Bei unüberbrückbaren Konflikten muss der Anwalt das Mandat niederlegen

 

Das Spannungsverhältnis zwischen Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht
Dr. Peter-Andreas Brand, Berlin/London
Der Autor ist Rechtsanwalt und Partner der Rechtsanwaltssozietät Redeker Sellner Dahs (Berlin/London). Er ist Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin für Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Internationales Zivilprozessrecht.

Die Wahrheitspflicht des § 138 Abs. 1 ZPO soll ein redliches und faires Verfahren sichern. Die Verschwiegenheitspflicht gehört zum Kernbestand der anwaltlichen Berufspflichten. Doch was bedeutet die Wahrheitspflicht für Anwältinnen und Anwälte im konkreten Mandat? Was wird vom Anwalt verlangt, wenn sie mit der Pflicht zur Verschwiegenheit kollidiert? Gibt es Grenzen und Ausnahmen für beide Postulate? Welche Sanktionen drohen? Und wie passt die prozessuale Wahrheitspflicht in das Gefüge des anwaltlichen Berufsrechts, der zivilrechtlichen Folgen im Mandat und den strafrechtlichen Konsequenzen zum Beispiel bei Prozessbetrug? Gibt es einen Bedarf für prozessuale Sanktionen auch im deutschen Recht? Der Autor gibt praxisnahe Antworten, Aufhänger für seine Erläuterungen sind drei – zwar zugespitzte, aber realistische – Fallkonstellationen.

I. Einführung

„Die ungeschminkte Wahrheit ist die Schwester der Gerechtigkeit“ – so hat es im Jahr 1769 der große Rechtsgelehrte Schlosser formuliert. Und auch heute würde kaum jemand dieser Aussage widersprechen. Für den Praktiker, zumal für den zivilprozessual tätigen Anwalt, ist es allerdings erforderlich, das Allgemeine auf das Konkrete herunterzubrechen. Es hat in der Literatur einen mit einer gewissen Heftigkeit ausgetragenen Streit darüber gegeben, ob denn der Anwalt lügen dürfe. Häufig ist dabei die Frage der anwaltlichen Berufspflichten, des Anwaltsethos und des Verbots der Lüge im Zusammenhang mit den Pflichten des Anwalts im Strafprozess behandelt worden. Dies liegt auch nahe, weil die communis opinio den Strafverteidiger per se der Lüge bezichtigt und davon ausgeht, dass ein Angeklagter und sein Strafverteidiger automatisch eine kriminelle Vereinigung bilden. Im Zivilprozess ist die Problematik gemeinhin weniger augenfällig, im anwaltlichen Alltag allerdings kaum weniger bedeutend. Dies mag deutlich werden, wenn man sich drei relativ alltägliche Fallgestaltungen vor Augen hält und die Pflichten, die sich in diesen Fallkonstellationen sowohl in prozessualer als auch in berufsrechtlicher Hinsicht ergeben, daran misst:

Fallkonstellation 1:

Ein Mandant ist als einziger Insasse seines Pkw in einen Verkehrsunfall verwickelt. Im gegnerischen Fahrzeug saß neben dem Fahrer noch ein Beifahrer. Bei Vorbereitung des anschließenden Haftungsprozesses weist der Anwalt zutreffend auf die sich aus dieser Konstellation ergebenden Beweisschwierigkeiten hin, weil es außer den Insassen der beiden Fahrzeuge keinerlei Zeugen gibt und auch verwertbare Spuren, die eine Unfallkonstruktion zweifelsfrei ermöglichen, nicht vorhanden sind. Die Ehefrau des Mandanten schlägt deshalb vor, man könne doch im Prozess vortragen, auch sie habe im Fahrzeug ihres Ehemannes gesessen und könne deshalb über den Unfallhergang im Sinne ihres Mannes aussagen. Der Anwalt weigert sich, diese Unwahrheit vorzutragen. In der mündlichen Verhandlung erklärt dann aber der Mandant persönlich angehört, seine Frau sei mit ihm im Auto gewesen und könne als Zeugin aussagen.

Fallkonstellation 2:

Der Mandant erhält eine anwaltliche Abmahnung mit der Aufforderung zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung. Der Anwalt weist diese Abmahnung im Auftrag seines Mandanten gut begründet und mit rechtsvernichtendem Tatsachenvortrag zurück und beendet diese schriftliche Zurückweisung mit dem Satz, dass er davon ausgehe, dass für den Fall, dass der Gegner gleichwohl den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragen wolle, er auch dieses Schreiben dem Gericht mit vorlege. Der Gegenanwalt beantragt sodann eine einstweilige Verfügung, ohne das Schreiben, mit dem die Abmahnung zurückgewiesen wurde, dem Gericht vorzulegen und erhält die einstweilige Verfügung unmittelbar und ohne mündliche Verhandlung.

