Nachfolgend ein Beitrag vom 7.9.2017 von Briesemeister, jurisPR-MietR 18/2017 Anm. 6

Leitsätze

1. Die Duldungspflicht nach § 16a Abs. 1 NachbG BE (Berliner Nachbarrechtsgesetz) gilt nicht für eine die Grundstücksgrenze überschreitende Wärmedämmung einer Grenzwand, mit der der benachbarte Grundstückseigentümer erstmals die Anforderungen der bei der Errichtung des Gebäudes bereits geltenden Energieeinsparverordnung (hier: EnEV 2001) erfüllt.
2. Es bleibt offen, ob § 16a Abs. 1 NachbG BE verfassungsgemäß ist.

Orientierungssatz zur Anmerkung

Es besteht kein Anspruch auf Duldung eines Grenzüberbaus, wenn das Gebäude bereits bei Errichtung eine Wärmedämmung benötigt hätte.

A. Problemstellung

Auch Wohnungseigentümer möchten oftmals nachträglich eine Wärmedämmung an ihr Haus anbringen, um die Energiekosten zu senken. Wenn ihr Gebäude bis an die Grundstücksgrenze zum Nachbarn errichtet worden ist, stellt sich die Frage, ob aus diesem Grunde ein Überbau gestattet ist, sie also vom Nachbarn die Duldung des Grenzüberbaus verlangen können. Landesrechtliche Nachbarrechtsgesetze (z.B. § 16a des Berliner Nachbarrechtsgesetzes – NachbG BE) sehen eine Duldungspflicht des Nachbarn vor, wenn das zu dämmende Gebäude bereits besteht und die Wärmedämmung nur mit Zustimmung des Nachbarn des Grundstücksbereichs angebracht werden kann.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Grundstück des Beklagten ist mit einem Reihenendhaus bebaut, das an der Grenze zum Grundstück der Wohnungseigentümer steht. An das Reihenendhaus hatte ein Bauträger 2004/2005 das heute den Wohnungseigentümern gehörende Mehrfamilienhaus angebaut. Die Giebelwände decken sich nicht vollständig. Das Mehrfamilienhaus steht um 1,61 m vor. In diesem Bereich der Giebelwand brachte der Bauträger im August 2005 Dämmmaterial an, das 7 cm in das Grundstück des Beklagten hineinragt und unverputzt und nicht gestrichen ist. Die Wohnungseigentümer möchten auf das bereits bestehende Dämmmaterial Putz und Anstrich mit einer Stärke von max. 0,5 cm anbringen. Sie haben beschlossen, ihre Ansprüche gegen den Beklagten durch die Wohnungseigentümergemeinschaft (Klägerin) geltend zu machen. Diese verlangt von dem Beklagten, die Arbeiten sowie spätere Instandhaltungsmaßnahmen an der Wärmeschutzwand unter Meidung eines Ordnungsgeldes für den Fall der Zuwiderhandlung zu dulden. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen, jedoch die Revision zugelassen.
Der BGH hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Nach § 16a Abs. 1 NachbG BE (Berliner Nachbarrechtsgesetz) habe der Eigentümer eines Grundstücks die Überbauung seines Grundstücks für Zwecke der Wärmedämmung zu dulden, wenn das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht. Daran fehlt es hier nach Auffassung des BGH aber.
Bei dem Mehrfamilienhaus der Wohnungseigentümer handele es sich nicht um ein bestehendes Gebäude im Sinne dieser Vorschrift. Die gesetzliche Duldungspflicht gelte nicht für eine die Grundstücksgrenze überschreitende Wärmedämmung einer Grenzwand, mit der der benachbarte Grundstückseigentümer erstmals die Anforderungen der bei der Errichtung des Gebäudes bereits geltenden Energieeinsparverordnung (EnEV) erfülle. Der Landesgesetzgeber wollte Grundstückseigentümern nicht generell gestatten, eine Wärmedämmung grenzüberschreitend, also im Wege eines Überbaus anzubringen. Er wollte nur die energetische Sanierung von Altbauten erleichtern. Dies werde zwangsläufig bei Gebäuden, die bis zur Grundstücksgrenze reichen, zumeist dadurch erschwert, dass der Nachbar die notwendige Zustimmung zu dem durch die Verkleidung der Grenzwand mit einem Wärmeverbundsystem entstehenden Überbau verweigere oder von unverhältnismäßigen finanziellen Forderungen abhängig mache.
Anders als für den Altbaubestand habe der Landesgesetzgeber für die Wärmedämmung von Neubauten kein Regelungsbedürfnis gesehen. Er habe im Gegenteil ausgeführt, dass die Duldungsverpflichtung nur bei Bestandsbauten und nicht bei Neubauten gelte, weil dort die Wärmeschutzanforderungen bereits durch eine entsprechende Planung hätten erfüllt werden können. Neubauten seien dagegen grundsätzlich so zu planen, dass sich die Wärmedämmung in den Grenzen des eigenen Grundstücks befinde.
Nach diesen Grundsätzen handele es sich bei dem Mehrfamilienhaus der klagenden Wohnungseigentümer nicht um ein bestehendes Gebäude. Denn der Bauträger habe das Gebäude in den Jahren 2004/2005 und damit nach Inkrafttreten der EnEV 2001 vom 16.11.2001 (BGBl I 2001, 3085) errichtet. Die Regelung aus dem Jahre 2001 betreffend die Wärmeschutzanforderungen konnte und musste der Bauträger also bereits bei Errichtung des Gebäudes beachten. Er musste das Gebäude so planen und erstellen, dass sich das Dämmmaterial in den Grenzen des eigenen Grundstücks befindet. Die geplante Wärmedämmung des Gebäudes stelle sich somit nicht als nachträgliche Maßnahme, sondern als erstmalige Erfüllung der bereits bei Errichtung des Gebäudes bestehenden Vorschriften dar. Demgemäß gelte für diese auch die Duldungspflicht des Nachbarn nicht (vgl. Bruns, Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg, 3. Aufl., § 7c Rn. 5; Schäfer/Schäfer, Niedersächsisches Nachbarrechtsgesetz, 2. Aufl., § 21a Rn. 2; Grziwotz/Saller, Bayerisches Nachbarrecht, 3. Aufl., 2. Teil Rn. 62d; Kirchhof, ZfIR 2012, 777, 780).

