Beschluss vom 16. Juli 2013
Mit einem heute veröffentlichten Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts präzisiert, in welchen Fällen vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde beim letztinstanzlichen Fachgericht eine Anhörungsrüge erhoben werden muss. Zur Erschöpfung des Rechtswegs muss im Grundsatz kein Anhörungsrügeverfahren durchlaufen werden, wenn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht wird. In Einzelfällen kann dies jedoch aus Subsidiaritätsgründen erforderlich sein, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde beanstanden die Beschwerdeführer insbesondere, dass das Oberverwaltungsgericht ihren Antrag auf Zulassung der Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil abgelehnt hat. Sie hatten vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen einen deichrechtlichen Planfeststellungsbeschluss erhoben. Nach diesem soll auf einem ihrer Grundstücke – anstelle einer bestehenden Hochwasserschutzmauer – ein sogenannter grüner Deich errichtet werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage der Beschwerdeführer weitgehend ab; eine Verletzung des Abwägungsgebotes könnten sie nicht mit Erfolg geltend machen. Den Antrag der Beschwerdeführer auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht ab. Zwar sei das Verwaltungsgericht offensichtlich irrig davon ausgegangen, das Grundstück der Beschwerdeführer werde nicht dauerhaft, sondern nur während der Bauzeit im Umfang eines Arbeitsstreifens in Anspruch genommen. Dies sei jedoch für die Ergebnisrichtigkeit des Urteils ohne Bedeutung, da die dauerhafte teilweise Inanspruchnahme dieses Grundstücks ordnungsgemäß in die planerische Abwägung eingestellt worden sei.
2. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Er wird aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen.
a) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die Beschwerdeführer keine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts erhoben haben.
aa) Wird mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Regelfall abhängig ist. Wird die Rüge einer Gehörsverletzung hingegen weder ausdrücklich noch der Sache nach zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht oder wird die zunächst wirksam im Verfassungsbeschwerdeverfahren erhobene Rüge einer Gehörsverletzung wieder zurück genommen, hängt die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechtswegerschöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahrens ab.
Vorliegend machen die Beschwerdeführer mit ihrer Verfassungsbeschwerde weder ausdrücklich noch der Sache nach eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend. Auch wenn einzelne Ausführungen – isoliert betrachtet – als Rügen einer Gehörsverletzung gedeutet werden könnten, dienen sie im Zusammenhang der Verfassungsbeschwerde dem Ziel zu begründen, dass das Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Berufungszulassungsgründe verkannt habe.
bb) Aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde können Beschwerdeführer jedoch gehalten sein, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit einer Anhörungsrüge auch dann anzugreifen, wenn sie sich in der Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen. Dies gilt dann, wenn ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren den Rechtsbehelf ergreifen würden.
Im vorliegenden Fall ist der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht verletzt. Es gibt insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer lediglich eine Versäumung der Anhörungsrüge umgehen wollten.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat durch seine Handhabung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils den Zugang zur Berufungsinstanz in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verengt und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils sind immer schon dann begründet, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt. Dies ist den Beschwerdeführern gelungen. Sie haben aufgezeigt, dass das Verwaltungsgericht in einem wesentlichen Punkt von falschen Annahmen über die Festsetzungen im Planfeststellungsbeschluss ausgegangen ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat bereits im Berufungszulassungsverfahren eine eigene Prüfung der fachplanerischen Abwägungsentscheidung vorgenommen und dabei das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis für richtig befunden. Dies geht über den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens hinaus, das den Beteiligten zudem – insbesondere mangels förmlichen Beweisaufnahmeverfahrens – von vornherein weniger Einwirkungsmöglichkeiten auf die Tatsachenfeststellung einräumt als das Hauptsacheverfahren. Die Vorverlagerung der Sachprüfung in das Zulassungsverfahren stellt einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dar.
(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 7. August 2013)