Nachfolgend veröffentliche ich auszugsweise eine Urteilsbesprechung von Nugel, jurisPR-VerkR 23/2012 Anm. 1 zu BGH, Urteil vom 11. Juli 2012 – VIII ZR 323/11
Leitsatz

Eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und ist deshalb nicht unter dem Gesichtspunkt der Toleranzrechtsprechung bis zu einer Überschreitung von 20% der gerichtlichen Überprüfung entzogen (Fortführung BGH, 13.01.2011 – IX ZR 110/10 – NJW 2011, 1603 und BGH, 08.05.2012 – VI ZR 273/11, juris).

A. Problemstellung

Der VIII. Zivilsenat des BGH hat mit dieser Entscheidung die neu angefachte Diskussion über das Eingreifen eines Toleranzspielraums zugunsten des Rechtsanwalts bei der Bestimmung der Geschäftsgebühr nach Rücksprache mit den anderen Senaten einem durchaus überraschenden Ende zugeführt. Obwohl es sich um eine mietrechtliche Angelegenheit handelt, sind diese Grundsätze mithin auch für das Verkehrsrecht von besonderer Bedeutung.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Beklagte war aufgrund einer Kündigung wegen Mietrückständen zur Räumung und Herausgabe der gemieteten Wohnung sowie zur Zahlung von Mietrückständen und vorgerichtlicher Anwaltskosten verurteilt worden. Hinsichtlich weiterer vorgerichtlicher Anwaltskosten wurde die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass von den Klägern entgegen VV-RVG Nr. 2300 eine Begründung für einen 1,3 überschreitenden Satz der Geschäftsgebühr nicht gegeben worden sei, weshalb die verlangte 1,5-fache Gebühr nicht zugesprochen werden könne. Diese Entscheidung hat der VIII. Zivilsenat des BGH im Rahmen der zugelassenen Revision bestätigt.
Der BGH betont dabei noch einmal, dass die einschlägige VV-RVG Nr. 2300 vorsieht, dass eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden könne, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig gewesen sei. Ein Tatsachenvortrag, der die Überschreitung dieser Kappungsgrenze rechtfertige, sei vorliegend nicht erfolgt. Zwar stehe dem Rechtsanwalt nach der sog. Toleranzrechtsprechung bei der Festlegung der konkreten Gebühr ein Spielraum von 20% zu, so dass eine sich innerhalb dieser Grenze bewegende Gebühr nicht unbillig i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG und deshalb grundsätzlich hinzunehmen sei. Diese sog. Toleranzrechtsprechung käme aber erst dann zum Zuge, wenn die Kappungsgrenze nach VV-RVG Nr. 2300 zu Recht überschritten sei, weil es sich um eine umfangreiche oder schwierige Sache handele oder aber sich die Gebühren unterhalb dieser Grenze bewegten, so dass die Kappungsgrenze nicht tangiert sei.
Ob eine Tätigkeit umfangreich oder schwierig i.S.d. VV-RVG Nr. 2300 ist, sei vom Gericht genauso zu überprüfen, wie es auch sonst zu überprüfen habe, ob gesetzliche Tatbestandsmerkmale vorlägen. Andernfalls könnte ein Rechtsanwalt den Regelfall stets mit der 1,5-fachen Gebühr abrechnen, ohne darlegen zu müssen, weshalb im konkreten Fall eine höhere Gebühr als 1,3 angemessen sei. Der eindeutige Gesetzeswortlaut sei insoweit bindend und könne auch nicht mit der Toleranzrechtsprechung umgangen werden.
Dies ergebe sich auch aus der Gesetzesbegründung, nach der eine Ausnutzung des Gebührenrahmens unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 RVG bis zum 2,5-fachen der Gebühr nur bei schwierigen oder umfangreichen Sachen im billigen Ermessen des Anwalts stehe, während es bei der Regelgebühr von 1,3 verbleibe, wenn Umfang und Schwierigkeit der Sache nur von durchschnittlicher Natur seien (BT-Drs. 15/1971).
Nach der Urteilsbegründung sollen sich dieser Ansicht auch der IX. und VI. Zivilsenat angeschlossen haben, deren vorangehende Entscheidungen in der Wissenschaft allerdings anders verstanden worden waren. So habe der IX. Zivilsenat auf Anfrage mitgeteilt, dass er (doch) ebenfalls der Auffassung des VIII. Zivilsenates sei und sich aus seinem Urteil vom 13.01.2011 nichts anderes ergebe. Der VI. Zivilsenat soll mitgeteilt haben, dass er im Hinblick auf die Äußerung des IX. Zivilsenats, dessen Entscheidung er sich mit Urteil vom 08.05.2012 angeschlossen hatte, keine Bedenken gegen die in Aussicht genommene Entscheidung des VIII. Zivilsenats habe.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des VIII. Zivilsenats kommt – zumindest für die Anwaltschaft in Verkehrssachen – überraschend. Dies deshalb, da der VI. Zivilsenat noch kurz zuvor eine andere Entscheidung verkündet hatte, die eine umfassende Anwendung des Toleranzspielraums zugelassen hat (BGH, Urt. v. 08.05.2012 – VI ZR 273/11). So hat der für Verkehrsunfallsachen zuständige Senat in diesem Urteil noch die Ansicht vertreten, dass der Toleranzspielraum nicht dadurch nach oben begrenzt wäre, dass die Anmerkung zu Nr. 2300 VV-RVG bei nicht umfangreichen oder schwierigen Sachen eine Regelgebühr von 1,3 vorsieht. Der Ermessensspielraum betrifft nach der damaligen Ansicht des Senats nämlich auch die unter Umständen schwierige Beurteilung der Frage, was im Einzelfall „durchschnittlich“ ist. Sind Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch nicht gegeben, wäre die Bestimmung des Anwalts daher nach dieser Ansicht hinzunehmen (vgl. auch BGH, IX. Zivilsenat, Urt. v. 13.01.2011 – IX ZR 110/10).
Diese Ansicht scheint sich nun aber bei den Senaten des BGH nicht durchgesetzt zu haben. Ohne dass der an sich zuständige große Senat angerufen worden ist, hat nunmehr der VIII. Zivilsenat durch die besagte „Rücksprache“ ein solches Vorgehen vermieden und zeitnah eine Korrektur bewirkt, die im Übrigen auch der bereits h.M. der Tatgerichte in Verkehrssachen entspricht (OLG Celle, Urt. v. 28.12.2011 – 14 U 107/11; OLG Koblenz, Urt. v. 05.09.2011 – 12 U 713/10 und OLG Jena, Beschl. v. 02.02.2005 – 9 Verg 6/04 – OLGR Jena 2006, 81).
D. Auswirkungen für die Praxis
Es scheint daher so, dass nunmehr Ruhe bei den „Fronten“ innerhalb der Bestimmung der Geschäftsgebühr eingetreten ist und „alles beim Alten“ bleibt. Eine Überschreitung der auf den Wert von 1,3 gekappten Regelgebühr kann im vollen Umfang gerichtlich überprüft werden. Wenn diese Hürde aber genommen ist, greift zugunsten des Rechtsanwalts der besagte Toleranzspielraum von 20% ein. Dieser entbindet den Rechtsanwalt aber nicht davon, seine Ermessensentscheidung in jedem Fall nachvollziehbar zu begründen. Da diese Begründung in dem vorliegenden Einzelfall ohnehin gefehlt hat, konnte auch nach der abweichenden Auffassung die Überschreitung der Mittelgebühr nicht unter Bezugnahme auf den Toleranzspielraum gerechtfertigt werden.