vergleich.

Dies wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, in wie vielen Fällen allein die Möglichkeit eines Prozesses dazu führt, dass Ansprüche freiwillig erfüllt werden. Allein der „Schatten des Prozesses“ führt zu rechtstreuem Verhalten, der des drohenden und erst recht der des tatsächlich eingeleiteten. Offenbar erfüllt der Zivilprozess seinen Zweck weithin bereits durch seine Existenz, das heißt die Aussicht auf eine Entscheidung nach Recht und Gesetz.

Allerdings findet ein nicht unerheblicher Teil der unstreitigen Erledigungen erst nach langer Prozessdauer, häufig in zweiter Instanz oder gar nach Zurückverweisung durch den BGH, statt. Dies könnte daraufhindeuten, dass Prozessziel und Prozesswirklichkeit nicht voll synchronisiert sind. Wenn das Ziel des Prozesses – die Herstellung eines als rechtskonform empfundenen Zustands – so häufig ohne Urteil erreicht wird, stellt sich die Frage, ob es sachgerecht ist, die Prozessführung in erster Linie auf die kontradiktorische Entscheidung auszurichten. Dem kann natürlich entgegengehalten werden, dass oftmals erst die streitige Auseinandersetzung vor dem Richter den Boden für eine unstreitige Prozessbeendigung bereitet. Aber darf dieser Vorgang fünf, zehn oder fünfzehn Jahre dauern?5

Als Ansatzpunkt für die weiteren Überlegungen könnte jedenfalls die These dienen, dass die Ausrichtung des Zivilprozesses auf das kontradiktorische Urteil die zügige Rechtsverwirklichung eher hindert als fördert.

III. Die Rolle des Rechtsanwalts

Einen weiteren Ansatzpunkt könnte das Rollenverständnis des Rechtsanwalts bieten. Als Prozessbevollmächtigter ist er nicht bloßer Zulieferer für das Gericht, sondern Repräsentant der um ihr Recht kämpfenden Partei und damit für die optimale Durchsetzung ihrer Interessen verantwortlich. Diese Aufgabe wird mit der Klageerhebung nicht an das Gericht delegiert, sondern lediglich in ein neues Stadium überführt, in dem der Anwalt weiterhin den aktiven Part spielt.

Langjährige Richtererfahrung lehrt, dass das Zusammenspiel zwischen Gericht und Rechtsanwälten vielfach nicht optimal funktioniert. Nicht wenige Anwälte beschränken sich nach der Prozesseinleitung auf eine eher passive, abwartende Rolle, die sich hauptsächlich in der schriftsätzlichen Reaktion auf Vorbringen der Gegenseite äußert. Aber auch von Seiten der Richterschaft geschieht oftmals zu wenig, um die Prozessbevollmächtigten aktiv in das Prozessgeschehen einzubinden. Die materielle Prozessleitung – vor allem in Form der Erörterungspflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO – wird vielfach zu wenig wahrgenommen. Statt gemeinsam an einer sachgerechten Ausgestaltung des Verfahrens zu arbeiten, nehmen die Prozessbeteiligten die Rollen von Zulieferer und Hersteller ein. Der – anders gemeinte – Satz „Da mihi factum, dabo tibi ius“ passt auch auf diese Situation.

Dies führt zu einem dritten Ansatzpunkt: der im Prozess praktizierten Kommunikation.

IV. Kommunikation im Rechtsstreit

Der Prozess ist ein komplexer Kommunikationsvorgang: In ihm sollen dem Richter die für die neutrale, rechtskonforme Entscheidung des ihm unbekannten Sachverhalts benötigten Informationen verschafft werden. Zugleich soll er die Streitparteien zu einer einvernehmlichen Lösung führen (§ 278 Abs. 1 ZPO). Gute Kommunikationsbedingungen wären daher Grundvoraussetzung für einen befriedigenden Prozessverlauf. Tatsächlich bietet das Gerichtsverfahren jedoch ausgesprochen ungeeignete Bedingungen für eine erfolgreiche Kommunikation. Dies hat folgende Ursachen:

1. Zentrale Rolle der Schriftsätze

Obwohl sie nach § 129 ZPO die mündliche Verhandlung nur vorbereiten sollen, sind sie in der Praxis das wesentliche Mittel der Informationsübermittlung. Dies steht aber in Widerspruch zu den elementaren Anforderungen an eine erfolgreiche Kommunikation.