Fallkonstellation 3:

Der Anwalt wird beauftragt, Ansprüche einzuklagen, die der Verjährung unterliegen. Der Verjährungsbeginn richtet sich gemäß § 199 Abs. 1 BGB danach, wann der Gläubiger von den den Anspruch begründeten Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Der Mandant erklärt dem Anwalt: „Ihnen kann ich es ja sagen, ich habe schon vor mehr als drei Jahren diese Kenntnis gehabt.“ Dies weiß der Prozessgegner aber nicht, der Schuldner muss davon ausgehen, dass diese Kenntnis erst in nicht verjährter Zeit erlangt wurde.

In allen drei Fallkonstellationen werden von dem Anwalt Entscheidungen verlangt, die er nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen, sondern auch auf der Grundlage der für ihn geltenden Normen zu treffen hat. Der Blick ins Gesetz hilft also möglicherweise weiter.

II. Kanon von Pflichten und Rechten

Die Zivilprozessordnung verlangt in § 138 Abs. 1 ZPO, dass die Parteien „ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben“ haben. Die Vorschrift ist aufgrund ihrer Einführung im Jahr 1933 verdächtigt worden, ein Ausfluss der Nazi-Ideologie zu sein. Die Frage scheint für die heutige Rechtsanwendung müßig zu sein. Stürner hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass selten eine Vorschrift zu solchen Zweifeln und Streitigkeiten Anlass gegeben hat wie § 138 Abs. 1 ZPO. Sein Wortlaut sei unklar, weil er die ausdrückliche und genaue Stellungnahme zur Substantiierungslast der Parteien vermeide. Er hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass ein Spannungsverhältnis besteht zwischen den Darlegungsregeln, die jeder Partei aufgeben, die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen, und der Pflicht zum vollständigen Tatsachenvortrag, der nämlich – wenn man ihn ernst nehmen wollte – beiden Parteien aufgeben würde, jeweils der anderen Partei günstigen Vortrag in den Prozess einzubringen. Unabhängig von der in diesem Zusammenhang ausführlich diskutierten und auch vom BGH behandelten Frage, ob im Zivilprozess die Parteien allgemeine Aufklärungspflichten haben, begründet die prozessuale Wahrheitspflicht ein Spannungsverhältnis mit anderen, nicht minder wichtigen Berufspflichten des Anwalts, insbesondere der Verschwiegenheitsverpflichtung.

§ 43 BRAO normiert als allgemeine Berufspflicht, dass der Rechtsanwalt seinen Beruf gewissenhaft auszuüben hat und „sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen“ hat. § 43 a BRAO konkretisiert in seinen Absätzen 2 und 3 einerseits die anwaltliche Wahrheitspflicht und andererseits aber auch die Verschwiegenheitspflicht. Diese Verschwiegenheitspflicht ist sogar durch § 203 StGB strafrechtlich sanktioniert. Zugleich genießt der Rechtsanwalt gemäß § 53 StPO das Privileg des Aussageverweigerungsrechts in Bezug auf das, was ihm im Rahmen seiner Berufsausübung bekannt geworden ist. § 53 StPO ist insoweit die notwendige strafprozessuale Ergänzung zu § 203 StGB und findet für den Zivilprozess seine Parallelvorschrift in § 383 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO.

Der mit einer der genannten Fallkonstellationen befasste Anwalt muss sich also im Rahmen dieses Normengeflechts Hilfe suchen und seine Entscheidungen treffen. Was bedeutet also die in § 138 Abs. 1 ZPO normierte Verpflichtung zum vollständigen und wahrheitsgemäßen Sachvortrag? Welche Sanktionen stehen zur Verfügung, wenn gegen diese Verpflichtung verstoßen wird. Sind diese Sanktionen notwendig und hinreichend oder bedürfen sie gegebenenfalls einer Ergänzung?

