Nachfolgend ein Beitrag vom 24.11.2015 von Podewils, jurisPR-FamR 24/2015 Anm. 5
Orientierungssätze

1. Die Beweislast bzw. die Feststellungslast für die Behauptung mangelnder Lesefähigkeit des Erblassers trägt grundsätzlich derjenige, der sich auf diesen Einwand beruft.
2. Die Vermutung des Gesetzes vom Lesevermögen eines Volljährigen baut erkennbar auf dem Bestehen allgemeiner Schulpflicht und auf Erfahrungswerten auf. Sie kann deshalb schwerlich eingreifen, wenn feststeht, dass der Erblasser die Fähigkeit zu lesen bis weit ins Erwachsenenalter hinein nicht erworben hat.
3. Für eine solche Ausgangssituation ist es gerechtfertigt, die Beweis- bzw. Feststellungslast umzukehren und demjenigen aufzubürden, der sich auf die sehr spät angeblich doch noch erlangte und bei Errichtung eines gemeinschaftlichen, vom Erblasser lediglich mitunterzeichneten Testaments bestehende Lesefähigkeit beruft.

A. Problemstellung
Grundsätzlich hat der Erblasser gemäß § 2231 BGB die Wahl zwischen der Errichtung eines öffentlichen Testaments durch notarielle Beurkundung oder aber der Errichtung eines eigenhändigen Testaments. Wer Geschriebenes nicht zu lesen vermag, kann freilich kein wirksames privatschriftliches Testament errichten, § 2247 Abs. 4 BGB.
Zur Verteilung der Darlegungs- und Beweisleist hat sich unlängst das OLG Dresden geäußert.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Erblasser hatte zusammen mit seiner Ehefrau ein privatschriftliches Testament errichtet, in dem diese sich wechselseitig zu ihren alleinigen Erben einsetzten. Dieses Testament hatte die Ehefrau geschrieben und es war von ihr und dem Erblasser unterzeichnet. Auf Grundlage dieses Testaments erteilte das Nachlassgericht der Ehefrau einen Erbschein, der sie als Alleinerbin auswies.
Anschließend regten die beiden Kinder des Erblassers aus erster Ehe aber die Einziehung des Erbscheins an, da ihr Vater Analphabet gewesen sei und daher ein privatschriftliches Testament nicht wirksam habe errichten können. Das Nachlassgericht lehnte dieses Ansinnen ab. Nunmehr beantragte eines der beiden Kinder Verfahrenskostenhilfe für eine gegen die Entscheidung des Nachlassgerichts beabsichtigte Beschwerde.
Das OLG Dresden bewilligte die Verfahrenskostenhilfe, da die prospektive Beschwerde hinreichende bzw. sogar weit überwiegende Aussicht auf Erfolg habe.
Zwar spreche der erste Anschein dafür, dass derjenige, der ein Testament eigenhändig verfasst, auch in der Lage sei, das von ihm Geschriebene zu lesen. Vorliegend hatte der Erblasser das Testament aber lediglich mitunterzeichnet. Zudem war unstreitig, dass der Erblasser bis zu seinem Lebensende nicht schreiben und jedenfalls bis wenige Jahre vor seinem Tod auch nicht lesen konnte. Seine Schullaufbahn hatte nämlich bereits mit der 4. Klasse der Sonderschule ihr Ende gefunden.
Im Erbscheinsverfahren hatte die Ehefrau behauptet, sie habe ihrem Ehemann durch eine Stunde Üben pro Woche innerhalb von zwölf bis 18 Monaten das Lesen beigebracht. Diese Darstellung hielt das Gericht erkennbar für unglaubwürdig. Das Nachlassgericht hätte sich näher damit auseinandersetzen müssen, wie wahrscheinlich es denn sei, dass ein gut 50-jähriger Mann mit eher bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten auf diese Weise noch das Lesen erlernen könne. Hinzu kam, dass die Ehefrau ihre Angaben nicht durch objektive Anhaltspunkte zu belegen vermochte. Offensichtlich wusste nämlich auch niemand im näheren Umfeld des Erblassers von dessen spät erlangter Lesefähigkeit. Wie das OLG Dresden süffisant bemerkte, sei es doch bemerkenswert, wenn der Erblasser den – unterstellten – späten Erfolg seiner Lesebemühungen selbst vor seinen nächsten Angehörigen geheim gehalten hätte.
Vor diesem Hintergrund sei grundsätzlich davon auszugehen, dass die Beweislast für die angeblich doch noch erlangte Lesefähigkeit des Erblassers bei seiner Ehefrau als der durch das Testament begünstigten Person liege. Selbst wenn aber der Beschwerdeführer das Fehlen der Lesefähigkeit zu beweisen hätte, sei nach den Umständen trotzdem ein Obsiegen wahrscheinlich.