Eine solche

• läuft zum größten Teil nonverbal, das heißt über Körpersprache und Tonfall – der Schriftsatz blendet diese Mittel aus;

• erfordert Unmittelbarkeit – der Schriftsatz wird aber von einem (nicht immer voll informierten) Bevollmächtigten verfasst und auf den Zweck der kontradiktorischen Rechtsfindung abgestellt;

• erfordert Einstellen auf den Empfänger – dies ist schwierig, weil der Schriftsatz de facto nicht nur für das Gericht bestimmt ist, sondern drei weitere Adressaten hat (Gegenanwalt, Gegenpartei und eigenen Mandanten);

• ist ein zweiseitiger Vorgang – der Schriftsatz liefert aber nur einseitige Information, verhindert Rückfragen und Vergewisserung, fördert negative Reaktionen.

2. Prägung durch den kontradiktorischen Charakter des Prozesses

Das Prozessrecht verlangt, dass die Kommunikation in Form von Angriff und Verteidigung durchgeführt wird. Sie findet also in einer belasteten Beziehung statt, wird durch taktisches Vorgehen verfälscht und besteht im Wesentlichen aus kommunikationsfeindlichen Du- statt Ich-Botschaften (Forderungen und Vorwürfe statt Wünsche und Bedürfnisse). Während Ich-Botschaften verständigungsorientiert sind, erzeugen Du-Botschaften leicht Rechtfertigungsdruck, Abwehr und Gegenangriff. Gerichtsakten legen beredtes Zeugnis von diesem eskalationsfördernden Pingpong ab.

3. Gestörte Wahrnehmung

Die bei jeder Kommunikation bestehende Gefahr von selektiver oder verfälschter Wahrnehmung wird im Rechtsstreit durch zahlreiche prozessspezifische Einflüsse vergrößert: emotionale Belastung, Vorverständnisse, Verdrängung, fehlendes Fachwissen, durch Positionendenken begrenzter Blickwinkel und vieles mehr.

4. Komplexität

Beim Austausch über schwierige Sachverhalte oder vielfältige Aspekte geht leicht der Überblick verloren. Man redet beziehungsweise schreibt aneinander vorbei; bereits gewonnene Erkenntnisse gehen verloren. Im Zivilprozess sind oft sehr komplexe Sachverhalts- und Rechtsfragen zu behandeln; nicht selten wird die Komplexität gezielt vergrößert. Der Inhalt von vielbändigen Aktenkonvoluten ist kaum noch beherrschbar.

5. Gerichtsatmosphäre

Es gibt kaum eine kommunikationsfeindlichere Atmosphäre als die einer herkömmlichen Gerichtsverhandlung. Sitzordnung, formaler Ablauf, bruchstückhafte Erörterung, Zeitdruck, beklemmende Räumlichkeit, Fehlen von optischen Hilfsmitteln und Praxis der Protokollierung stehen oft einem positiven Verhandlungsklima entgegen.

6. Schlussfolgerung

Der Rechtsanwalt kann die ungünstigen Bedingungen der prozessualen Kommunikation nicht ändern. Sie könnten aber Anlass geben, das Kommunikationsverhalten den Bedingungen optimal anzupassen oder sich um eine Kommunikation außerhalb der formalen Abläufe zu bemühen. Im Folgenden soll nun versucht werden, aus den Erkenntnissen zur Ursache überlanger Verfahrensdauern und den Überlegungen zu Prozessziel, Rollenverständnis und Kommunikation Optionen für Beiträge des Anwalts zu einer effizienten Prozessführung zu entwickeln.

V. Beteiligung an der materiellen Prozessleitung

Wie die Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten festgestellt hat, liegt eine der Hauptursachen für lange Verfahrensdauern in der unzureichenden Verfahrensförderung durch das Gericht. Um diesem Missstand zu begegnen, hat der Gesetzgeber die Verzögerungsrüge geschaffen, die aber nur appellativen Charakter hat. Größeren Erfolg versprächen konstruktive Beiträge des Anwalts zur Prozessförderung.