In dem Zusammenspiel der Verfahrensprinzipien, die unsere Zivilprozessordnung prägen, hat der Gesetzgeber im Interesse der Souveränität der Parteien und liberaler Tradition folgend, der Dispositionsmaxime eine starke Wirkung verliehen. Danach obliegt die Pflicht zum Sachvortrag grundsätzlich den Parteien, deren Interessen im Widerstreit regelmäßig auch zu einem hinreichenden Faktenvortrag führen. Schon nach dem seit alters her im Interesse der rechtsunkundigen Partei geltenden Grundsatz „da mihi facta, dabo tibi ius“ obliegt es den Parteien, gegenüber dem Gericht den Sachvortrag zu präsentieren, während der Richter die daraus folgenden rechtlichen Schlüsse zu ziehen hat. Aus dieser Grundentscheidung folgt die Verpflichtung, die § 138 Abs. 1 ZPO den Parteien auferlegt, nämlich den zwischen ihnen streitigen Sachverhalt vollständig und wahrheitsgemäß vorzutragen.

So weit, so gut. Umstritten ist dann bereits, ob diese Wahrheitspflicht des § 138 ZPO nur den Parteien obliegt, wie es der Wortlaut der Bestimmung vermuten lassen könnte, oder ob diese Wahrheitspflicht auch die Prozessbevollmächtigten der Parteien als öffentlich-rechtliche Pflicht im Interesse einer geordneten Rechtspflege trifft. So vertritt beispielsweise Hirtz, Vorsitzender des Ausschusses Zivilverfahrensrecht des DAV, die Auffassung, der ZPO sei eine eigene Wahrheitspflicht des Anwalts nicht zu entnehmen, vielmehr müsse der Prozessbevollmächtigte lediglich die Wahrheitspflicht seines Auftraggebers achten, was sich allerdings nicht aus dem Gesetz, sondern eher aus dem Anwaltsvertrag ergebe. Dieser Auffassung hat sich aber – soweit erkennbar – noch niemand angeschlossen. Sie ist auch abzulehnen, weil sie den sich aus dem Anwaltsvertrag ergebenden Pflichtenzusammenhang, der sich auch aus §§ 85, 89 Abs. 2 ZPO in umgekehrter Richtung ergibt, außer Acht lässt. Kleine-Cosack hat vielmehr zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die prozessuale Wahrheitspflicht auch für den Rechtsanwalt aus § 138 ZPO ergibt, und dass auch für ihn, natürlich wie jedermann, die strafrechtlichen Vorschriften gelten. Dies gilt selbstverständlich auch für die über den versuchten und vollendeten Prozessbetrug oder die Beihilfe dazu.

III. Die erste Fallkonstellation

1. Der Grundfall

Insoweit ist die erste Fallkonstellation, in der dem Anwalt zugemutet wird, bewusst falsch vorzutragen, um der eigenen Partei zu einem eigentlich nicht gerechtfertigten Erfolg zu verhelfen, einfach zu beantworten. Selbstverständlich darf der Anwalt nicht bewusst falsch vortragen. Strafrechtlich wird dies allerdings im Sinne des Prozessbetrugs nur dann sanktioniert, wenn hierdurch Vermögensinteressen des Geschädigten verletzt werden. § 263 StGB – hierauf ist zu Recht hingewiesen worden – schützt nicht die Wahrheit und verbietet nicht die Lüge, sondern ist ein Vermögensdelikt.

Berufsrechtlich wäre ein solches Verhalten des Anwalts ebenfalls als Verstoß gegen die Verpflichtung, den Beruf als Rechtsanwalt gewissenhaft auszuüben, gemäß §§ 43, 43 a Abs.3 S. 2 BRAO zu ahnden. Dies folgt aber nicht allein aus einer Verletzung der Wahrheitspflicht gemäß § 138 Abs. 1 ZPO, sondern auch schon daraus, dass der bewusst wahrheitswidrige Vortrag, wenn er denn einen Vermögensschaden verursacht, die Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt. Daher ist tragender Grundsatz der anwaltsgerichtlichen Ahndung von Verstößen gegen die Wahrheitspflicht die Feststellung, die beispielsweise der Anwaltsgerichtshof München schon im Jahr 1996 getroffen hat, nämlich dass die Wahrheitspflicht eine „tragende Säule der Stellung des Rechtsanwalts als eines Organs der Rechtspflege“ ist, die zur gewissenhaften Berufsausübung gehört, wie sie in den §§ 43 Satz 1, 43 a Absatz 3 Satz 2, 49 b Absatz 2 Nr. 1 a BRAO verlangt wird. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass die anwaltsgerichtliche Rechtsprechung, soweit ersichtlich, sich mit Fällen befasst, in denen anwaltliches Fehlverhalten und Verstöße gegen die Wahrheitspflicht in Strafprozessen beziehungsweise Ordnungswidrigkeitenverfahren Gegenstand der Betrachtung waren. Die Anwaltsgerichte gehen – unter berufsrechtlicher Betrachtung auch naheliegend – ausschließlich von den Bestimmungen der BRAO als Grundlage der anwaltlichen Wahrheitspflicht aus und betrachten diese gleichwohl zugleich als „prozessuale Wahrheitspflicht“ oder gehen ganz allgemein davon aus, dass der Rechtsanwalt „in besonderer Weise der Wahrheit verpflichtet“ ist und dass eine Verletzung dieser Wahrheitspflicht vor Gericht einen schweren Verstoß gegen berufsrechtliche Pflichten darstellt, „die den Kernbereich des Berufs des Rechtsanwalts berühren“.

