Nachfolgend ein Beitrag vom 6.6.2017 von Meßbacher-Hönsch, jurisPR-SteuerR 23/2017 Anm. 4

Leitsatz

Ein vom Erblasser nicht geltend gemachter Pflichtteilsanspruch gehört zum Nachlass und unterliegt beim Erben der Besteuerung aufgrund Erbanfalls. Auf die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs durch den Erben kommt es nicht an.

A. Problemstellung

Der BFH hatte darüber zu befinden, ob ein in der Person des Erblassers entstandener Pflichtteilsanspruch, der von diesem aber nicht geltend gemacht wurde, beim Ableben des Erblassers als zum Nachlass gehörender Anspruch unabhängig von der Geltendmachung durch den Erben zu besteuern ist. Entscheidend war insoweit, ob die zivilrechtliche Einordnung des Pflichtteilsanspruchs als schuldrechtlicher Anspruch oder die steuerrechtliche Besonderheit gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG (Besteuerung nur bei Geltendmachung) maßgebend ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Alleinerbe nach seinem im September 2008 verstorbenen Vater (E). E hatte mit seiner im April 2008 vorverstorbenen Ehefrau (EF) im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft gelebt und sein Erbe nach dem Tod der EF ausgeschlagen. Anfang 2009 machte der Kläger den infolge der Erbausschlagung entstandenen Pflichtteilsanspruch des E am Nachlass der EF i.H.v. 400.000 Euro gegenüber dem Verpflichteten geltend.
Das Finanzamt setzte gegen den Kläger Erbschaftsteuer für den Erbanfall auf den Todeszeitpunkt fest, ohne zunächst den geerbten Pflichtteilsanspruch zu berücksichtigen. In der Einspruchsentscheidung rechnete es – nach einem Verböserungshinweis – den vom Kläger geltend gemachten Pflichtteilsanspruch dem erbschaftsteuerrechtlichen Erwerb hinzu. Das Finanzgericht hatte die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Pflichtteilsanspruch des E sei Bestandteil des auf den Kläger übergegangenen Nachlasses. Der Kläger unterliege der Erbschaftsteuer allein wegen des Erwerbs durch Erbanfall (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG; FG München, Urt. v. 03.04.2013 – 4 K 1973/10 – EFG 2013, 1154).
Der BFH folgte der Auffassung des Finanzgerichts. Ein vom Erblasser nicht geltend gemachter Pflichtteilsanspruch gehört zu dessen Nachlass und unterliegt daher beim Ableben des Erblassers mit dem Erbanfall der Erbschaftsteuer. Ein zivilrechtlich bereits entstandener Pflichtteilsanspruch ist nach § 2317 Abs. 2 BGB vererblich und übertragbar. Der geerbte (derivative) Pflichtteilsanspruch ist Teil des Nachlasses, der auf den Erben nach § 1922 BGB übergeht. Der Erbe des Pflichtteilsberechtigten kann den durch Erbanfall erworbenen Pflichtteilsanspruch geltend machen, selbst wenn der verstorbene Pflichtteilsberechtigte dies persönlich zu Lebzeiten unterlassen hatte.
Die erbschaftsteuerrechtliche Besonderheit nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG, wonach der Erwerb des Pflichtteilsanspruchs nur bei dessen Geltendmachung durch den Pflichtteilsberechtigten der Erbschaftsteuer unterliegt, gilt nicht für den Erwerb eines Pflichtteilsanspruchs durch Erbanfall (derivativer Erwerb). Für diesen Erwerb entsteht die Steuer nach den §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 i.V.m. 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG bereits mit dem Tode des Pflichtteilsberechtigten, ohne dass es auf die Geltendmachung des Anspruchs durch dessen Erben ankommt.
Es besteht nicht die Gefahr einer doppelten Besteuerung „eines“ Pflichtteilsanspruchs. Der originär nach den §§ 2303 ff. BGB in der Person des Pflichtteilsberechtigten entstandene und von diesem geltend gemachte Pflichtteilsanspruch wird nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG besteuert, während sich die Besteuerung eines nach den §§ 1922, 2303 ff. BGB ererbten (derivativen), durch den verstorbenen Pflichtteilsberechtigten nicht geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs beim Erben nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG richtet. Macht der Erbe des Pflichtteilsberechtigten den Pflichtteilsanspruch später geltend, so entsteht dafür keine Erbschaftsteuer. Es kommt somit nicht zu einer doppelten Besteuerung des Erwerbs des Pflichtteilsanspruchs. Die Geltendmachung führt lediglich dazu, dass der Verpflichtete den Pflichtteil gemäß § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG als Nachlassverbindlichkeit abziehen kann.