Solche Beiträge werden dann möglich, wenn der Anwalt seine Rolle im Prozess nicht darauf beschränkt, dem Gericht die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen für ein seinem Mandanten günstiges Urteil zu liefern, sondern wenn er zugleich auf eine zielgerichtete Verfahrensführung hinwirkt. Indem er die Klageerhebung nicht als Delegation seiner Aufgabe, sondern als Eröffnung eines neuen Stadiums anwaltlicher Konfliktbehandlung versteht, übernimmt er eine bestimmende statt einer lediglich dienenden Rolle die neben die Verantwortung des Richters für den Prozessbetrieb tritt. Kooperation, nicht Delegation ist demnach das richtige Leitbild für die Beziehung zwischen Anwalt und Zivilgericht.

Die Realität des Prozessbetriebs weicht indessen von diesem Leitbild deutlich ab. Dies liegt zum Teil an der verbreiteten Richterpraxis, schematisch Termin zu bestimmen und diesen – anders als in der ZPO vorgesehen – nicht durch eine aktive Prozessleitung in Form einer zielführenden Kommunikation mit den Anwälten vorzubereiten. Hierfür ist die ZPO allerdings mitverantwortlich: Durch ihre Ausrichtung auf das kontradiktorische Urteil und die dialektische Form seiner Grundlegung verlangt beziehungsweise fördert sie den Aufbau gegnerischer Positionen (Klagebegründung und -erwiderung, Replik und Duplik, Angriffs- und Verteidigungsmittel, Beweisantritt und Beweiseinrede, Zulassung von Gegenangriffen in Form von Widerklage und Prozessaufrechnung). Versuche des Reformgesetzgebers, dieser Konfrontationshaltung durch eine Hervorhebung der richterlichen Erörterungspflicht in § 139 Abs. 1 ZPO entgegenzuwirken, hatten nur begrenzten Erfolg. Insbesondere im vorterminlichen Stadium findet weithin ein ungesteuerter Schriftsatzaustausch statt; die in einer frühzeitigen Kanalisierung und Fokussierung des Prozessvortrags liegenden Chancen bleiben weithin ungenutzt.

Der Rechtsanwalt kann hierauf nur begrenzt Einfluss nehmen, sollte die begrenzten Möglichkeiten aber nutzen. Erster Schritt hierzu ist ein strukturierter, auf das Wesentliche beschränkter Vortrag in den vorbereitenden Schriftsätzen. Die verbreitete Praxis, in die Schriftsätze persönliche Angriffe gegen den Prozessgegner einfließen zu lassen, führt, wie der Verfasser in seiner richterlichen Praxis vielfach erfahren musste, zu allseits belastenden Ausuferungen des Rechtsstreits und ist unbedingt zu vermeiden. Insbesondere aber sollten dem Richter nicht nur Informationen zur materiellen Rechtslage, sondern auch zum prozessualen Vorgehen vermittelt werden.

Dazu kann zum Beispiel gehören, zur zeit- und kostensparenden (Vor-)klärung einer Sachfrage bereits zum ersten Termin einen Sachverständigen zuzuziehen (§ 144 ZPO), schon vor dem Termin einen Augenschein (eventuell mit Sachverständigem) vorzunehmen oder eine schriftliche Zeugenaussage anzufordern (§ 358 a ZPO), eine Urkundenvorlage nach § 142 ZPO anzuordnen, zur Auslotung von Vergleichsmöglichkeiten eine gesonderte Güteverhandlung, eventuell beim Güterichter, anzusetzen (§ 278 Abs. 2, 5), ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 128 Abs. 2 ZPO), einen schriftlichen Vergleichsvorschlag (§ 278 Abs. 6 ZPO) zu unterbreiten oder in einem formlosen Erörterungstermin den Verfahrensablauf abzustimmen. Anstelle der schablonenhaften Bitte um „richterlichen Hinweis, falls weiterer Sachvortrag für erforderlich gehalten wird“ sollte der Anwalt die Anregung geben, den Parteien bereits im Vorbereitungsstadium (§ 273 ZPO) durch eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage Gelegenheit zur Präzisierung ihres Vorbringens zu geben.

Der Anwalt kann den Richter durch solche Anregungen nicht zu einer bestimmten Verfahrenssteuerung zwingen, er kann aber den Impuls zu einer – letztlich auch im richterlichen Interesse liegenden – Verfahrensentlastung durch ein falladäquates Procedere geben.

