Nachfolgend ein Beitrag vom 13.12.2018 von Nolte/Sieren, jurisPR-Compl 6/2018 Anm. 2
Anmerkung zu Court of Appeal (England & Wales) v. 05.09.2018, [2018] WLR(D) 578, [2018] EWCA Civ 2006, Serious Fraud Office (SFO) v. Eurasian Natural Resources Corporation (ENRC)
A. Problemstellung
Der Court of Appeal of England and Wales (Court of Appeal) hatte als Berufungsgericht über die Frage zu befinden, inwieweit Unterlagen aus internen Untersuchungen dem Anwaltsprivileg unterfallen. Anders als der High Court of England and Wales, der in erster Instanz den Schutzbereich erheblich eingeschränkt hatte, nahm der Court of Appeal einen weitreichenden Schutz des Anwaltsprivilegs an und erweiterte damit den Beschlagnahmeschutz für privilegierte Unterlagen.
Für international tätige Unternehmen hat die Entscheidung weitreichende Bedeutung. International gibt es kein einheitliches Regelungsregime für den Beschlagnahmeschutz von Unterlagen, die aus internen Untersuchungen stammen: Während das „attorney-client privilege“ der Vereinigten Staaten traditionell weit interpretiert wird, wurde der Beschlagnahmeschutz in Deutschland zuletzt durch das BVerfG in der „Jones Day“-Entscheidung (Urt. v. 27.06.2018 – 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17 u.a. m. Anm. Neuhöfer/Kindhäuser, jurisPR-Compl 4/2018 Anm. 1) eingeschränkt. Die nunmehr vom Court of Appeal vorgenommene Auslegung des Anwaltsprivilegs kann auch für deutsche Unternehmen, die sich im Vereinigten Königreich einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt sehen, relevant werden und deren Rechte stärken.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Sachverhalt
Dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem High Court of Justice (England & Wales) vom 08.05.2017 ([2017] EWHC 1017 (QB), Serious Fraud Office v. Eurasian Natural Resources Corporation m. Anm. Nolte/Rosenstock, jurisPR-Compl 4/2017 Anm. 4) lag folgende Ausgangssituation zugrunde:
Im Dezember 2010 erfuhr die Eurasian Natural Resources Corporation (ENRC) über einen Hinweisgeber von möglichen Korruptionstaten ihrer Mitarbeiter in Kasachstan und Afrika. Daraufhin beauftragte ENRC eine Rechtsanwaltskanzlei sowie externe Wirtschaftsprüfer mit der Durchführung interner Untersuchungen, die im April 2011 begannen. Das Serious Fraud Office (SFO), das im Vereinigten Königreich u.a. für die Ermittlung und Verfolgung von Bestechungs- und Korruptionstaten zuständig ist, hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen ENRC eingeleitet. Im August 2011 wiesen sie ENRC aber bereits auf die für Unternehmen bestehenden Kooperationsmöglichkeiten mit dem SFO hin (z.B. freiwillige Offenlegung des Sachverhalts). Im April 2013 leitete das SFO formal strafrechtliche Ermittlungen gegen ENRC ein und ersuchte ENRC um die Herausgabe der streitgegenständlichen Unterlagen. Die Unterlagen betrafen vier Kategorien:
1. Gesprächsnotizen über Interviews mit (ehemaligen) Mitarbeitern, die die mit der internen Untersuchung beauftragten Rechtsanwälte von August 2011 bis März 2013 erstellt hatten,
2. Material, das Wirtschaftsprüfer von Mai 2011 bis Januar 2013 im Rahmen einer forensischen Rechnungsprüfung erstellt hatten,
3. Präsentation der Untersuchungsergebnisse, die die mit der internen Untersuchung beauftragten Rechtsanwälte im März 2013 für ENRC erstellt hatten,
4. sonstige Dokumente der Wirtschaftsprüfer, zudem E-Mail Korrespondenz zwischen dem Leiter der Transaktionsabteilung bei ENRC (ein in der Schweiz zugelassener Rechtsanwalt) und einer anderen Führungskraft von ENRC.