C. Kontext der Entscheidung

Zwar unterliegen Nachbarn einer Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis. Eine selbstständige Verpflichtung ist aber mit Rücksicht auf die nachbarrechtlichen Sonderregelungen eine Ausnahme und kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint. Das Rechtsinstitut darf insbesondere nicht dazu dienen, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu kehren (BGH, Urt. v. 29.06.2012 – V ZR 97/11 – NJW-RR 2012, 1160). Ein Ausnahmefall wird auch durch das Interesse des Gebäudeeigentümers und der Allgemeinheit an einer Wärmedämmung nicht begründet. Das würde zu einer weitgehenden Zulässigkeit einer die Grundstücksgrenze überschreitende Wärmedämmung führen und die nachbarrechtlichen Vorschriften in ihr Gegenteil verkehren (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 09.12.2009 – 6 U 121/09 – NJW 2010, 620; Roth in: Staudinger, BGB, 2016, § 912 Rn. 3; Horst, NJW 2010, 122, 124; Nelskamp/Dahmen, BauR 2010, 1129; a.A. Kirchhof, ZfIR 2012, 777, 780 f.). Dies gilt auch dann, wenn die Überbauung nur wenige Zentimeter beträgt.
In einem weiteren dritten Problemkomplex befasst sich der BGH mit dem Vortrag der Parteien, dass der Beklagte gegen die Erteilung der Baugenehmigung zunächst Widerspruch eingelegt hatte und nach Änderung der Bauplanung mit dem Bauträger am 26.10.2004 einen „Nachbarschaftsvertrag“ geschlossen hatte, durch den dieser sich verpflichtet hat, den Widerspruch zurückzunehmen. An einer solchen Gestattung des Überbaus durch den Beklagten fehlt es jedoch. Benachbarte Grundstückseigentümer haben zwar die Möglichkeit, die Folgen eines Überbaus durch Rechtsgeschäft in gewissem Umfang abweichend von § 912 BGB zu bestimmen. Das folgt – unbeschadet der grundsätzlich zwingenden Natur sachenrechtlicher Vorschriften – daraus, dass in § 912 BGB selbst maßgeblich auf den Willen der beiden Nachbarn abgehoben wird, und zwar sowohl in der Person des Überbauers (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) als auch in der des Betroffenen (Widerspruch). Der gestattete Überbau ist nicht rechtswidrig, die Duldungspflicht des Nachbarn folgt aus der Abrede (vgl. BGH, Urt. v. 07.11.2014 – V ZR 305/13 – NJW-RR 2015, 181; BGH, Urt. v. 21.01.1983 – V ZR 154/81 – NJW 1983, 1112; BGH, Urt. v. 22.02.1974 – V ZR 103/73 – BGHZ 62, 141; BGH, Urt. v. 18.12.1970 – V ZR 73/68 – NJW 1971, 426; BGH, Urt. v. 13.07.1966 – V ZR 8/64 – WM 1966, 1185). Wie § 912 BGB beim gutgläubigen Überbau schafft die Zustimmung bei der rechtmäßigen Grenzüberbauung den Rechtsgrund dafür, dass der Nachbar den fremden Gebäudeteil auf seinem Grundstück dulden muss. Die auf dem Willen der Beteiligten beruhende Legitimation begrenzt zugleich deren Umfang und Bestand (BGH, Urt. v. 16.01.2004 – V ZR 243/03 – BGHZ 157, 301).
Eine solche Gestattung des Überbaus durch den Beklagten fehlt jedoch. In dem Nachbarschaftsvertrag vom 26.10.2004 ist der Überbau nicht genannt. Dass die Vertragsparteien in dessen Vorfeld über die grenzüberschreitende Wärmedämmung gesprochen haben, hat das Landgericht nicht festgestellt. Eine Gestattung des Überbaus liegt auch nicht mittelbar darin, dass der Beklagte gegenüber der Baubehörde in Erfüllung des Nachbarschaftsvertrages den Widerspruch gegen die dem Bauträger erteilte Baugenehmigung zurückgenommen, dem geänderten Bauvorhaben zugestimmt und erklärt hat, dass ihm die maßgeblichen Pläne ausgehändigt und erläutert worden seien. Bei diesen Erklärungen des Beklagten im Baugenehmigungsverfahren handelt es sich um eine dem öffentlichen Recht angehörende, der Baubehörde gegenüber abzugebende Willenserklärung, wonach gegen das Bauvorhaben öffentlich-rechtliche Einwendungen nicht (mehr) erhoben werden. Sie besitzt keine zivilrechtliche Wirkung und durch sie gehen bürgerlich-rechtliche Abwehransprüche des Nachbarn nicht verloren (vgl. BayObLG, Urt. v. 02.07.1990 – RReg 1 Z 285/89 – NJW-RR 1991, 19; Zabel/Mohr, ZfIR 2010, 561, 563). Die Baugenehmigung ergeht unbeschadet privater Rechte Dritter und hat deshalb auch keine privatrechtsgestaltende Ausschlusswirkung (BGH, Urt. v. 26.02.1993 – V ZR 74/92 – BGHZ 122, 1 ff.). Es sind keine Anhaltspunkte vorhanden, dass der Beklagte den Überbau auch rechtsgeschäftlich gestatten wollte. Selbst wenn der Überbau aus den Plänen zu dem geänderten Baugenehmigungsantrag ersichtlich gewesen sein sollte, ist das nicht ausreichend, weil sich daraus nicht folgern lässt, dass der Beklagte ihn auch wahrgenommen hat.