VI. Konfliktmanagement im Schatten des Prozesses

Wie aufgezeigt wurde, erfüllt der Zivilprozess seine Funktion nicht in erster Linie durch das Herbeiführen von Urteilen, sondern durch seine zu rechtskonformem Verhalten oder einvernehmlicher Konfliktlösung motivierende Gewährleistung. Die Partei, die mit einem ungünstigen Urteil rechnet, ist bestrebt, dieses und die damit verbundenen Folgen (unmittelbare und mittelbare Kosten, persönliche Belastungen, Zeit- und Ansehensverlust) zu vermeiden und den Konflikt anderweitig zu beenden. Der Rechtsanwalt tut deshalb gut daran, wenn er sich nicht nur auf die fremdbestimmte Streiterledigung durch richterlichen Urteilsspruch konzentriert, sondern seinem Mandanten auch die positiven Wirkungen der bloßen Prozesssituation nutzbar macht – durch schnelle, interessengerechte Verhandlungslösungen quasi im Schatten des (drohenden oder schwebenden) Prozesses. Er setzt damit den Zivilprozess zwar als Druckmittel zur Durchsetzung der Rechte seines Mandanten ein, arbeitet aber aktiv daran, eine richterliche Streitentscheidung entbehrlich zu machen (womit wiederum ein Bezug zur richterlichen Aufgabenstellung – gütliche Streitbeilegung nach § 278 Abs. 1 ZPO – besteht).

Erfolg versprechend können derartige Bemühungen nur sein, wenn der Rechtsanwalt die unmittelbare Kommunikation mit der Gegenseite sucht. Der – für das Gericht bestimmte – Schriftsatz ist nicht das passende Medium für das Erarbeiten konsensualer Lösungen.

VII. Handlungsoptionen

Dem Rechtsanwalt bieten sich somit insbesondere folgende Möglichkeiten für ein prozessvermeidendes oder -entlastendes Konfliktmanagement:

1. Vor Klageerhebung

Wenn außergerichtliche Verhandlungen und Schlichtungsbemühungen gescheitert sind, der Mandant folglich Prozessauftrag erteilt hat, sollte gleichwohl nicht sofort Klage erhoben werden. Es empfiehlt sich vielmehr, der Gegenseite unter Hinweis auf den erteilten Klageauftrag nochmals ein Gespräch über die Möglichkeit einer Prozessvermeidung anzutragen (sog. Last-Minute-Angebot). Ein solches Gespräch hat oftmals Erfolg, weil durch die nunmehr unmittelbar bevorstehende Klageerhebung eine neue Eskalationsstufe erreicht ist. Der Gegner steht unter psychologischem Druck. Das empfangene Gesprächsangebot signalisiert Kampfbereitschaft und Siegesgewissheit; gleichzeitig bietet es die Chance, den Unannehmlichkeiten eines Gerichtsverfahrens mit ungewissem, oft ebenfalls kompromisshaftem Ausgang zu entgehen.

Solche Gesprächsangebote sind entgegen verbreiteter Meinung keine Zeichen von Schwäche, sondern von Souveränität und Durchsetzungswillen. Sie sind auch vom Gesetzgeber gewollt: Das RVG honoriert die entsprechenden Bemühungen des Rechtsanwalts durch eine Terminsgebühr (Vorbem. 3 Abs. 3 VV-RVG). Sie entsteht schon durch ein kurzes Telefonat. Kommt es zu einer prozessvermeidenden Einigung, erhält der Rechtsanwalt dieselbe Vergütung, die anfällt, wenn nach einem u.U. langwierigen und aufwändigen Rechtsstreit erster Instanz ein Vergleich geschlossen wird. Voraussetzung ist aber, dass bereits ein unbedingter Klageauftrag erteilt ist (Vorbem. 3 Abs. 1 Satz 1 VV-RVG). Bei einem noch nicht entsprechend mandatierten Rechtsanwalt der Gegenseite ist die Schwierigkeit der Besprechung bei der Bemessung der Geschäftsgebühr zu berücksichtigen. Ob eine Einigung zustande kommt, ist unerheblich.

