Der Fakten-Check zu einer modernen Legende: Korrigieren Sie Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit
Prof. Dr. Matthias Kilian, Köln
Der Autor ist Direktor des Soldan Instituts. Er lehrt und forscht an der Universität zu Köln.
Im Mai-Heft hat das Soldan Institut an dieser Stelle einen ersten „Urban Legend“-Check vorgenommen (AnwBl 2015, 398) und nachgewiesen, dass der gerne kolportierte Befund, Rechtsanwälte seien die formal schlechter qualifizierten Juristen, die Anwaltschaft daher das Sammelbecken (bestenfalls) mittelmäßiger Juristen, ein moderner Mythos ist. Im Nachfolgenden wird eine weitere immer wieder anzutreffende Feststellung einem evidenz-basierten Realitätscheck unterzogen zu werden: Werden viele Rechtsanwälte, wie gerne behauptet wird, unfreiwillig Rechtsanwalt, weil sie ihr primäres Berufsziel nicht erreicht haben? Der Beitrag widerlegt auch diese „urban legend“.
I. Einleitung
Eine Kolportage, die wohl jeder Jurist kennt, ist, dass viele Absolventen der volljuristischen Ausbildung unfreiwillig Rechtsanwalt werden – sie ihren Beruf also nur ergreifen, weil sich ihnen mit ihrer Berufsqualifikation keine bessere Beschäftigungsmöglichkeit eröffnet. Sie werden gerne als sog. „Muss“-Anwälte bezeichnet, was wohl zum Ausdruck bringen soll, dass sie den Anwaltsberuf nicht mit Lust, sondern mit Frust, begründet durch fehlende, an sich von ihnen bevorzugte Alternativen ergreifen. Ein solches „Frustpotenzial“ ist theoretisch vorhanden, ist doch der Anwaltsberuf der einzige der klassischen juristischen Berufe, der unbegrenzt aufnahmefähig ist – wer den Staat nicht von einer Beschäftigung seiner Person als Richter, Staatsanwalt, Verwaltungsjurist oder Notar überzeugen kann oder keine Anstellung in einer Kanzlei, bei einem Unternehmen oder Verband findet, kann „zumindest“ Rechtsanwalt in eigener Kanzlei werden.
Die auf dieser Ausgangslage fußende Annahme, dass eine erhebliche Anzahl von Rechtsanwälten eigentlich im Stillen von einer Berufstätigkeit außerhalb der Anwaltschaft träumt, dürfte darauf beruhen, dass alternative volljuristische Berufe häufig bestimmte Anforderungen an die Formalqualifikation in Form eines bestimmten Notenschnitts stellen, die bereits rein statistisch nur eine Minderheit der Absolventen erreicht. Haben wir es daher mit einer Rechtsanwaltschaft zu tun, die in erheblichem Umfang den Anwaltsberuf nolens volens ergriffen hat, weil sich etwas „Besseres“ nicht ergeben hat?
II. Berufspräferenzen junger Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte
Eine Überprüfung dieser gerne aufgestellten Behauptung auf ihren Realitätsbezug ist aufgrund einer Befragung der zwischen 2004 und 2010 zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die zur Gruppe der Berufseinsteiger zu zählen sind, möglich. Sie wurden im Rahmen einer ausführlichen Studie mit der „jungen Anwaltschaft“ gefragt, welche berufliche Position für sie gegen Ende ihrer juristischen Ausbildung die höchste Priorität hatte.
1. Gesamtbefund
Das Ergebnis belegt, dass der Anwaltsberuf für eine deutliche Mehrheit der jungen Rechtsanwälte tatsächlich ihr „Wunschberuf“ ist.
Der Ausgangsbefund ist, dass 67 Prozent der Befragten am Ende ihrer Ausbildung den Beruf des Rechtsanwaltes favorisierten. Die Tätigkeit im Justizdienst als Richter oder Staatsanwalt zogen 13 Prozent der jungen Anwälte vor, 9 Prozent strebten eine Tätigkeit als Unternehmensjurist an. 5 Prozent der befragten jungen Anwälte wollten am Ende ihrer juristischen Ausbildung in den Verwaltungsdienst eintreten. Auch eine Tätigkeit als Verbandsjurist (2 Prozent), im Management (1 Prozent) oder als Notar (0,5 Prozent) wurde als ursprüngliche Berufspräferenz genannt. Im untersuchten Zeitraum (Jahre 2004 bis 2010) ergaben sich hierbei innerhalb der sieben Zulassungsjahrgänge keine signifikanten Veränderungen der Berufspräferenzen, so dass der Befund keine Momentaufnahme ist.
Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die verbleibenden 33 Prozent der jungen Rechtsanwälte sämtlich unfreiwillig Rechtsanwalt geworden sind: 23 Prozent der zwischen 2004 und 2010 zugelassenen Rechtsanwälte, deren ursprüngliche Berufspräferenz außerhalb der Anwaltschaft lag, hat diesen anderweitigen Berufswunsch durchaus verwirklicht und den Wunschberuf zunächst ausgeübt, bevor ein Wechsel in die Anwaltschaft erfolgte. Weitere vier Prozent bemühen sich noch um einen Wechsel in den Wunschberuf, ein Teil von ihnen wird also nicht dauerhaft in der Anwaltschaft verbleiben.