C. Kontext der Entscheidung

Maßgebend für die Bestimmung, welche Vermögensgegenstände am Stichtag dem Vermögen des Erblassers zuzuordnen sind und als Nachlassvermögen auf den oder die Erben im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergehen, ist allein das Zivilrecht. Eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ist insoweit ausgeschlossen. Dies folgt bereits aus der ausdrücklichen Verweisung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG auf § 1922 BGB (vgl. BFH, Urt. v. 15.10.1997 – II R 68/95 – BStBl II 1997, 820; BFH, Beschl. v. 23.01.1991 – II B 46/90 – BStBl II 1991, 310).
Der Pflichtteilsanspruch ist ein Geldanspruch (BGH, Urt. v. 01.10.1958 – V ZR 53/58 – NJW 1958, 1964). Er entsteht nach § 2317 Abs. 1 BGB bereits mit dem Erbanfall als Vollrecht und gehört von da an zivilrechtlich zum Vermögen des Pflichtteilsberechtigten (vgl. BGH, Urt. v. 08.07.1993 – IX ZR 116/92 – BGHZ 123, 183), unabhängig davon, ob er gegen den oder die Erben geltend gemacht wird (vgl. Hülsmann in: Wilms/Jochum, ErbStG, § 3 Rn. 147).

D. Auswirkungen für die Praxis

Derivativ erworbene Pflichtteilsansprüche des Erben und originär erworbene Pflichtteilsansprüche des Pflichtteilsberechtigten werden erbschaftsteuerrechtlich unterschiedlich behandelt.
Gehört zum Vermögen des Erblassers ein Pflichtteilsanspruch, erwirbt der Erbe mit dem Ableben des Erblassers den gesamten Nachlass einschließlich des Pflichtteilsanspruchs. Es liegt nur „ein“ zu besteuernder Erwerb vor. Die Erbschaftsteuer entsteht mit dem Tode des Erblassers. Der Erbe kann die Besteuerung – anders als der originär Pflichtteilsberechtigte – nicht auf den Zeitpunkt der Geltendmachung hinausschieben. Eine getrennte Besteuerung des Nachlasses ohne Pflichtteilsanspruch einerseits und des Pflichtteilsanspruchs andererseits ist nicht möglich.
Demgegenüber gilt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG ein (originärer) Pflichtteilsanspruch erst dann als Erwerb von Todes wegen, wenn er (vom Pflichtteilsberechtigten) geltend gemacht wird. Die Steuer entsteht mit dem Zeitpunkt der Geltendmachung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG). Dem bloßen zivilrechtlichen Entstehen des Anspruchs auf einen Pflichtteil mit dem Erbfall (§ 2317 Abs. 1 BGB) kommt erbschaftsteuerrechtlich nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 ErbStG keine Bedeutung zu. Damit weicht das Erbschaftsteuerrecht vom Zivilrecht (Anfallprinzip) ab. Dieses zeitliche Hinausschieben der erbschaftsteuerrechtlichen Folgen eines Pflichtteilsanspruchs ist im Interesse des Berechtigten geschehen und soll ausschließen, dass bei ihm auch dann Erbschaftsteuer anfällt, wenn er seinen Anspruch zunächst oder dauerhaft nicht erhebt.