2. Bei Klageerhebung

Kommt es zur Klageerhebung, sollte die Klageschrift neben den vorgeschriebenen Ausführungen zum Scheitern der außergerichtlichen Lösungsversuche (§ 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) auch Äußerungen zum angestrebten Prozessverlauf enthalten (siehe oben V). Dadurch kann unter Umständen verhindert werden, dass der Richter schematisch vorgeht und Chancen für eine schnelle Lösung verbaut. Durch entsprechende Verpackung wird der Anwalt zu verhindern wissen, dass beim Richter der falsche Eindruck entsteht, der Anwalt wolle ihm Vorschriften für seine Sachbehandlung machen.

Es ist eine Erfahrungstatsache, dass Verhandlungen erfolgreicher geführt werden können, wenn sie nicht sogleich auf das Ergebnis, sondern auf den Weg dorthin ausgerichtet werden. Das Verfahren ist der Schlüssel zur Lösung, Verständigungen über das Verfahren öffnen oftmals den Weg zur Einigung in der Sache. In der Prozesssituation ist es daher wichtig, nicht nur das durchzusetzende materielle Recht im Blick zu haben, sondern auf eine sachgerechte Verfahrensgestaltung hinzuwirken. Der Rechtsanwalt kann durch entsprechende Ausführungen dazu beitragen.

3. Während des Prozesses

Der erfolgreiche Anwalt beschränkt sich nicht auf das Einreichen von Schriftsätzen, sondern bemüht sich vorrangig um eine zielführende Kommunikation mit dem Gericht und der Gegenseite. Der Schriftsatz sollte auf seine gesetzlich vorgegebene Funktion (§ 129 ZPO) beschränkt werden. Eine gegenteilige Praxis der anderen Seite sollte der Rechtsanwalt nicht übernehmen, sondern unter Hinweis auf den Formenmissbrauch souverän übergehen. Die Ausführungen sollten klar strukturiert, auf das Wesentliche beschränkt werden. Hilfreich sind Zusammenfassungen unter Einschluss des gegnerischen Vortrags, soweit er relevant ist. Dagegen sollte nicht auf alles Nebensächliche erwidert, sondern dessen Bedeutungslosigkeit dargetan werden.

Der persönlich geladene Mandant sollte auf die Güteoder mündliche Verhandlung vorbereitet werden (was erwartet ihn, wie sollte er sich äußern, wie auf Vergleichsvorschläge reagieren?). Vorschläge für die richterliche Verfahrensgestaltung können auch – und gerade – im fortgeschrittenen Prozessstadium sehr förderlich sein. Nach einer Beweisaufnahme ist die in der Praxis sehr vernachlässigte Erörterung des Beweisergebnisses (§ 279 Abs. 3 ZPO) einzufordern; hierzu gehört auch die Mitteilung der – zumindest vorläufigen – Beweiswürdigung des Richters. Auf dieser Basis können nicht nur Defizite der Sachaufklärung aufgedeckt und zeitnah behoben, sondern es kann auch auf einen richterlichen Vergleichsvorschlag nach § 278 Abs. 6 ZPO oder eine Abschichtung von Prozessstoff hingewirkt werden.

Besonders wichtig und – wenngleich vielfach gepflogen – noch ausbaufähig ist schließlich die prozessbegleitende Kommunikation mit dem Gegenanwalt. Statt die Akten durch Schriftsätze aufzublähen und Signale „über Bande“ zu senden, ist die unmittelbare Kommunikation zu suchen.

Der Prozess strahlt eine Lästigkeit aus, die nicht nur für Vergleichsgespräche (und einen sich hieraus möglicherweise ergebenden Prozessvergleich im schriftlichen Verfahren nach § 278 Abs. 6 ZPO) genutzt werden kann, sondern vor allem für Verfahrensabsprachen. So können sich die Prozessvertreter zum Beispiel auf ein Ruhen des Rechtsstreits zwecks außergerichtlicher Konfliktbeilegung (§ 278 a ZPO), auf eine Beschränkung des Prozessstoffs oder besondere Modalitäten der Sachaufklärung, etwa ein Schiedsgutachten, eine informatorische Befragung oder eine Internet-Recherche verständigen, auf die Ausräumung von Missverständnissen oder Beziehungsstörungen hinwirken usw. Vor allem können sie durch Einbeziehung nicht rechtshängiger Gegenstände in ihre Verhandlungen die Chance auf grundlegende, für beide Seiten vorteilhafte Lösungen vergrößern.