Auch zivilrechtlicher Haftung setzt sich der Anwalt in unserer ersten Fallkonstellation aus, wenn er durch den bewussten Vortrag von Unwahrheiten dem Prozessgegner seines Mandanten Schaden zufügt. Dabei kann sich die Schadensersatzpflicht aus §§ 823, 826 BGB ergeben. Rechtsprechung insoweit ist so gut wie nicht ersichtlich, sodass auch bisher nur eine Entscheidung dazu bekannt geworden ist, die sich mit der Frage befasst hat, ob § 138 ZPO als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzusehen ist. Das LAG Krefeld hat zumindest inzidenter bei der Prüfung eines Schadensersatzanspruchs wegen Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht grundsätzlich anerkannt, dass im Falle von Vermögensschäden ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht zu einer Ersatzpflicht gem. § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 138 Abs. 1 Abs. 1 ZPO führen kann. Hierfür spricht auch manches. Insbesondere, wenn man wie der BGH davon ausgeht, dass ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB, das ausdrücklich den Schutz eines Anderen bezweckt, auch dann vorliegt, wenn die Rechtsnorm noch nicht einmal in erster Linie dem Schutz Einzelner oder einzelner Personenkreise vor der Verletzung von bestimmten Rechtsgütern zum Inhalt, sondern in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge hat. Wenn sich aber die Wahrheitspflicht des § 138 ZPO an die Parteien und ihre Bevollmächtigten als öffentlich-rechtliche Pflicht dem Gericht und dem Gegner gegenüber im Interesse einer geordneten Rechtspflege darstellt, ist kein Grund erkennbar, warum § 138 ZPO nicht auch als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzusehen ist. Da auch die Aussagedelikte als Schutzgesetze zu Gunsten der geschädigten Partei angesehen werden, obwohl sie in erster Linie der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und Rechtspflege dienen, fällt es schwer, § 138 Abs. 1 ZPO den Schutzgesetzcharakter im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB nicht zuzusprechen.

Selbst wenn man über diesen letzten Punkt trefflich wird streiten können, ist im Ergebnis die oben genannte erste Fallkonstellation also sehr einfach zu beantworten: Strafrechtliche, berufsrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen drohen dem Anwalt, der sich auf das Ansinnen seines Mandanten einlässt und vorsätzlich die Unwahrheit vorträgt. Der Anwalt muss sich also einem solchen Ansinnen widersetzen und gegebenenfalls das Mandat niederlegen, wenn er sich diesen Sanktionen nicht aussetzen möchte. Eine unmittelbare Kollision mit seiner Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Mandanten ergibt sich dann nicht, wenn für den Anwalt in einem solchen Falle keine Veranlassung besteht, dem Gericht gegenüber irgendeine Stellungnahme über sein vom Mandanten erhaltenes Wissen abzugeben.

2. Die Besonderheit der ersten Fallkonstellation

In der hier zugrunde gelegten Fallkonstellation sieht sich allerdings der Anwalt der Situation ausgesetzt, dass sein Mandant erkennbar die Unwahrheit sagt und der Anwalt vor die Situation gestellt ist, entweder die Lüge aufzudecken und damit gegen sein Mandatsgeheimnis zu verstoßen oder aber einen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht im Sinne von § 138 Abs. 1 ZPO zuzulassen.

