Nachfolgend ein Beitrag vom 20.1.2017 von Nassall, jurisPR-BGHZivilR 2/2017 Anm. 4

Leitsätze

1. Die Prüfung der angegebenen Wiedereinsetzungsgründe erfolgt von Amts wegen. Wiedereinsetzungsgründe unterliegen daher nicht der Parteidisposition und können nicht unstreitig gestellt werden.
2. Zur Glaubhaftmachung eines plötzlich und unerwartet aufgetretenen krankheitsbedingten Ausfalls des Prozessbevollmächtigten.

A. Problemstellung

Die Entscheidung befasst sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einer Frist verlangen kann, die sie – angeblich – wegen Erkrankung ihres Prozessbevollmächtigten versäumt hat.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger hat gegen das klageabweisende Urteil rechtzeitig Berufung eingelegt. Am letzten Tag der bereits verlängerten Berufungsbegründungsfrist hat er eine weitere Fristverlängerung beantragt, weil der allein sachbearbeitende Rechtsanwalt erneut an einer schweren Infektion arbeitsunfähig erkrankt sei. Dieses Gesuch hat das Berufungsgericht mangels Zustimmung der Beklagten am 01.07.2014 zurückgewiesen. Am 07.07.2014 hat der Kläger eine Berufungsbegründung vorgelegt, Wiedereinsetzung in den versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt und dies damit begründet, der sachbearbeitende Rechtsanwalt habe die Ausarbeitung der Berufungsbegründung für das Wochenende am 21. bzw. 22.06.2014 eingeplant gehabt, sei jedoch an diesem Wochenende erneut an einer schweren Infektion erkrankt, so dass er am Erstellen einer Berufungsbegründung verhindert gewesen sei. Dem anderen Kanzleimitglied sei die Ausarbeitung wegen Auslastung nicht möglich gewesen. Zur Glaubhaftmachung hat er eine ärztliche Bescheinigung vom 06.06.2014 vorgelegt, wonach sein Prozessbevollmächtigter mit voraussichtlicher Arbeitsunfähigkeit bis 20.06.2014 erkrankt sei. Eine ärztliche Bescheinigung über den Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit über diesen Zeitpunkt hinaus hat er trotz Aufforderung durch das Berufungsgericht nicht beigebracht. Das Berufungsgericht hat die Berufung unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags als unzulässig verworfen, obwohl die Beklagte den behaupteten plötzlichen krankheitsbedingten und nicht anderweitig ersetzbaren Ausfall des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht bestritten hat.
Der BGH hat das gebilligt. Wiedereinsetzungsgründe unterlägen nicht der Parteidisposition und könnten nicht unstreitig gestellt werden. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung vom 06.06.2014 einer Arbeitsunfähigkeit bis mindestens 20.06.2014 lasse es nicht zu, ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten auszuschließen, weil auf ihrer Grundlage die Möglichkeit bestehe, dass er seinen krankheitsbedingten Ausfall über den 20.06.2014 hinaus hätte vorhersehen und die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist durch geeignete Maßnahmen hätte abwenden können.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung ist unter zwei Aspekten von Relevanz. Zum einen befasst sie sich mit der Frage, ob das über ein Wiedereinsetzungsgesuch entscheidende Gericht unbestritten gebliebenes Vorbringen des Wiedereinsetzungsantragstellers seiner Entscheidung zugrunde zu legen habe. Zum anderen verhält sie sich zu der Frage, wann die Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten die Versäumung einer Rechtsmittelbegründungsfrist entschuldige. Die erste Frage ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Grunde schon seit langem geklärt: Jedenfalls in Wiedereinsetzungsverfahren, die den Eintritt der Rechtskraft betreffen, besteht keine Parteiherrschaft. Auch ein „Rügeverzicht“ kommt deshalb – wegen § 295 Abs. 2 ZPO – nicht in Betracht (BGH, Urt. v. 02.11.1988 – IVb ZR 109/87 – FamRZ 1989, 373 Rn. 7; RG, Urt. v. 23.04.1932 – IX 355/31 – RGZ 136, 275, 281). Konsequenterweise kann deshalb Wiedereinsetzungsvortrag auch nicht durch Nichtbestreiten unstreitig gestellt werden. Bestätigt der Gegner dagegen das Wiedereinsetzungsvorbringen ausdrücklich, kann dies bei der Glaubhaftigkeitsprüfung durchaus berücksichtigt werden.
Zur anderen Frage nach der Entschuldbarkeit der Versäumnis einer Rechtsmittelbegründungsfrist infolge Erkrankung des Prozessbevollmächtigten lautet die Rechtsprechung des BGH dahin: Grundsätzlich muss ein Rechtsanwalt dafür Vorkehrungen treffen, dass im Falle seiner Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Prozesshandlungen wahrnimmt (BGH, Beschl. v. 05.04.2011 – VIII ZB 81/10 – NJW 2011, 1601 Rn. 18). Zu konkreten Maßnahmen besteht aber erst dann Anlass, wenn der Rechtsanwalt seine Erkrankung vorhersehen kann. Wird er dagegen unvorhergesehen krank, reicht ihm die unterbliebene Einschaltung eines Vertreters nicht zum Verschulden, wenn ihm diese weder möglich noch zumutbar war (vgl. nur BGH, Beschl. v. 05.03.2014 – XII ZB 736/12 – WM 2014, 865 Rn. 9). Die vorliegende Entscheidung zeigt die Wirkungsweise dieser Regel auf: Erkrankt ein Rechtsanwalt längerfristig und schreibt ihn der behandelnde Arzt deshalb für einen bestimmten Zeitraum krank, kann der Rechtsanwalt die Versäumnis einer unmittelbar nach dem Krankschreibezeitraum ablaufenden Rechtsmittelbegründungsfrist nicht als unverschuldet geltend machen, wenn seine Krankheit länger als vorgesehen andauert. Anders verhält es sich, wenn er zwar innerhalb des Krankschreibungszeitraums vollständig genesen, danach aber unvorhersehbar erneut erkrankt ist.

D. Auswirkungen für die Praxis

Wer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einer versäumten Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsfrist begehrt, muss die Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft machen, und zwar ausnahmslos, sofern sie nicht unmittelbar aktenkundig sind (BGH, Beschl. v. 17.01.2006 – XI ZB 4/05 – NJW 2006, 1518 Rn. 14). Darauf, dass der Gegner sein Wiedereinsetzungsvorbringen nicht bestreitet, kann er sich nicht stützen. Beruht die Versäumung einer Rechtsmittelbegründungsfrist auf der Erkrankung des Prozessbevollmächtigten, rechtfertigt das die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur, wenn glaubhaft gemacht wird, dass die Erkrankung so unverhofft eingetreten war, dass es dem Rechtsanwalt noch nicht einmal möglich war, für seine Vertretung zu sorgen.