Solche Vereinbarungen können auch in einen Prozessvergleich einbezogen werden (hierfür fällt lediglich eine Gerichtsgebühr von 0,25 an; Nr. 1900 KV-GKG). Der Rechtsanwalt erhält für den nicht rechtshängigen Gegenstand eine Verfahrensgebühr von 0,8 (Nr. 3101 Ziff. 2 VV-RVG), für den addierten Wert die Terminsgebühr von 1,2 (Nr. 3101 Abs. 2 VV-RVG) und für den einbezogenen Gegenstand die Einigungsgebühr von 1,5 (Nr. 1000 VV-RVG, mit Deckelung nach § 15 Abs. 3 RVG). Selbstverständlich setzt die Erweiterung des Verhandlungsgegenstands ein entsprechendes Mandat voraus.

Wird über den nicht rechtshängigen Gegenstand mit Prozessauftrag, aber nur außergerichtlich verhandelt und kommt es infolgedessen nicht zur Klageerhebung, fällt die 0,8-Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Ziff. 1 VV-RVG, die 1,2-Terminsgebühr nach Vorbem. 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 VV-RVG und ggf. die 1,5-Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV-RVG an. Derartige Gespräche mit der Gegenseite sind kein Parteiverrat (freilich offenzulegen), sondern – wie die Vergütungsregelung zeigt – vom Gesetzgeber gewollt.

Sinnvoll sind solche Kontakte von der Einleitungsphase bis zur letzten mündlichen Verhandlung, evtl. sogar noch bis zum Verkündungstermin (zum Beispiel unter dem Eindruck einer Beweisaufnahme und der Erörterung des Beweisergebnisses nach § 279 Abs. 3 ZPO). Mit zunehmender Verfahrensdauer steigt der Nutzen solcher Gespräche.

Anzuraten sind sie auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils, um Möglichkeiten zur Abwendung eines beabsichtigten Rechtsmittels auszuloten. Hier liegt eine Chance zur Vermeidung ausufernder Verfahrensdauern, weil sich gerade in schwierigen Verfahren, in denen mit unterschiedlichen Beurteilungen der Rechtslage gerechnet werden muss, auf der Basis des in erster Instanz bereits Erörterten Wege zu autonomen Lösungen finden lassen. Das Ersturteil hat insoweit eine neue Verhandlungssituation geschaffen. Seine Begründung und deren voraussichtliche Bestandskraft können Gegenstand von Erörterungen der Parteien bilden; an seinen Bewertungen können die Parteien sich für ihre autonomen Verhandlungen orientieren. Die Terminsgebühr ohne Gerichtstermin fällt auch hier an.

VIII. Umgang mit weiteren Verzögerungsgründen

1. Sachverständigenbeweis

Nach dem Bericht der OLG-Arbeitsgruppe ist auch die schriftliche Gutachtenserstattung eine häufige Ursache für überlange Verfahrensdauern. Der Rechtsanwalt sollte daher in geeigneten Fällen andere Formen der Einführung von Sachkunde vorschlagen, zum Beispiel die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Gutachtenserstattung (§ 273 Abs. 2 Nr. 4 ZPO), die Einholung einer schriftlichen Auskunft bei einer amtlicher Stelle (§ 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), die Verwertung eines Gutachtens aus anderem Verfahren (§ 411 a ZPO), eine offengelegte Internet-Recherche (§ 291 ZPO) oder die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens vor einer sachkundigen Stelle (§ 278 a ZPO ). Sehr wichtig ist, dass die Rechtsanwälte auf eine konkrete, auf das Beweisthema verengte Fassung des Gutachtensauftrags achten.

