Nachfolgend ein Beitrag vom 3.4.2018 von Fischer, jurisPR-SteuerR 13/2018 Anm. 5

Orientierungssatz zur Anmerkung

Wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BFH und des BGH regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen. Hiernach ist Leistender in der Regel derjenige, der die Lieferungen oder sonstigen Leistungen im eigenen Namen gegenüber einem anderen selbst ausführt oder durch einen Beauftragten ausführen lässt. Die Frage ist, ob dies auch dann gilt, wenn substanzlose Strohfirmen gegenüber dem insoweit arglosen Abnehmer zwecks Hinterziehung der Umsatzsteuer von einem kriminellen „Mastermind“ instrumentalisiert werden.

A. Problemstellung

Gegen die hier vorgestellte BGH-Entscheidung bestehen Bedenken. Neuere Entscheidungen des EuGH lassen Zweifel daran aufkommen, ob von einem Hintermann genutzten substanzlosen Scheingesellschaften die Umsätze und nicht vielmehr dem unter fremdem Namen handelnden kriminellen Akteur zuzurechnen sind.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Angeklagt waren der Generaldirektor B. und der Einkaufsleiter S. der in den Niederlanden ansässigen Firma P. Ende des Jahres 2009 nahmen sie Kontakt zu dem in Deutschland lebenden Zeugen R. auf. Zwecks Hinterziehung von Umsatzsteuer vereinbarten die Angeklagten mit R. folgendes „Geschäftsmodell“:
In den Niederlanden lagen die Marktpreise für Kupfer höher als die Nettoeinkaufspreise in Deutschland. Das Kupfer sollte daher zum Schein zunächst an ein Unternehmen in Deutschland verkauft werden. Der Geschäftsführer bzw. Inhaber des „Scheinunternehmens“ sollte dann – nach den zeitlichen und preislichen Vorgaben der Angeklagten – an einen deutschen Großabnehmer herantreten und das Kupfer im Namen des Scheinunternehmens verkaufen. Der Zwischenerwerb sollte vorgeschoben werden, damit der Großabnehmer nicht nur die Nettopreise, sondern – wie bei jedem innerdeutschen Handelsgeschäft – auch die Umsatzsteuer ausbezahlt. Die vom Großabnehmer ausbezahlten Nettopreise zuzüglich Umsatzsteuer lagen höher als die Einkaufspreise in den Niederlanden. Das „Geschäftsmodell“ war wirtschaftlich nur sinnvoll, wenn eine ordnungsgemäße Versteuerung der Umsätze und Abführung der Umsatzsteuer nicht erfolgten. Der Nettoeinkaufspreis und zwei Drittel des auf die Umsatzsteuer entfallenden Betrages sollten an die Angeklagten zurückfließen. Das restliche Drittel der ausbezahlten Umsatzsteuer wollten die Angeklagten einerseits und R. andererseits hälftig unter sich aufteilen.
Von Februar bis Mai 2010 fanden Kupferlieferungen über die SH-GmbH an die T.-GmbH statt. Die SH-GmbH übte keine Geschäftstätigkeit mehr aus. R. gewann den Geschäftsführer der SH-GmbH, den Zeugen L., sich als Strohmann an dem Geschäftsmodell zu beteiligen. Auch wenn die Führung des „Scheinunternehmens“ bei den Angeklagten und dem Zeugen R. liegen sollte, hatte der Zeuge L. die Aufgabe, bei der Anlieferung von Kupfer die Geldbeträge an der Kasse der T.-GmbH entgegenzunehmen. Die Angeklagten standen mit R. in ständigem telefonischen Kontakt, um die Ein- und Verkaufspreise abzustimmen. Sie erstellten dann Rechnungsunterlagen für die Firma P. in den Niederlanden, wonach sie das Kupfer an die SH-GmbH verkauften. Tatsächlich fanden ein Verkauf und eine Lieferung an die SH-GmbH nicht statt. Vielmehr wurde das Kupfer, nachdem R. mit dem Chefeinkäufer der T.-GmbH, dem Zeugen G., die Nettoeinkaufspreise verhandelt hatte, auf Veranlassung der Angeklagten direkt zur T.-GmbH geliefert. G. ging dabei davon aus, dass die SH-GmbH Vertragspartner der T.-GmbH wurde. Diese Geschäfte wurden im Juni und Juli 2010 mit einem neuen Strohmann namens W. durchgeführt.