Eine solche Kollision zwischen prozessualer Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht führt also zu einer Abwägung dieser beiden anwaltlichen Rechtspflichten. Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1952 eine solche Abwägung für erforderlich gehalten, sich aber im Ergebnis widersprüchlich geäußert. Grundsätzlich erkennt der BGH an, dass die prozessuale Wahrheitspflicht des § 138 ZPO dann nicht mehr anerkannt werden könne, wenn der Anwalt sich mit der Offenbarung eines wahren Sachverhalts in Widerspruch zu den Behauptungen seines Auftraggebers setzen und ihn dadurch der Unwahrhaftigkeit vor Gericht und damit eines versuchten Prozessbetruges bezichtigen müsste. Ein solches Verhalten sei mit der sich aus dem Auftragsverhältnis ergebenden Treuepflicht nicht zu vereinbaren. Im Ergebnis dann allerdings inkonsequent führt der BGH in der gleichen Entscheidung aus, dass die prozessuale Wahrheitspflicht nicht dadurch entfallen könne, dass die Partei ihren Prozessbevollmächtigten nicht von der Verschwiegenheitspflicht entbinde; vielmehr trete die Verschwiegenheitspflicht gegenüber der im öffentlichen Interesse begründeten Wahrheitspflicht zurück. Der konkreten Sachverhaltskonstellation, die dieser Entscheidung zugrunde lag, kann entnommen werden, dass der BGH diesen zunächst apodiktisch klingenden Satz nur einschränkend und nur dann anwenden will, wenn sich der Anwalt durch das Unterlassen einer Richtigstellung eines bisher unwahren Vortrags selbst strafrechtlicher Verfolgung wegen versuchten Prozessbetruges aussetzen würde. Insoweit war also die konkrete Berechtigung des Anwalts, sich selbst vor einer Strafverfolgung zu schützen, höher zu bewerten als die Treuepflicht gegenüber dem Mandanten. Schon zuvor hatte der BGH in einer anderen Strafsache festgestellt, dass das Interesse des Mandanten an der Geheimhaltung hinter dem Interesse des Anwalts, sich durch Verletzung seiner Verschwiegenheitspflicht einer eigenen Bestrafung zu entziehen, zurücktreten müsse.

Die rein strafrechtliche Betrachtungsweise ist aber nicht geeignet, das grundsätzliche prozessuale Problem, das sich für den Anwalt bei einer Kollision von Wahrheits- und Verschwiegenheitspflicht ergibt, zu lösen. Die prozessuale Besonderheit, dass selbstverständlich auch einem Anwalt nicht eine wirksame Verteidigung gegenüber ihm erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen abgeschnitten werden kann, ist nämlich nur eine Seite der Medaille. Die allgemeine Berufspflicht des § 43 BRAO und ihre besondere Ausgestaltung in Form der Verschwiegenheitsverpflichtung gemäß § 43 a Abs. 2 BRAO berühren den Kernbestand der anwaltlichen Tätigkeit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant muss deshalb unangetastet bleiben, es sei denn, es gibt gute Gründe zur Aufhebung der Verschwiegenheitspflicht, wie sie § 2 BORA in Konkretisierung der Bestimmung des § 43 a Abs. 2 BRAO vorgenommen hat. Eine solche Ausnahme von der Verschwiegenheitspflicht besteht de lege lata beispielsweise auch im Rahmen des Zwangsvollstreckungsrechts in §§ 807 und 840 ZPO oder beispielsweise auch in §§ 138, 139 StGB im Zusammenhang mit der Nichtanzeige geplanter Straftaten. Auch § 97 InsO legt eine solche Ausnahme nahe.

Welch hohes Gut die anwaltliche Verschwiegenheitsverpflichtung ist, formuliert Ziff. 2.3 der CCBE-Berufsregeln der Rechtsanwälte in der Europäischen Union so, dass das Berufsgeheimnis gleichzeitig „ein Grundrecht und eine Grundpflicht des Rechtsanwaltes von besonderer Bedeutung“ ist und deshalb den besonderen Schutz durch den Staat verdient. Die BRAO erkennt dies in § 56 Abs. 1 ausdrücklich an, wenn sie die Auskunftspflichten des Anwalts gegenüber dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer dann beschränkt, wenn und soweit der Rechtsanwalt hierdurch seine Verpflichtung zur Verschwiegenheit verletzen würde.