C. Kontext der Entscheidung
Ob die von § 2247 Abs. 3 BGB geforderte Lesefähigkeit gegeben ist, wird in der Praxis vor allem mit Blick auf Erblasser virulent, die im Laufe der Zeit ihr Sehvermögen eingebüßt haben. Da Schreiben ein geringeres Maß an Sehkraft voraussetzt als Lesen, kann es durchaus vorkommen, dass einem Erblasser die nötige Lesefähigkeit fehlte, auch wenn er den Testamentstext selbst geschrieben hat.
Hat ein Erblasser sein Testament eigenhändig geschrieben, ohne dass seine Lesefähigkeit zu diesem Zeitpunkt feststünde bzw. durch Beweiserhebung geklärt werden könnte, ist für den Regelfall von der Lesefähigkeit auszugehen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.02.2000 – 7 U 23/96; Hagena in: MünchKomm BGB, 6. Aufl. 2013, § 2247 Rn. 51). Wer sich auf die mangelnde Lesefähigkeit beruft, ist hierfür beweispflichtig (BayObLG, Beschl. v. 27.03.1985 – BReg 1 Z 6/85 – Rpfleger 1985, 239; Bauermeister in: jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 2247 Rn. 15).

D. Auswirkungen für die Praxis
Der hier zugrunde liegende Sachverhalt mag etwas kurios anmuten. Bedenkt man, dass Analphabetismus tendenziell zunimmt, dürfte es durchaus vergleichbare Fälle geben.
Auch nach der Entscheidung des OLG Dresden kann in der Praxis weiterhin im Regelfall unterstellt werden, dass ein Erblasser, der ein Testament eigenhändig verfasst, auch lesen kann. Dies gilt auch dann, wenn der Erblasser lediglich ein von seinem Ehegatten geschriebenes Testament mitunterzeichnet.
Dem OLG Dresden kann nicht entnommen werden, dass die Vermutung der Lesefähigkeit des Erblassers nur bei einem komplett selbst geschriebenen Testament eingreifen soll. Der Sache nach handelt es sich um eine aus der allgemeinen Lebenserfahrung abgeleitete tatsächliche Vermutung bzw. den Beweis des ersten Anscheins (hierzu Prütting in: MünchKomm ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286 Rn. 48 ff.).
Zugrunde liegt die Annahme, dass normalerweise jeder in der Schule Lesen und Schreiben erlernt hat. Wenn im Einzelfall die Basis für diese Annahme erschüttert oder sogar widerlegt ist, greift der Anscheinsbeweis nicht. Dies wird namentlich der Fall sein bei frühzeitig erfolglos beendeten Schulkarrieren, ist aber auch denkbar bei Zuzug aus einem anderen Land mit anderen Verhältnissen.
In allen Konstellationen des § 2247 Abs. 4 BGB, also namentlich auch bei stark herabgesetzter Sehkraft, kann es auch Grenzfälle geben, in denen zumindest im Nachhinein diskutiert werden kann, ob bei Testamentserrichtung die erforderliche Lesefähigkeit bestanden hat oder nicht.
Da die Formvorschriften des § 2247 Abs. 4 BGB nicht aus Billigkeitsgründen aufgeweicht werden können (Bauermeister in: jurisPK-BGB, 7. Aufl., 2014, § 2247 Rn. 16), empfiehlt sich dann sicherheitshalber die Errichtung eines notariellen Testaments.