ENRC berief sich – je nach Kategorie der Unterlagen – auf ihr „Litigation Privilege“ und ihr „Legal Advice Privilege“ und verweigerte die Herausgabe der betreffenden Unterlagen. In der Folge ersuchte das SFO den High Court um eine gerichtliche Entscheidung.
Das „Litigation Privilege“ dient der Vorbereitung eines (bevorstehenden) kontradiktorischen Gerichtsverfahrens. Der Beschlagnahmeschutz soll bewirken, dass der Gegner des Verfahrens keine Einsicht in die angefertigten Unterlagen nehmen kann. Geschützt wird sowohl die Kommunikation mit dem Rechtsanwalt als auch die Kommunikation mit Dritten. Um Schutz entfalten zu können, muss zum Zeitpunkt der Kommunikation ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren bereits anhängig, jedenfalls aber vernünftigerweise zu erwarten sein. Zudem muss die Kommunikation allein oder wenigstens überwiegend der Vorbereitung des Verfahrens dienen. Das „Legal Advice Privilege“ dient hingegen dem spezifischen Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant, indem jegliche Kommunikation und Arbeitsprodukte geschützt werden, die darauf ausgerichtet sind, Rechtsrat zu erteilen oder zu erhalten. Der Beschlagnahmeschutz gilt unabhängig von einem anhängigen oder erwarteten Verfahren. Kommunikation mit Dritten wird nicht geschützt.
II. Entscheidung des High Court
Der High Court bestätigte lediglich die Herausgabeverweigerung für die Unterlagen der dritten Kategorie aufgrund des „Legal Advice Privilege“. Die sonstigen Unterlagen seien herauszugeben, da sie weder dem „Litigation Privilege“ noch dem „Legal Advice Privilege“ unterfielen. Das „Litigation Privilege“ könne keinen Schutz entfalten, da ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren zum Zeitpunkt der Anfertigung der Unterlagen nicht zu erwarten gewesen sei. Darüber hinaus dienten die Unterlagen aus einer internen Untersuchung nicht der Vorbereitung eines Verfahrens, sondern der Vermeidung dessen. Ebenso wenig seien die Unterlagen vom „Legal Advice Privilege“ erfasst, da zwischen den Rechtsanwälten und den interviewten Mitarbeitern keine Mandantenbeziehung vorgelegen habe, die es zu schützen gegolten hätte. Hinsichtlich der E-Mail-Korrespondenz mit dem Leiter der Transaktionsabteilung sei der Schutz zu versagen, da er nicht als Rechtsanwalt tätig geworden sei.
III. Entscheidung des Court of Appeal
Gegen die Entscheidung des High Court legte ENRC erfolgreich Berufung ein. Der Court of Appeal wandte sich gegen die Entscheidung des High Court und bestätigte den Beschlagnahmeschutz für die Unterlagen der ersten, zweiten und vierten Kategorie (mit Ausnahme der mit dem Leiter der Transaktionsabteilung geführten E-Mail Korrespondenz). Nach Auffassung des Court of Appeal sind die Unterlagen bereits vom „Litigation Privilege“ umfasst, sodass es auf das „Legal Advice Privilege“ nicht mehr maßgeblich ankommt.
1. „Litigation Privilege“
Hinsichtlich der zeitlichen Komponente des „Litigation Privilege“ entschied der Court of Appeal, dass ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren nicht erst mit der formalen Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungen durch das SFO zu erwarten sei. Vielmehr sei dies stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Es liege nahe, dass ENRC bereits im April 2011 ab Durchführung der internen Untersuchungen ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren habe erwarten können. Jedenfalls sei dies im August 2011 ab Kontaktaufnahme durch das SFO zu erwarten gewesen.
