Nachfolgend ein Beitrag vom 14.9.2015 von Fischer, jurisPR-SteuerR 37/2015 Anm. 2

Tenor

Art. 39 Abs. 2 EG ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, es bei der Besteuerung der Einkünfte eines gebietsfremden Arbeitnehmers, der seine berufliche Tätigkeit während eines Teils des Jahres in diesem Mitgliedstaat ausübte, abzulehnen, diesem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands einen Steuervorteil zu gewähren, mit der Begründung, er habe zwar seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum in diesem Mitgliedstaat erzielt, doch stellten sie nicht den wesentlichen Teil seiner in dem betreffenden Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte dar. Die Tatsache, dass dieser Arbeitnehmer in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union umgezogen ist, um dort seine berufliche Tätigkeit auszuüben, hat keine Auswirkung auf diese Auslegung.

A. Problemstellung

Der EuGH entwickelt den Mikrokosmos der von ihm zur Besteuerung von beschränkt Steuerpflichtigen aufgestellten Grundsätze für den Fall weiter, dass ein nicht gebietsansässiger – somit beschränkt steuerpflichtiger – Arbeitnehmer Wohnsitz und Ort seiner Tätigkeit in einen anderen Staat – hier: die USA – verlegt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Herr Kieback ist deutscher Staatsangehöriger. In der Zeit vom 01.01. bis zum 31.03.2005, an dem er in die Vereinigten Staaten umzog, um dort einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, arbeitete er in den Niederlanden, wohnte jedoch in Deutschland in einer eigenen Wohnung. Hätte Herr Kieback seine Anstellung in den Niederlanden während des gesamten Jahres 2005 beibehalten, hätte er, obgleich er in diesem Mitgliedstaat Gebietsfremder war, die „negativen Einkünfte“ aus der Finanzierung seiner Wohnung auf die steuerpflichtigen Arbeitseinkünfte für dieses Jahr verrechnen können, sofern er den wesentlichen Teil seiner Einkünfte im genannten Jahr in den Niederlanden erzielt hätte. Weil er indes den wesentlichen Teil seiner Einkünfte in den Vereinigten Staaten erzielt hatte, besteuerte die niederländische Finanzverwaltung seine niederländischen Einkünfte, ohne die „negativen Einkünfte“ aus seiner Wohnung zu berücksichtigen. – Der Hoge Raad der Niederlande hat die sich hieraus ergebenden europarechtlichen Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
I. In seiner Antwort stellt der EuGH einleitend klar, dass ein in den Niederlanden wohnender Steuerpflichtiger im Unterschied zu einem Gebietsfremden die Möglichkeit hat, negative Einkünfte aus einer eigenen, in den Niederlanden belegenen Wohnung geltend zu machen, selbst wenn er im Lauf des Jahres in einen anderen Staat umgezogen ist und deshalb nicht seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte dieses Jahres in den Niederlanden bezogen hat. Mithin werden nach niederländischem Steuerrecht gebietsfremde Steuerpflichtige weniger günstig behandelt als gebietsansässige Steuerpflichtige. Die Berücksichtigung „negativer Einkünfte“ aus einer im Wohnmitgliedstaat des betreffenden Steuerpflichtigen belegenen Immobilie ist ein an die persönliche Lage des Betroffenen geknüpfter Steuervorteil, der für die Beurteilung seiner Gesamtsteuerkraft relevant ist (vgl. EuGH, Urt. v. 18.07.2007 – C-182/06 – EuGHE I 2007, 6705 = BFH/NV 2007, Beilage 4, 333 Rn. 34 „Lakebrink und Peters-Lakebrink“, betr. nicht berücksichtigte Verluste aus Vermietung; EuGH, Urt. v. 16.10.2008 – C-527/06 – EuGHE I 2008, 7735 = DStRE 2009, 212 Rn. 65 bis 67 „Renneberg“).
Der EuGH weist sodann darauf hin, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 39 Abs. 2 EG die Abschaffung jeglicher auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. Der Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Entlohnung wäre seiner Wirkung beraubt, wenn er durch diskriminierende nationale Vorschriften im Bereich der Einkommensteuer beeinträchtigt werden könnte (EuGH, Urt. v. 14.02.1995 – C-279/93 – EuGHE I 1995, 225 „Schumacker“; EuGH, Urt. v. 24.02.2015 – C-512/13 Rn. 22 „Sopora“).
Der Nachweis einer Diskriminierung von nicht gebietsansässigen gegenüber ansässigen Steuerpflichtigen setzt allerdings voraus, dass sich die beiden Gruppen in Anbetracht des Zwecks und des Inhalts der nationalen Vorschriften in einer vergleichbaren Lage befinden (EuGH, Urt. v. 14.09.1999 – C-391/97 – EuGHE I 1999, 5451 Rn. 26 „Gschwind“). Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein gebietsfremder Steuerpflichtiger in seinem Wohnmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer einzigen Tätigkeit bezieht. In einem solchen Fall besteht dessen Diskriminierung darin, dass die persönliche Lage und der Familienstand dieses Gebietsfremden weder im Wohnmitgliedstaat noch im Beschäftigungsmitgliedstaat berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 14.02.1995 – C-279/93 Rn. 36 „Schumacker“; st. Rspr.).
