Nachfolgend ein Beitrag vom 27.1.2017 von Albrecht, jurisPR-ITR 2/2017 Anm. 2

Leitsätze

1. Bereits die präventiv polizeiliche Videobeobachtung bestimmter Örtlichkeiten in Form des sog. Kamera Monitor Prinzips greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein.
2. Die Vorschrift zur Datenerhebung im öffentlichen Raum durch Videobeobachtung in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch die reine Beobachtung durch Bildübertragung nur zulässig ist, wenn zugleich die Voraussetzungen für die Bildaufzeichnung nach § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG erfüllt sind.
3. Die Videoüberwachung im Bereich der Polizeidirektion Hannover ist nur zum Teil durch die Ermächtigung in § 32 Abs. 3 Nds. SOG gedeckt.
4. Die Voraussetzungen für die Aufzeichnung übertragener Bilder nach § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Nds. SOG sind erfüllt, wenn die beobachteten Orte eine besondere Symbolträchtigkeit im Fall eines terroristischen Anschlags aufweisen und eine durch konkrete Anschlagsversuche und -pläne sowie tatsächliche Anschläge dokumentierte aktuelle Bedrohungslage in Deutschland und den angrenzenden Nachbarstaaten zu verzeichnen ist.

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Ordnungsgemäß erstellte Kriminalstatistiken der Polizei können Tatsachen darstellen, die die Annahme rechtfertigen, dass an bestimmten Orten oder in deren unmittelbarer Umgebung künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung oder Straftaten nach § 224 StGB begangen werden (§ 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Nds. SOG).
2. Allgemeine Lageerkenntnisse der Sicherheitsbehörden über eine terroristische Bedrohungssituation können tatsächliche Anhaltspunkte darstellen, die die Annahme rechtfertigen, dass an oder in bestimmten Objekten terroristische Straftaten begangen werden sollen (§ 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Nds. SOG).

A. Problemstellung

Vor dem Hintergrund einer zunehmend der Kontrolle der Sicherheitsbehörden entzogenen Kriminalitätsentwicklung sowie der mittels einer weitgehend unkontrollierten Zuwanderung gesteigerten Terrorismusgefahr (vgl. Fleischhauer, Sicherheit in Deutschland – Failed State NRW, Spiegel Online v. 09.01.2017, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschland-und-die-terrorabwehr-failed-state-nrw-kolumne-von-jan-fleischhauer-a-1129138.html, zuletzt abgerufen am 24.01.2017) wird eine Ausweitung der Befugnisse zur Videoüberwachung gefordert (vgl. etwa den Entwurf der Bundesregierung für ein Videoüberwachungsverbesserungsgesetz vom 13.12.2016). Anstelle der die Gefahren verursachenden Verhaltensstörer wird der sich überwiegend rechtstreu verhaltenden Bevölkerung in Verkennung der Grundsätze der polizeirechtlichen Bestimmungen über die (Störer-)Verantwortlichkeit ein weitreichendes Sonderopfer abverlangt. Dies wirft verfassungsrechtliche Zweifel auf.
Die Rechtsprechung ist indes bereits hinsichtlich der Grundlagen der bestehenden Bestimmungen über die Videobeobachtung öffentlicher Räume um Schadensbegrenzung bemüht; etwa dann, wenn zu extensive Ermächtigungsgrundlagen im Wege der Gesetzesinterpretation (vgl. Besprechungsurteil Rn. 47) in verfassungskonforme Bahnen gelenkt werden (müssen).

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger, der sich bereits mit Erfolg gegen die verdeckte Überwachung öffentlicher Orte gewandt hatte (VG Hannover, Urt. v. 14.07.2011 – 10 A 5452/10 m. Anm. Seidl/Maisch, jurisPR-ITR 24/2011 Anm. 4), wendet sich gegen die nunmehr offene Videoüberwachung im öffentlichen Raum Hannover. Er macht insoweit die Verletzung von Grundrechten mittels einer ausufernden Überwachungspraxis sowie die Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen Bestimmung des § 32 Abs. 3 Nds. SOG geltend. Die Beklagte beruft sich dementgegen auf eine verfassungskonforme Gesetzesinterpretation sowie das Vorliegen der materiellen Überwachungsvoraussetzungen.
Das VG Hannover gibt dem Kläger in Teilen Recht, soweit sich seine Klage gegen Überwachungsmaßnahmen richtet, die nicht durch § 32 Abs. 3 Nds. SOG gedeckt sind. In diesem Zusammenhang wendet es die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG (Aufzeichnen) im Wege der verfassungskonformen Auslegung auch auf § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG (Beobachten) an (vgl. Roggenkamp/Albrecht in: Möstl/Weiner, BeckOK-Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, 3. Edition, Stand: 01.09.2016, § 32 Rn. 16.1).

C. Kontext der Entscheidung

Das Verwaltungsgericht hatte sich insbesondere mit der Frage zu befassen, wann „Tatsachen“ bzw. „tatsächliche Feststellungen“ i.S.v. § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG vorliegen, die dann zur Durchführung der Videoüberwachung öffentlicher Orte berechtigen. Das Verwaltungsgericht übersieht in diesem Zusammenhang, dass die Regelung des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG nach der Entscheidung des BVerfG zum BKAG verfassungswidrig ist, weil sie eine Prognoseentscheidung voraussetzt, für die keine hinreichend bestimmten Kriterien festgelegt sind (vgl. BVerfG, Urt. v. 20.04.2016 – 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09 Rn. 165). Der Gesetzgeber wird mithin gut beraten sein, anlässlich künftiger Reformvorhaben diejenigen „Tatsachen“ bzw. „tatsächlichen Feststellungen“ genauer zu benennen und damit den ausufernden Anwendungsbereich der Norm zu begrenzen (vgl. Albrecht, jurisPR-ITR 16/2016 Anm. 2).

D. Auswirkungen für die Praxis

In der Praxis ist insbesondere zu beachten, dass die Durchführung der Videoüberwachung regelmäßig auf ihre Wirkung hin untersucht werden muss. Die Gesetzeslage führt zu dem überraschenden Ergebnis, dass eine wirksame Videoüberwachung aufgegeben werden muss (vgl. Besprechungsurteil Rn. 81), weil durch sie die bestehende Gefährdungslage beseitigt wird. Eine wirkungslose Videoüberwachung kann hingegen bestehen bleiben, etwa dann, wenn eine Abnahme der festgestellten Straftaten nicht erreicht wird.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Das Verwaltungsgericht stellt fest, dass es sich bei der Durchführung der Videoüberwachung um einen Realakt handelt, der im Wege der allgemeinen Unterlassungsklage (= Leistungsklage) angegriffen werden kann. Diesem Realakt geht keine Entscheidung über die Durchführung der Videoüberwachung voraus, die ihrerseits als Verwaltungsakt qualifiziert werden könnte (wohl a.A. Wagner, Bundespolizeirecht, 3. Aufl. 2016, S. 32).