Der Anwalt muss sich also in unserer ersten Fallkonstellation entscheiden. Erkannt unwahre Behauptungen seines Mandanten darf er sich aufgrund seiner Stellung als Organ der Rechtspflege und aufgrund seiner Verpflichtungen aus § 138 Abs. 1 ZPO, aber auch nach § 43 BRAO nicht zu eigen machen. Der Anwalt wird sich also, wenn er nicht das Mandat vor einer möglicherweise dann doch durchzuführenden Beweisaufnahme mit Vernehmung der Ehefrau des Mandanten niederlegt, an dieser Beweisaufnahme nicht mit Fragen an die Ehefrau beteiligen dürfen. Er muss also tatenlos zusehen, wenn sein Mandant trotz Belehrung die Unwahrheit sagt, weil die prozessuale Wahrheitspflicht des Anwalts nicht so weit gehen kann, dass er seinen Anwaltsvertrag und die ihm aufgegebene Verschwiegenheitsverpflichtung verletzt. Anwaltsethisches Verhalten wird freilich zur Mandatsniederlegung zwingen, weil anderenfalls der Konflikt nicht auflösbar ist.

IV. Die zweite Fallkonstellation

Anders gestaltet sich die Situation in der zweiten Fallkonstellation, in der der Anwalt bei der Beantragung einer einstweiligen Verfügung die gegnerische Zurückweisung der Abmahnung dem Gericht nicht zur Kenntnis gibt und seinem Mandanten auf diese Weise eine rechtlich nicht begründete einstweilige Verfügung erschleicht. In diesem Fall hat also der Anwalt gegen seine Verpflichtung zum vollständigen Vortrag gemäß § 138 Abs. 1 ZPO verstoßen.

Der prozessuale Verstoß ist evident. Berufsrechtliche Sanktionen aufgrund eines Verstoßes gegen § 43 beziehungsweise § 43 a Abs. 3 BRAO wären möglich. Weil aber in dieser Fallkonstellation absehbar ist, dass auf den Widerspruch der Gegenpartei die einstweilige Verfügung wieder aufgehoben wird, wird es häufig an einem berechenbaren Vermögensschaden fehlen, sodass strafrechtliche Sanktionen oder zivilrechtliche Schadensersatzansprüche jedenfalls dann ausscheiden, wenn es an einem solchen Schaden fehlt. Beispielsweise bei einer wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsverfügung kann aber auch durch die kurzfristige Einstellung einer Werbemaßnahme ein finanzieller Schaden entstanden sein, für den dann zumindest eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht gegeben ist, auch wenn möglicherweise je nach Fallkonstellation eine strafrechtliche Verurteilung gemäß § 263 StGB mangels Bereicherungsabsicht zweifelhaft sein kann.

Probleme mit der anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung ergeben sich in diesem Zusammenhang nicht, es sei denn, der Mandant hätte den Anwalt aufgefordert, die Zurückweisung der Abmahnung mit rechtsvernichtendem Einreden zu verschweigen. Auch in diesem Fall müsste der Anwalt sich diesem Ansinnen widersetzen oder gegebenenfalls das Mandat niederlegen.

V. Exkurs: Die Frage nach prozessualen Sanktionen

In dieser Fallkonstellation stellt sich dann allerdings die Frage, ob das berufsrechtliche, zivilrechtliche und strafrechtliche Sanktionensystem bei einem Verstoß gegen die Wahrheitspflicht des § 138 ZPO ausreichend ist. Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten, zivilrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen durchzusetzen, stellt sich die Frage, ob über berufsrechtliche Sanktionen hinaus nicht auch prozessuale Folgen bei einem Verstoß gegen § 138 ZPO angezeigt sind. Dem deutschen Recht sind solche prozessualen Sanktionen fremd. Prozessuale Nachteile erleidet die wahrheitswidrig oder unvollständig vortragende Partei möglicherweise lediglich dadurch, dass ihr unwahres Vorbringen im Rahmen einer Beweiswürdigung unberücksichtigt bleibt (§ 286 ZPO).

Man mag deshalb die Frage stellen, ob nicht auch im deutschen Recht – ähnlich wie in den Prozessordnungen mancher Common Law Staaten – prozessuale Sanktionen angezeigt sind. Das Common Law kennt dabei neben prozessualen Strafmaßnahmen eines „Contempt of Court“ auch die Möglichkeit, eine Partei von der weiteren Rechtsverteidigung auszuschließen („debarred from defending the case“). Man wird aber mit dem EuGH schon grundsätzlich feststellen müssen, dass eine solche Maßnahme wegen der damit verbundenen Einschränkung des mit Grundrechtscharakter ausgestatteten Anspruchs auf rechtliches Gehör im Sinne von Artikel 103 GG nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommen kann. Unter diesen richtigerweise äußerst strengen Anforderungen könnte eine solche prozessuale Sanktionsmöglichkeit ein durchaus effektives Mittel zur Durchsetzung der prozessualen Wahrheitspflicht darstellen. Dabei könnte durchaus daran gedacht werden, bei erwiesenermaßen unwahrem Parteivortrag mit dem Ziel, das Gericht in die Irre zu führen und das Rechtssystem zu missbrauchen, beispielsweise Rechtsmittelmöglichkeiten einzuschränken.