Die T.-GmbH zahlte nach jeder Einzellieferung die Nettopreise und die Umsatzsteuer in bar aus, wobei jeweils die Strohmänner L. bzw. W. das Bargeld an der Kasse für ihr Unternehmen in Empfang nahmen. Sie leiteten jeweils das Geld ungeprüft an R. weiter. Dieser traf sich umgehend mit den Angeklagten, die ebenfalls vor Ort warteten, um die Aufteilung des Geldes zu überwachen. Weder die Angeklagten noch R. noch die Strohmänner L. und W. gaben für die über die „Scheinunternehmen“ SH-GmbH und W. erzielten Umsätze Umsatzsteuervoranmeldungen oder eine Umsatzsteuerjahreserklärung ab.
Das Landgericht hat die Angeklagten als Mittäter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, § 25 Abs. 2 StGB) angesehen, weil sie für die „Scheinunternehmen“ SH-GmbH und W. in den Voranmeldungszeiträumen Februar bis Juli 2010 keine Umsatzsteuervoranmeldungen über die von diesen Unternehmen getätigten Umsätze abgaben, obwohl sie hierzu wegen ihrer „absoluten Leitungsmacht“ über die „Scheinunternehmen“ gemäß § 35 AO verpflichtet gewesen seien. Diese Würdigung wird von den Urteilsfeststellungen nicht getragen. Der BGH ist dem nicht gefolgt. Er führte aus:
I. Zwar sind die innergemeinschaftlichen Erwerbe gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 13a Abs. 1 Nr. 2 UStG vom Leistungsempfänger zu versteuern, so dass an den Leistenden keine Umsatzsteuerbeträge ausbezahlt werden. Die Urteilsfeststellungen belegen jedoch nicht, dass die Angeklagten als Verfügungsbefugte i.S.v. § 35 AO die steuerlichen Erklärungspflichten der Unternehmen SH-GmbH und W. zu erfüllen hatten.
II. Da zwecks Hinterziehung von Umsatzsteuer die SH-GmbH und das Einzelunternehmen W. und nicht die Angeklagten oder das niederländische Unternehmen P. gegenüber der T.-GmbH als Lieferanten auftraten und für den Chefeinkäufer dieser Firma keine Anhaltspunkte bestanden, dass dies nicht seine Richtigkeit hatte, waren sie bei den Kupferlieferungen an die T.-GmbH als leistende Unternehmer anzusehen. Der Umstand, dass die „Strohfirmen“ im Verhältnis zu den Angeklagten wegen des kollusiven Zusammenwirkens ihres Geschäftsführers bzw. Inhabers mit den Angeklagten ohne handelstypisches Verhalten nicht als Unternehmer anzusehen waren (vgl. BGH, Beschl. v. 08.02.2011 – 1 StR 24/10 – NStZ 2011, 407; BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218, 234; jeweils m.w.N.), ist insoweit ohne Bedeutung.