Darüber hinaus sei es für den Schutz des „Litigation Privilege“ unerheblich, dass ENRC die Unterlagen nicht zur Vorbereitung eines Verfahrens, sondern zur Vermeidung dessen anfertigen ließ. Die durch den High Court vorgenommene Interpretation führe zu Wertungswidersprüchen. Denn es liege offensichtlich im öffentlichen Interesse, dass Unternehmen – bevor sie sich an das SFO wenden – den von Hinweisgebern erhobenen Vorwürfen nachgehen, ohne auf den Schutz des Anwaltsprivilegs verzichten zu müssen.
2. „Legal Advice Privilege“
Hinsichtlich des „Legal Advice Privilege“ fühlte sich der Court of Appeal aufgrund der aus dem Jahre 2003 stammenden Grundsatzentscheidung Three Rivers No. 5 nicht berufen, eine abschließende Entscheidung zu treffen. Es sei vielmehr Aufgabe des Supreme Court, über etwaige Rechtsprechungsänderungen zu befinden.
In einem obiter dictum führte der Court of Appeal indes aus, dass er im Falle einer eigenen Entscheidung den Schutzbereich des „Legal Advice Privilege“ ausgeweitet hätte. Seit Three Rivers No. 5 wird der Begriff der Mandantenbeziehung lediglich auf solche Personen erstreckt, die unmittelbar befugt sind, die Kommunikation mit den mandatierten Rechtsanwälten zu führen (typischerweise Inhouse-Juristen und das Management-Team). Sonstigen Mitarbeitern wird der Schutz nicht zuteil; auch wenn sie um Rechtsrat ersuchen, werden sie als – nicht geschützte – Dritte behandelt. Nach Auffassung des Court of Appeal ist diese enge Auslegung in einer globalisierten Welt nicht mehr haltbar, da es zu einer Ungleichbehandlung von multinationalen Unternehmen gegenüber kleineren und mittelständischen Unternehmen komme. Der Schutz des „Legal Advice Privilege“ dürfe nicht von der personellen Größe des Mandanten abhängig sein und sei demzufolge auch auf Mitarbeiter zu erstrecken, die den von dem Unternehmen mandatierten Rechtsanwalt um Rechtsrat ersuchen.
C. Kontext der Entscheidung
Die dargestellte Problematik rund um den Beschlagnahmeschutz von Unterlagen, die aus internen Untersuchungen stammen, bewegt derzeit auch in Deutschland die Gemüter. In der Jones-Day-Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 27.06.2018 – 2 BvR 1405/17 u.a. – NJW 2018, 2385 m. Anm. Neuhöfer/Kindhäuser, jurisPR-Compl 4/2018 Anm. 1) hatte die 3. Kammer des Zweiten Senats über die Frage zu befinden, ob Unterlagen bei der von der Volkswagen AG zur Durchführung einer internen Untersuchung beauftragten Kanzlei Jones Day im Ermittlungsverfahren gegen die AUDI AG (eine Tochtergesellschaft der Volkswagen AG) bzw. ihre Verantwortlichen beschlagnahmt werden durften. Das BVerfG hat entschieden, dass die durch die Fachgerichte vorgenommene Auslegung, nach der die Unterlagen im Ermittlungsverfahren gegen die AUDI AG bzw. ihre Verantwortlichen keinen Beschlagnahmeschutz genießen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Das Beschlagnahmeverbot aus § 97 StPO sei nicht einschlägig, da die Norm erfordere, dass zwischen dem konkret im Verfahren Beschuldigten und dem Berufsgeheimnisträger eine Vertrauensbeziehung bestehe. In der durch das BVerfG zu entscheidenden Konstellation wurde Jones Day durch die Volkswagen AG mandatiert, die hingegen nicht Beschuldigte des Verfahrens war, während zwischen der beschuldigten AUDI AG und Jones Day kein Mandatsverhältnis bestand.