Man muss sich aber auch über die nicht unerheblichen Gefahren für die Prozessgrundrechte der Parteien, die die Einführung solcher prozessualen Sanktionsmöglichkeiten mit sich brächte, im Klaren sein. Eine Entlastung der Justiz wäre hiermit sicherlich auch nicht verbunden, weil natürlich gegen derartige Sanktionsmöglichkeiten Rechtsmittel eröffnet sein müssten. Auch wäre deshalb die Eröffnung von zivilprozessualen Sanktionen wie die Verhängung von Ordnungsgeldern bei erwiesenermaßen bewusst unwahrem Vortrag zwar ein geeignetes Mittel, um dem Anspruch des § 138 ZPO zur Durchsetzung zu verhelfen. Anwälte und ihre Parteien prozessualen Sanktionen des Tatrichters auszusetzen, würde aber nicht nur eine Durchbrechung der bisherigen deutschen prozessualen Tradition darstellen, sondern darüber hinaus zu einer rechtsstaatlich fragwürdigen Verkehrung des Zusammenspiels der Organe der Rechtspflege führen. Genauso, wie es an einem Rechtschutzbedürfnis für eine Unterlassungsklage gegen unwahre Prozessbehauptungen fehlt, bedarf es nicht weiterer, über das Standesrecht hinausgehender Sanktionen. Wenn man weiß, mit welcher Heftigkeit sich häufig die Parteien in Zivilprozessen gegenseitig des bewusst falschen Vortrags bezichtigen, ist die Bedrohung der Gerichte mit einer Überforderung durch die Einführung eines Contempt of Court-Systems in Deutschland abzusehen. Der EuGH hat deshalb in seiner Gambazzi/ Daimler Chrysler Canada-Entscheidung im Jahr 2007 zu Recht sehr kritische Anmerkungen zu diesem System gemacht. Die Disziplinargewalt der Berufsaufsicht und der Anwaltsgerichte ist deshalb die notwendige, aber auch hinreichende Instanz, die sich mit dem zivilprozessualen Fehlverhalten des Anwalts auseinanderzusetzen hat. Dies ist der freien Advokatur auch angemessen, ohne dass es der darüber hinaus gehenden prozessualen Disziplinargewalt des Richters bedarf. Allenfalls kann man daran denken, dem Gericht aufzugeben, bei erkennbaren Verstößen gegen anwaltliche Berufspflichten, einschließlich der Verstöße gegen § 138 ZPO die zuständige Anwaltskammer zu unterrichten, wie es beispielsweise die italienische Zivilprozessordnung vorsieht.

VI. Die dritte Fallkonstellation

Wiederum anders liegt die Situation in der Fallkonstellation 3, in der dem Anwalt von seinem Mandanten davon Kenntnis gegeben wird, dass die Gegenseite möglicherweise erfolgreich eine Einrede erheben könnte, wenn sie denn die wahren Umstände kennen würde. In der Literatur ist allerdings unumstritten, dass die Wahrheitspflicht des § 138 ZPO nicht so weit geht, dass eine Partei die andere auf die Möglichkeit einer Einrede hinweisen müsste. Tatsachen also, die eine Einwendung oder eine Einrede ausfüllen, müssen die Partei oder auch ihre Prozessbevollmächtigten nicht vortragen. Beide können warten, bis der Gegner sich darauf beruft. Dann allerdings muss wahrheitsgemäß dazu eine Erklärung abgegeben werden. Insoweit ähnelt diese Fallkonstellation der zuerst behandelten, allerdings nur dann, wenn die Verjährungsfrage und der Zeitpunkt der Kenntnis im späteren Prozess thematisiert werden. Insbesondere ist der Anwalt aufgrund seiner Verschwiegenheitsverpflichtung und der Treuepflicht aus dem Mandatsvertrag daran gehindert, ohne Einwilligung seines Mandanten für diesen ungünstige Umstände vorzutragen. Die Wahrheitspflicht geht nicht so weit, den Gegner von seiner Darlegungslast zu befreien.