II. Die als „Scheinfirmen“ bezeichneten, tatsächlich aber existierenden Unternehmen SH-GmbH und W. sind als Leistende an die Firma T.-GmbH anzusehen. Wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist, ergibt sich regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen (BFH, Urt. v. 26.06.2003 – V R 22/02 – BFH/NV 2004, 233; BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218, 233). Leistender ist damit in der Regel derjenige, der die Lieferungen oder sonstigen Leistungen im eigenen Namen gegenüber einem anderen selbst ausführt oder durch einen Beauftragten ausführen lässt. Ob eine Leistung dem Handelnden oder einem anderen zuzurechnen ist, hängt deshalb grundsätzlich davon ab, ob der Handelnde gegenüber dem Leistungsempfänger im eigenen Namen oder berechtigterweise im Namen eines anderen bei Ausführung entgeltlicher Leistungen aufgetreten ist (vgl. BFH, Urt. v. 12.05.2011 – V R 25/10 – BFH/NV 2011, 1541). Auch ein „Strohmann“ kann Unternehmer und Leistender im Sinne des UStG sein. Er ist nicht deswegen nicht selbstständig i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, weil er im Innenverhältnis den Weisungen eines Auftraggebers verpflichtet ist. Ohne Bedeutung für die Beurteilung der Leistungsbeziehungen im Verhältnis zu Dritten ist grundsätzlich, aus welchen Gründen der „Hintermann“ gegenüber dem Vertragspartner des „Strohmannes“ und Leistungsempfängers als Leistender nicht in Erscheinung treten will (vgl. BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218, 233 m.w.N.).
III. Unbeachtlich ist ein „vorgeschobenes“ Strohmanngeschäft allerdings dann, wenn es nur zum Schein abgeschlossen wird, d.h. wenn beide Vertragsparteien einverständlich oder stillschweigend davon ausgehen, dass die Rechtswirkungen des Geschäfts gerade nicht zwischen Ihnen, sondern zwischen dem Leistungsempfänger und dem „Hintermann“ eintreten sollen (vgl. § 41 Abs. 2 AO; BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218, 233 f. m.w.N.). So verhielt es sich hier jedoch nicht.
IV. Da deshalb diese Strohmann-Firmen gegenüber der T.-GmbH als Lieferanten auftraten und auch für den Chefeinkäufer dieser Firma, den Zeugen G., keine Anhaltspunkte bestanden, dass dies nicht zutraf, waren sie bei den Kupferlieferungen an die T.-GmbH als leistende Unternehmer anzusehen. Die als Strohfirmen eingeschalteten SH-GmbH und das Einzelunternehmen W. waren in der Lage und befugt, der T.-GmbH die Verfügungsmacht über das angelieferte Kupfer zu verschaffen.
V. Täter – auch Mittäter – einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) kann nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist (BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218). Zwar trifft auch einen Verfügungsberechtigten i.S.d. § 35 AO eine Rechtspflicht zur Aufklärung über steuerlich erhebliche Tatsachen. Die vom Landgericht festgestellten tatsächlichen Umstände belegen jedoch für die Angeklagten keine den Voraussetzungen des § 35 AO entsprechende Stellung. Entscheidend für die Pflichtenstellung des § 35 AO ist, dass der Verfügungsberechtigte durch die Übertragung der rechtlichen Verfügungsbefugnis in die Lage versetzt worden ist, am Rechtsverkehr wirksam teilzunehmen (vgl. BGH, Urt. v. 09.04.2013 – 1 StR 586/12 – BGHSt 58, 218, 236 m.w.N.).
Die tatrichterlichen Feststellungen belegten nicht das erforderliche Auftreten der Angeklagten als Verfügungsbefugte dieser Unternehmen nach außen, auch nicht gegenüber einer „begrenzten Öffentlichkeit“. Die Angeklagten selbst blieben im Hintergrund und traten auch gegenüber der Leistungsempfängerin, der T.-GmbH, nicht als Vertreter der zwischengeschalteten Firmen auf. Die Urteilsfeststellungen belegen nicht nur kein Auftreten der Angeklagten als Verfügungsbefugte für die SH-GmbH und das Einzelunternehmen W. nach außen, sondern zeigen im Gegenteil, dass die Angeklagten ihre Verbindung zu diesen Unternehmen sogar bewusst verheimlichten.