Auf sehr effiziente Weise lassen sich die mit dem Sachverständigenbeweis verbundenen Belastungen vermeiden, indem die Parteien sich auf ein Schiedsgutachten verständigen. Hierbei wird der Sachverständige von den Parteien gemeinsam ausgewählt, beauftragt und vergütet. Üblicherweise vereinbaren die Parteien, die Feststellungen des Sachverständigen als verbindlich anzuerkennen, um so den Streitpunkt endgültig auszuräumen; eine gegenteilige Behauptung wäre dann im Rechtsstreit unbeachtlich. Nach der Rechtsprechung werden die Parteien dadurch zwar nicht gehindert, die offenbare Unrichtigkeit des Gutachtens geltend zu machen (analog § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB). Da hieraus neuer Streit entstehen kann, empfiehlt es sich aber, diesen Einwand abzubedingen. Umgekehrt können die Parteien auch vereinbaren, dass die Feststellung nicht oder nur für eine Seite verbindlich sein soll. Dies erleichtert u.U. die Zustimmung zu einem Schiedsgutachten, ohne diesem seine (dann nur faktische) Bindungswirkung zu nehmen.

2. Verzögerungstaktik des Gegners

Obwohl die ZPO hierfür wirksame Mittel bereit hält (s. §§ 296, 356 ZPO), scheuen viele Richter vor einem stringenten Vorgehen gegen solche Vorgehensweisen zurück. Dies darf der Anwalt im Interesse seines Mandanten nicht hinnehmen. Hilfreich kann es sein, auf die vom Gericht umzusetzende verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie und die schadenstiftenden Folgen der Verzögerung hinzuweisen und verfahrensrechtliche Handhaben aufzuzeigen (zum Beispiel Fristsetzung, amtswegige Anordnungen zur Sachaufklärung

[§§ 142, 144, 448, 273, 356 ZPO], Verfahrenstrennung, Teil-, Vorbehalts- oder Grundurteil, Erörterungstermin, Terminsvereinbarung zur Vermeidung von Verlegungsgesuchen).

Die ohnehin gebotene Verzögerungsrüge kann mit dem Hinweis verbunden werden, dass verzögerndes Parteiverhalten die Bejahung einer unangemessenen Verfahrensdauer nicht hindert, wenn das Gericht von Möglichkeiten der Abhilfe keinen Gebrauch macht.

3. Richterwechsel

Nach der mehrfach erwähnten Untersuchung ist der Wechsel des zuständigen Richters ein gravierender, weil sich selbst verstärkender Verzögerungsgrund, der besondere Aufmerksamkeit und Aktivität erfordert.

Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, dass die Übernahme eines Richterdezernats eine erhebliche Herausforderung darstellt. Der Richter muss sich zusätzlich zum permanenten Neueingang in eine Vielzahl noch unbekannter Prozesse einarbeiten. Darunter befinden sich auch bereits erheblich fortgeschrittene Verfahren. Diese müsste er vorrangig bearbeiten; sie erfordern aber einen besonders hohen Arbeitseinsatz durch umfangreichen Aktenbestand, eventuell abweichende Einschätzung von Sach- und Rechtslage sowie Wiederholung von Beweisaufnahmen (zum Beispiel zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit).

Den Richter in dieser Situation unter Druck zu setzen ist ebenso wenig hilfreich wie passives Zuwarten. Mehr Erfolg verspricht es, wenn die Rechtsanwälte ihm Hilfestellung geben durch zusammenfassende Darstellung des Sach- und Streitstands, Herausarbeiten der als wesentlich erkannten Streitpunkte, Einverständnis mit Verwertung vom Protokoll früherer Beweisaufnahmen, Besprechung zum weiteren Verfahrensablauf. Richterwechsel kann (insbesondere in Altverfahren) auch Anlass geben, eine Verweisung vor den Güterichter anzuregen. In Modellversuchen wurden hiermit beste Erfolge erzielt. Bei beiderseitigem Interesse am Verfahrensabschluss sollten die Prozessbevollmächtigten sich über den Umgang mit der schwierigen Situation beraten.

IX. Schlussbemerkung

Gerade die prekäre Prozesssituation des Richterwechsels zeigt, wie wichtig es ist, dass alle am Prozess beteiligten Rechtspflegeorgane konstruktiv an einer effizienten Verfahrensgestaltung mitarbeiten. Diese liegt im allseitigen Interesse – der Beteiligten wie der Rechtspflege. Dass die Parteianwälte eine andere Funktion ausüben als der Richter und dass sie hinsichtlich des Prozessergebnisses divergierende Interessen zu vertreten haben, steht einer sachgerechten Kooperation beim Verfahrensablauf nicht entgegen.