Das Ergebnis ist freilich unbefriedigend, weil sie das Postulat der Wahrheitspflicht durch Fragen der Beweis- und der Darlegungslast einschränkt. Nach dieser Auffassung dürfen also vom Anspruchsteller auch solche Tatsachen, von deren rechtshemmender, rechtshindernder oder gar rechtsvernichtender Wirkung er selbst überzeugt ist, seit alters her verschwiegen werden, wenn es sich nicht eben um beispielsweise die Erfüllung des geltend gemachten Anspruchs handelt.

Das Dilemma für den Anwalt ist in dieser Fallkonstellation evident und kaum auflösbar, da zur Niederlegung des Mandats vor Klageerhebung keine Veranlassung besteht, weil zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht feststeht, ob sich der Prozessgegner möglicherweise auf die Verjährung berufen würde. Bei lebensnaher Vorhersage kann allerdings davon ausgegangen werden, dass selbstverständlich ein Gegner die Einrede der Verjährung geltend machen würde, wenn er denn den tatbestandsausfüllenden Sachverhalt begründet darlegen könnte. Die Einschränkung der prozessualen Wahrheitspflicht in einem solchen Fall befördert deshalb den Verdacht, dass in jedem Anwalt eigentlich doch ein Winkeladvokat steckt, der seinem Mandanten auch zu möglicherweise unberechtigtem Prozesserfolgen verhelfen möchte, so wie es das landläufige Vorurteil ohnehin zum Inhalt hat.

Es gilt deshalb auch in dieser dritten Fallkonstellation der vom BGH wiederholt bestätigte Grundsatz, dass keine Partei, und selbstverständlich auch nicht ihr Anwalt, gehalten ist, den Gegner für dessen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht von sich aus bereits verfügt. Sofern nicht die Rechtsprechung darlegungs- und beweisbelasteten Parteien durch die Einführung von sekundären Behauptungslasten für den Gegner hilft, bleibt es bei diesem Grundsatz. Dem BGH ist insoweit zuzustimmen, dass weder der Anspruch der Wahrheitsfindung noch das Rechtsstaatsprinzip den Gesetzgeber daran hindern können, den Zivilprozess insoweit der Verhandlungsmaxime zu unterwerfen und es den Parteien zu überlassen, die notwendigen Tatsachenbehauptungen aufzustellen und auch die Beweismittel vorzulegen. Dies mag für den Verfechter der ungeschminkten Wahrheit, die die Schwester der Gerechtigkeit ist, unbefriedigend sein, beschreibt aber die Lebenswirklichkeit. Die insbesondere von Stürner zur Auflösung dieses Dilemmas geforderte Ausweitung der Aufklärungspflichten der Parteien ist nicht nur vom BGH nicht befürwortet worden, sondern hat sich auch in der Literatur nicht durchgesetzt.

VII. Fazit

Der Anwalt befindet sich also tatsächlich in diesem Spannungsverhältnis zwischen prozessualer Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht. Selbst wenn man die Aufklärungspflichten der Parteien und ihrer Anwälte auch in Bezug auf ungünstige Sachverhaltsteile ausweiten würde, wäre das Spannungsverhältnis damit nicht beseitigt. Der Anwalt muss also diese Spannung möglicherweise widerstreitender Berufspflichten aushalten. Ihm werden Entscheidungen abverlangt. Gesetz und Rechtsprechung haben aber Kriterien für diese Entscheidung entwickelt, die sich als brauchbar erweisen: Der Anwalt darf nicht wider besseren Wissens die Unwahrheit verbreiten. Er darf, soweit nicht die oben genannten gesetzlichen Ausnahmetatbestände vorliegen, gegen seine Verschwiegenheitsverpflichtung gegenüber dem Mandanten nicht verstoßen. Bei einem unüberbrückbaren Konflikt zwischen diesen beiden Prinzipien, muss er das Mandat niederlegen.

Dies ist vermutlich der einzige ihm mögliche ehrenhafte Ausweg. Schlitzohrigkeiten helfen im Ergebnis nicht weiter. Vielmehr hat auch der Anwalt im Zivilprozess Interessenkonflikte zwischen Wahrheitspflicht auf der einen und Verschwiegenheitspflicht auf der anderen Seite „im Einzelfall nach sorgfältiger Abwägung der widerstreitenden Interessen und der Folgen seines Handelns oder Unterlassens zu entscheiden“. Trifft er im Einzelfall eine falsche Entscheidung, ist diese überprüfbar und mit hinreichenden berufsrechtlichen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen belegt.

© Deutscher Anwaltverein, Brand, AnwBl 2014, 286-291