VI. Die Sache bedarf neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung. Der BGH weist auf Folgendes hin. Das Landgericht wird gegebenenfalls auch die Möglichkeit eines steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerbs durch die Angeklagten i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG in die Prüfung der steuerlichen Verhältnisse einbeziehen können. Denn gemäß § 1a Abs. 2 Satz 1 UStG gilt als innergemeinschaftlicher Erwerb gegen Entgelt auch das Verbringen eines Gegenstands des Unternehmens aus dem übrigen Gemeinschaftsgebiet in das Inland durch einen Unternehmer zu seiner Verfügung, ausgenommen zu einer nur vorübergehenden Verwendung. Der Unternehmer gilt in einem solchen Fall als Erwerber (§ 1a Abs. 2 Satz 2 UStG) und wird Steuerschuldner (§ 13a Abs. 1 Nr. 2 UStG). Je nach Sachlage wird das Landgericht auch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Anstiftung zur Steuerhinterziehung in den Blick nehmen können.

C. Kontext der Entscheidung

I. Nach h.M. ist „Leistender i.S.d. § 2 UStG“ grundsätzlich derjenige, der im eigenen Namen Lieferungen oder sonstige Leistungen gegenüber einem anderen selbst oder durch einen Beauftragten ausführt (vgl. BFH, Urt. v. 04.02.2015 – XI R 14/14 Rn. 19 – BStBl II 2015, 908; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 33/2015 Anm. 6; BFH, Urt. v. 12.08.2015 – XI R 43/13 – BStBl II 2015, 919). Dies kann regelmäßig den zivilrechtlichen Rechtsbeziehungen entnommen werden (vgl. z.B. BFH, Urt. v. 24.04.2013 – XI R 7/11 Rn. 22 – BStBl II 2013, 648). Tritt der Leistende unter fremdem Namen auf, sind ihm die Leistungen zuzurechnen (vgl. BFH, Urt. v. 21.04.1994 – V R 105/91 – BFHE 174, 469 = BStBl II 1994, 671, unter II.1.).
II. Das BFH-Urteil vom 04.02.2015 (XI R 14/14 – BStBl II 2015, 908) verweist für diese grundsätzliche Aussage auch auf das EuGH-Urteil vom 20.06.2013 (C-653/11 – MwStR 2013, 373 „Newey“; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 34/2013 Anm. 5). Der EuGH begründet diese Aussage „für den Regelfall“ damit, dass die vertragliche Situation „normalerweise (!) die wirtschaftliche und geschäftliche Realität der Transaktionen widerspiegelt“ (EuGH, Urt. v. 20.06.2013 – C-653/11 Rn. 43 „Newey“; vgl. auch BFH, Urt. v. 09.09.2015 – XI R 21/13 Rn. 32 – BFH/NV 2016, 597; vgl. BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 33/14 Rn. 21 – BFH/NV 2017, 325). Eine von den „vertraglichen Vereinbarungen“ abweichende Bestimmung des Leistenden kommt lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht (vgl. z.B. BFH, Urt. v. 30.03.2006 – V R 9/03 Rn. 16 – BStBl II 2006, 933). Nach Auffassung des EuGH kann sich herausstellen, „dass einige Vertragsbestimmungen gelegentlich die wirtschaftliche und geschäftliche Realität der Transaktionen nicht vollständig widerspiegeln“, was insbesondere der Fall sein kann, wenn die betreffenden Vertragsbestimmungen eine missbräuchliche Gestaltung darstellen (EuGH, Urt. v. 20.06.2013 – C-653/11 Rn. 44 f. „Newey“). Zwar habe die Gesellschaft auf Jersey namens Alabaster „formal gemäß den Vertragsbestimmungen die Dienstleistungen der Darlehensvermittlung an die Darlehensgeber erbracht“. Wenn nicht „in Wirklichkeit Herr Newey und nicht Alabaster der Erbringer der Dienstleistungen der Darlehensvermittlung war“, „müssten die Vertragsbestimmungen in der Weise neu definiert werden, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne diese missbräuchliche Praxis darstellenden Transaktionen bestanden hätte“ (EuGH, Urt. v. 20.06.2013 – C-653/11 Rn. 50 „Newey“). Herr Newey wäre „tatsächlich der Erbringer der Darlehensvermittlungsdienstleistungen und der Empfänger der Werbedienstleistungen“ (EuGH, Urt. v. 20.06.2013 – C-653/11 Rn. 51 „Newey“). Hiernach sind die Vertragsbestimmungen für die Feststellung, wer Erbringer und wer Begünstigter einer „Dienstleistung“ i.S.v. Art. 2 Nr. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ist, zwar zu berücksichtigen, aber nicht ausschlaggebend. Hiernach war in Betracht zu ziehen, dass der Finanzmakler Newey seine geschäftliche Tätigkeit nicht vom Vereinigten Königreich auf eine in Jersey ansässige Gesellschaft ausflaggen konnte, obwohl zwar die Darlehensverträge zwischen dieser Gesellschaft und seinen Kunden geschlossen wurden, indes die gesamte geschäftliche Tätigkeit ausschließlich von ihm selbst an seinem Stammsitz vorgenommen wurde.