II. Zu den Folgen der Verlegung von Wohnsitz und beruflicher Tätigkeit durch den Gebietsfremden in die USA argumentiert der EuGH wie folgt: Es spricht nichts für die Annahme, dass der Wohnsitzstaat allein aufgrund dieses Wegzugs nicht mehr in der Lage wäre, die Gesamteinkünfte sowie die persönliche Lage und den Familienstand des Betroffenen zu berücksichtigen. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Staat, in dem er vor seinem Wegzug berufstätig war, diese Lage einfacher beurteilen könnte als der Staat, in dem er nach seinem Wegzug wohnt. Anderes kann sich ergeben, wenn der Betroffene in dem Beschäftigungsstaat, den er im Lauf des Jahres verlassen hat, in diesem Jahr den wesentlichen Teil seiner Einkünfte und praktisch seine gesamten Familieneinkünfte erzielt hat, so dass dieser Staat am besten in der Lage wäre, ihm die Vorteile zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben. Um festzustellen, ob dies der Fall ist, müssen alle notwendigen Informationen vorliegen, die es ermöglichen, die Gesamtsteuerkraft des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der Quelle seiner Einkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands zu beurteilen. Damit eine solche Beurteilung insoweit hinreichend relevant ist, muss sich die zu berücksichtigende Lage auf das gesamte betreffende Steuerjahr beziehen.
Dies muss nach Auffassung des EuGH somit insbesondere für die Bestimmung des Teils der insgesamt erzielten Familieneinkünfte gelten, den die Einkünfte darstellen, die er im Beschäftigungsstaat erzielt hat, bevor er zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit in einen anderen Staat zog. Der EuGH nimmt hier Bezug auf Art. 2 Abs. 2 der Empfehlung 94/79, nach welcher die Mitgliedstaaten die Einkünfte gebietsfremder natürlicher Personen keiner höheren Steuerbelastung unterwerfen dürfen als die Einkünfte Gebietsansässiger, wenn die in dem Mitgliedstaat, in dem die natürliche Person nicht ansässig ist, zu versteuernden Einkünfte mindestens 75% des in einem Veranlagungszeitraum steuerpflichtigen Gesamteinkommens ausmachen (Empfehlung der Kommission vom 21.12.1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden, ABl EU Nr. L 039 v. 10.02.1994, S. 22). Der Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige im gesamten betreffenden Jahr nur einen Teil seiner steuerpflichtigen Einkünfte erzielt hat, ist nicht verpflichtet, ihm die Vorteile zu gewähren, die er Gebietsansässigen gewährt.
Dieses Ergebnis kann nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass der Betroffene seine Arbeitsstelle in einem Mitgliedstaat aufgegeben hat, um seine berufliche Tätigkeit nicht in einem anderen Mitgliedstaat, sondern in einem Drittstaat auszuüben.
C. Kontext der Entscheidung
I. Die Erwerbsbiographien von Arbeitnehmern werden immer vielfältiger. Dem muss auch das durch den Einfluss der europäischen Grundfreiheiten geprägte Steuerrecht Rechnung tragen. Ziel des europarechtlich geprägten Steuerrechts muss es sein, „die Steuerkraft“ des Steuerpflichtigen leistungsgerecht zu bemessen, wobei die an die Steuerkraft anknüpfenden „Steuervergünstigungen“ von dem Staat zugeteilt werden, in welchem der Steuerpflichtige „praktisch seine gesamten Familieneinkünfte bezieht“. Zielgröße ist die zutreffende Bemessung der „Gesamtsteuerkraft des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der Quelle seiner Einkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands“. Im Hinblick auf die an die Steuerkraft des betreffenden Steuerpflichtigen anknüpfende Steuervergünstigungen führt der bloße Umstand, dass ein Gebietsfremder im Beschäftigungsstaat unter denselben Bedingungen Einkünfte erzielt hat wie ein in diesem Staat Ansässiger, daher nicht dazu, dass seine Lage mit der des Gebietsansässigen objektiv vergleichbar wäre. Für die Feststellung einer solchen objektiven Vergleichbarkeit ist außerdem erforderlich, dass der Wohnmitgliedstaat nicht in der Lage ist, dem Gebietsfremden die Vorteile zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben, weil er den wesentlichen Teil seiner Einkünfte im Beschäftigungsmitgliedstaat bezieht.
II. Dies ist die Rechtslage seit der grundlegenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Schumacker“. Es sei daran erinnert: Die steuerliche Situation des belgischen Kaminbauers Roland Schumacker war die, dass er mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern immer in Belgien gewohnt hatte. Unter Beibehaltung seines Wohnsitzes übte er in Deutschland eine nichtselbstständige Beschäftigung aus. Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es in Anbetracht der objektiven Unterschiede zwischen der Situation der Gebietsansässigen und derjenigen der Gebietsfremden sowohl hinsichtlich der Einkunftsquelle als auch hinsichtlich der persönlichen Steuerkraft oder der persönlichen Lage und des Familienstands in der Regel nicht diskriminierend ist, wenn ein Mitgliedstaat Gebietsfremden bestimmte Steuervergünstigungen versagt, die er Gebietsansässigen gewährt (so jüngst auch EuGH, Urt. v. 24.02.2015 – C-559/13 – DStR 2015, 474 Rn. 26 „Grünewald“, zum Abzug von Versorgungsleistungen im Zusammenhang mit der Übertragung von Vermögen im Wege einer vorweggenommenen Erbfolge; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 27/2015 Anm. 4).
III. Der EuGH hat in seinem Urteil in der Rechtssache „Lakebrink und Peters-Lakebrink“ (Rn. 34) klargestellt, dass sich die im Urteil in der Rechtssache „Schumacker“ entwickelte Rechtsprechung auf alle steuerlichen Vergünstigungen im Zusammenhang mit der Steuerkraft des Gebietsfremden bezieht, die weder im Wohnmitgliedstaat noch im Beschäftigungsmitgliedstaat gewährt werden.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige im gesamten betreffenden Jahr nur einen Teil seiner steuerpflichtigen Einkünfte erzielt hat, ist nicht verpflichtet, ihm die Vorteile zu gewähren, die er Gebietsansässigen gewährt.