D. Auswirkungen für die Praxis

Der BGH bestätigt die Auffassung des Landgerichts, dass die Klage zulässig ist. Denn die Wohnungseigentümergemeinschaft ist jedenfalls für die geltend gemachten Duldungsansprüche ausübungs- und prozessführungsbefugt, weil die Ansprüche durch sog. Ansichziehen von den Wohnungseigentümern durch einen Beschluss vergemeinschaftet worden sind (geborene Ausübungsbefugnis nach § 10 Abs. 6 Satz 3 HS. 2 WEG). Der BGH brauchte in diesem Zusammenhang nicht zu entscheiden, ob für den auf § 16a Abs. 1 NachbG BE gestützten Duldungsanspruch bereits eine geborene Ausübungsbefugnis der klagenden Wohnungseigentümergemeinschaft besteht (so aber KG, Beschl. v. 19.08.2014 – 4 W 35/14).

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der BGH lässt mangels Entscheidungserheblichkeit ebenfalls dahinstehen, ob § 16a NachbG BE überhaupt verfassungsgemäß ist. Bedenken bestehen im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin. Für das bürgerliche Recht besteht die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Für eine Gesetzgebung der Länder ist daher nur Raum, solange und soweit der Bund die Materie nicht erschöpfend geregelt hat. Ob dies hinsichtlich des Überbaus in § 912 BGB erschöpfend geregelt worden ist, ist streitig (vgl. Albrecht in: Staudinger, BGB, 2012, Art. 124 EGBGB Rn. 8). Das BVerfG hat die Frage offengelassen (BVerfG, Beschl. v. 19.07.2007 – 1 BvR 650/03 – BVerfGK 11, 420, 431 f. zu § 7b NRG BW). In materieller Hinsicht ist nämlich zweifelhaft, ob der Berliner Landesgesetzgeber die grundrechtlich geschützten Interessen des von dem Überbau betroffenen Nachbarn ausreichend berücksichtigt hat; Einschränkungen der Duldungspflicht, wie sie etwa § 7c NRG BW, § 23a NachbG NRW oder § 10a NachbG HE enthalten, sind in § 16a NachbG BE nämlich nicht aufgenommen worden (vgl. Brückner in: MünchKomm BGB, 7. Aufl., § 912 Rn. 49; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 19.07.2007 – 1 BvR 650/03 – BVerfGK 11, 420, 430 zu § 7b NRG BW).