III. Gegen die rechtliche Würdigung des BGH bestehen die folgenden Einwände. Der BGH spricht vom „Leistenden i.S.d. § 2 UStG“. Indes benennen weder das UStG noch Art. 9 MwStSystRL dieses Tatbestandsmerkmal. Der EuGH spricht von den „wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers“ (z.B. EuGH, Urt. v. 15.11.2017 – C-374/16 und C-375/16 Rn. 49 – MwStR 2017, 987). Der BFH bildet den Begriff des „leistenden Unternehmers“ (z.B. BFH, Beschl. v. 14.11.2017 – V B 65/17 – BFH/NV 2018, 243).
Letzterer Begriff ist inhaltlich verknüpft mit der „impliziten Voraussetzung einer Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 MwStSystRL“: „der Marktteilnahme“; vgl. hierzu die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 23.12.2015 (C-520/14 Rn. 62 ff. „Gemeente Borsele“): „Dieses Erfordernis … wird dadurch bestätigt und ergänzt, dass der Gerichtshof zur Feststellung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mitunter prüft, ob eine Tätigkeit in gleicher Weise ausgeübt wird wie gewöhnlicherweise eine entsprechende wirtschaftliche Tätigkeit. Insbesondere ein Vergleich mit der gewöhnlichen Tätigkeit der in Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 MwStSystRL genannten Berufsgruppen wird insoweit verlangt.“ Eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL „ist nicht festzustellen, wenn mit einer Tätigkeit keiner der verschiedenen Steuertatbestände des Art. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt wird“ (Generalanwältin Kokott, Schlussanträge a.a.O. Rn. 32).
Der EuGH führt in seinem Urteil in der Rechtssache „Gemeente Borsele“ aus: Für die Feststellung, ob eine Dienstleistung so erbracht worden ist, dass diese Tätigkeit als gegen ein Entgelt erfolgt und somit als eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen ist, sind alle Umstände zu prüfen, unter denen die Tätigkeit erfolgt ist (EuGH, Urt. v. 12.05.2016 – C-520/14 Rn. 29 – MwStR 2016, 492). „Der Vergleich zwischen den Umständen, unter denen der Betreffende die fragliche Dienstleistung erbringt, und den Umständen, unter denen eine derartige Dienstleistung gewöhnlich erbracht wird, kann somit eine der Methoden darstellen, mit denen geprüft werden kann, ob die betreffende Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt.“ Daneben können weitere Gesichtspunkte, wie u.a. die Zahl der Kunden und die Höhe der Einnahmen, bei dieser Prüfung berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 12.05.2016 – C-520/14 Rn. 30 f.).
Ismer (MwStR 2016, 654, 655) hat das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Gemeente Borsele“ und die zu diesem Verfahren erstellten Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, denen der EuGH weitestgehend gefolgt ist, „als dogmatischen Feinschmeckerhappen bezeichnet“ (vgl. auch Fischer, jurisPR-SteuerR 26/2017 Anm. 6).