Die Jones Day-Entscheidung belegt letztlich, dass die aktuelle Gesetzeslage unbefriedigend ist, insbesondere für multi-nationale Wirtschaftsunternehmen, deren „Lebenswirklichkeit“ von der Jones Day-Entscheidung nur unzureichend getroffen wird. Es bleibt abzuwarten, wann die Große Koalition ihr Vorhaben, gesetzliche Vorgaben für die Beschlagnahme von Unterlagen aus internen Untersuchungen zu schaffen (Koalitionsvertrag v. 12.03.2018, S. 126), in die Tat umsetzt. Die Vorbereitungen auf Arbeitsebene scheinen auf Hochtouren zu laufen – das Bedürfnis der Rechtspraxis nach klaren gesetzlichen Regelungen ist groß.
Im Hinblick auf das Vereinigte Königreich stellt die vorliegende Entscheidung des Court of Appeal für den Beschlagnahmeschutz von Unterlagen aus internen Untersuchungen einen Meilenstein dar. Entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung des High Court – der sich erstmals mit der Frage im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens zu befassen hatte – wurden die Voraussetzungen des „Litigation Privilege“ weit ausgelegt.
Hinsichtlich des „Legal Advice Privilege“ traf der Court of Appeal hingegen keine abschließende Entscheidung. Insoweit verbleibt es zunächst bei den durch Three Rivers No. 5 (Court of Appeal (England & Wales), [2003] QB 1556, Three Rivers District Council v. Governor and Company of the Bank of England) aufgestellten Grundsätzen. Es wird sich zeigen, ob das SFO um eine Entscheidung des Supreme Court ersuchen wird, der sich letztinstanzlich mit den offengebliebenen Fragen befassen könnte. Eine solche Entscheidung würde in den Fällen, in denen das „Litigation Privilege“ (noch) keinen Schutz entfalten kann, bedeutsam werden.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des Court of Appeal sorgt für Rechtsklarheit hinsichtlich der aus internen Untersuchungen stammenden Unterlagen. Während Unternehmen, die sich im Vereinigten Königreich strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt sahen, bislang um eine Beschlagnahme der angefertigten Unterlagen fürchten mussten, werden ihre Rechte nun nachhaltig gestärkt. Solange noch keine formalen strafrechtlichen Ermittlungen des SFO eingeleitet wurden, ist indes zu beachten, dass es eine Frage des Einzelfalls bleibt, ab wann ein Unternehmen ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren erwarten konnte. Unternehmen sind angehalten, den Ablauf einer internen Untersuchung stets zu dokumentieren, um nachweisen zu können, ab welchem Zeitpunkt die jeweiligen Erkenntnisse vorlagen.
Leider legt die Entscheidung – unabhängig von der Frage nach der Reichweite des Anwaltsprivilegs – ein bedeutendes Dilemma offen: Das SFO ist befugt, mit Unternehmen ein „Deferred Prosecution Agreement“ (DPA) zu schließen. Ein DPA bedeutet, dass das vom SFO eingeleitete Verfahren gegen ein Unternehmen gegen Erteilung von Auflagen (z.B. Zahlung eines Geldbetrages; Verpflichtung zur Selbstreinigung) aufgeschoben wird. Sofern das Unternehmen die Auflagen erfüllt und dies gerichtlich bestätigt wird, wird das Verfahren endgültig eingestellt. Voraussetzung eines DPA ist jedoch u.a., dass sich das Unternehmen zur vollen Kooperation mit dem SFO bereit erklärt. Dem Gedanken der Kooperation entspricht es aber sicher nicht, wenn das Unternehmen unter Berufung auf das Anwaltsprivileg die Herausgabe von Unterlagen verweigert. Der Court of Appeal weist in diesem Kontext auch ausdrücklich darauf hin, dass die Weigerung, auf das Anwaltsprivileg zu verzichten, zu einer gerichtlichen Abweisung des DPA führen könne. Sollte ein Unternehmen ein DPA anstreben, muss demzufolge in der Praxis sorgfältig abgewogen werden, ob es nicht strategisch sinnvoller sein könnte, die angefragten Unterlagen – trotz Anwaltsprivilegs – herauszugeben.
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