IV. Hiernach ist fraglich, ob den substanzlosen „Scheinfirmen“, die von einem „Mastermind“ instrumentalisiert werden, überhaupt Umsätze zugerechnet werden können. Das Landgericht hatte festgestellt: Die SH-GmbH übte keine Geschäftstätigkeit mehr aus. Und bezogen auf das Geschäftsmodell: „Tatsächlich fanden ein Verkauf und eine Lieferung an die SH-GmbH nicht statt.“ Die SH-GmbH hat weder handelsrechtliche Geschäfte abgeschlossen und/oder fakturiert noch hat sie über Handelsware verfügt. Sie war eine handelsregisterliche Karteileiche, die völlig fremdbestimmt benutzt wurde, um eine grenzüberschreitende Lieferung und Weiterlieferung an die T.-GmbH zu simulieren.
V. Der EuGH sagt in seiner Entscheidung in der Rechtssache „Newey“ (EuGH, Urt. v. 20.06.2013 – C-653/11 Rn. 42): Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität ist ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (vgl. auch EuGH, Urt. v. 07.10.2010 – C-53/09 und C-55/09 – Slg. 2010, I-9187 Rn. 39 f. „Loyalty Management UK und Baxi Group“; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 6/2011 Anm. 6). Als Realität ist festzustellen: Die Angeklagten haben Lieferungen nicht im eigenen, aber unter fremdem Namen ausgeführt. Dies macht sie in Verbindung mit ihren verdeckten Aktivitäten zu „leistenden Unternehmen“. Nach der Rechtsprechung des BFH ist Leistender, wer im eigenen Namen oder unter fremdem Namen Lieferungen oder sonstige Leistungen ausführt (BFH, Urt. v. 21.04.1994 – V R 105/91 – BStBl II 1994, 671; BFH, Urt. v. 12.08.2015 – XI R 43/13 Rn. 26 – BStBl II 2015, 919; Anm. Eversloh, jurisPR-SteuerR 46/2015 Anm. 6). Zwar dürfte hier eine „leicht nachprüfbare Feststellung des leistenden Unternehmers“ nicht möglich sein. Indes werden in einem solchen Fall des Handelns unter fremden Namen die getätigten Umsätze nicht der vorgeschobenen „Strohmann-Firma“, sondern den tatsächlich Handelnden als Unternehmern im Sinne des Umsatzsteuerrechts zugerechnet (BGH, Urt. v. 02.12.1997 – 5 StR 404/97 Rn. 12 – NStZ 1998, 199).

D. Auswirkungen für die Praxis

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Paul Newey“ ist jetzt knapp fünf Jahre „in der Welt“. Es ist merkwürdig, dass sich Rechtsprechung und Literatur mit tragenden Aussagen dieser Entscheidung bislang so gut wie nicht befasst haben. Auch in seiner Entscheidung im der Rechtssache „WebMindLicenses“ hat der EuGH (Urt. v. 17.12.2015 – C-419/14 – MwStR 2016, 153; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 5/2016 Anm. 4) erkennen lassen, dass er weder Briefkastengesellschaften noch eine künstliche Festlegung des Orts einer Dienstleistung mittels einer jeder wirtschaftlichen Realität baren Gestaltung akzeptiert. Der 1. Strafsenat des BGH lässt die über eine Briefkastengesellschaft abgewickelten Geschäfte schlicht unbeachtet (BGH, Beschl. v. 06.09.2012 – 1 StR 140/12 – BGHSt 58, 1; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 1/2013 Anm. 1). Der V. Senat des BFH (Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914, m. Anm. Grube, jurisPR-SteuerR 44/2015 Anm. 5) hat sich zur Anwendung des Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Planzer Luxembourg Sarl“ (EuGH, Urt. v. 28.06.2007 – C-73/06 – Slg 2007, I-5655 = BFH/NV 2007, Beilage 4, 418; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 43/2007 Anm. 6) mit der klaren Aussage angeschlossen: „Ein bloßer ‚Briefkastensitz‘ bildet die wirtschaftliche Realität nicht ab, sondern verschleiert sie“. Die neuere Rechtsentwicklung weist in die richtige Richtung.

Instrumentalisierung von substanzlosen Gesellschaften zwecks Hinterziehung von Umsatzsteuer
Carsten OehlmannRechtsanwalt
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Silvia SlubikSteuerberater
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