Zudem wurde einer weiteren, kleineren Teilgruppe der jungen Rechtsanwälte, die angeben, dass der unmittelbar ergriffene Anwaltsberuf nicht ihr ursprünglicher Traumberuf war, der Zugang zu diesem Traumberuf keineswegs „gegen ihren Willen“ vorenthalten: Sie erklären die Tatsache, das ursprünglich abweichende primäre Berufsziel nach Abschluss der volljuristischen Ausbildung nicht weiter verfolgt zu haben,
Abb. 1: Berufspräferenz am Ende der juristischen Ausbildung
Abb. 2: Realisierung der primären Berufspräferenz der Befragten, deren Berufsziel nicht Rechtsanwalt war
mit einem attraktiveren Angebot, Rechtsanwalt zu werden – oder einer offenbar eher theoretischen Liebe zum Wunschberuf, die bei näherer Betrachtung von dessen Arbeitsbedingungen oder Einkommensmöglichkeiten abgekühlt war und zu der Entscheidung führte, Rechtsanwalt zu werden.
Notar* | Justizdienst | Managementposition in der Wirtschaft* | Verwaltungsjurist | |
Examensnoten | 39% | 74% | 12% | 51% |
geringes Stellenangebot | 39% | 22% | 18% | 35% |
attraktives Stellenangebot ohne Bewerbung | 8% | 9% | 41% | 19% |
Arbeitsbedingungen (Gehalt, Arbeitszeiten etc.) | 0% | 5% | 0% | 7% |
sonstige Gründe | 31% | 8% | 35% | 12% |
Tab. 1: Grund für Verzicht auf Bewerbung Wunschposition
Der Ausgangswert von 33 Prozent Rechtsanwälten, deren primäres Berufsziel nicht der Anwaltsberuf war, ist daher um mindestens noch einmal zehn Prozentpunkte zu bereinigen, da von diesen Rechtsanwälten eine erhebliche Zahl unter eigenbestimmter Aufgabe des ursprünglichen Berufsziels unmittelbar nach Abschluss der Ausbildung oder nach einer kurzzeitigen Tätigkeit im ursprünglichen Wunschberuf bewusst Rechtsanwalt geworden ist.
Das gerne gezeichnete Bild eines Berufsstands, der überwiegend aus „Muss-Anwälten“ besteht, die keine beruflichen Alternativen haben, hat daher mit der Realität wenig zu tun. Eine große Mehrheit der jungen Rechtsanwälte ergreift den Anwaltsberuf aus Überzeugung. Für sie ist die Anwaltstätigkeit Wunschtätigkeit und die Zulassung als Rechtsanwalt keineswegs „der letzte Ausweg“: Auf welcher Erkenntnisgrundlage daher häufig unterschwellig der Eindruck erweckt wird, gleichsam jeder Student der Rechtswissenschaften strebe primär eine Tätigkeit als Richter, Beamter oder Notar an, bleibt unerfindlich.
Diskutieren lässt sich allenfalls darüber, ob ein verbleibender Anteil von vielleicht 20 Prozent Rechtsanwälten, die einmal von einer Berufstätigkeit in einem anderen juristischen Beruf „träumten“, ein „hoher“ oder „niedriger“ Wert ist – hierüber kann man naturgemäß geteilter Meinung sein. Hier wird man keine irrealen Erwartungen haben dürfen: Würde man Ärzte in spe befragen, in welchem Bereich sie später medizinisch tätig sein wollen, würden sich vermutlich viele Befragte an der Kinderheilkunde oder Herzchirurgie interessiert zeigen, hingegen eher wenige an der Proktologie oder Dermatologie. Studenten der Wirtschaftswissenschaften könnten sich, so steht zu vermuten, eher eine Berufstätigkeit im „Marketing“ oder in der Unternehmensführung vorstellen, während Leidenschaften für das Controlling seltener anzutreffen sein dürften. Dies bedeutet nicht, dass aus der Nicht-Realisierung dieser primären Berufspräferenzen zwangsläufig ein frustrierter Berufsträger wird (ebenso wenig wie eine Realisierung des Wunschberufs vor Frustrationen in diesem schützt, wenn er sich in der Realität etwas anders darstellt als in der Vorstellungswelt eines Berufsträgers in spe).
2. Langzeitbetrachtung
Der (unbereinigte) Wert von mehr als zwei Drittel Rechtsanwälten, die ohne Zwischenschritte in ihrem Wunschberuf angekommen sind, ist aus einem weiteren Grund beachtlich: Ein Vergleich mit früheren inhaltsähnlichen Studien zeigt eine deutliche Verschiebung der Berufspräferenzen: Die Zulassungsjahrgänge 1990 bis 1996 gaben nur zu 47 Prozent die Tätigkeit als Rechtsanwalt als oberste Berufspräferenz an. Auch in den 1980er Jahren war der Anwaltsberuf bei Berufseinsteigern nicht so beliebt wie in der Gegenwart: In den Jahren 1980 bis 1985 zugelassene Rechtsanwälte gaben zu 52 Prozent an, dass Rechtsanwalt ihr primäres Berufsziel
Abb. 3: Berufspräferenz am Ende der juristischen Ausbildung nach Zulassungsjahrgängen (1980–1985) / (1990–1996) / (2004–2010)
war. Die Attraktivität des Anwaltsberufs hat somit in den letzten 15 Jahren wieder deutlich zugenommen und hat den höchsten jemals gemessenen Wert erreicht.
Eine Tätigkeit in der Justiz hat als Berufspräferenz am Ende der juristischen Ausbildung hingegen deutlich abgenommen: In den Jahren 1990 bis 1996 bevorzugten mit 21 Prozent deutlich mehr der späteren Rechtsanwälte eine Karriere als Richter oder Staatsanwalt. Auch in den 1980er Jahren wurde eine Tätigkeit in der Justiz mit 15 Prozent seltener genannt. In der Häufigkeit relativ gleich geblieben ist der Wunsch, Unternehmensjurist zu werden: Rechtsanwälte aus den Zulassungsjahrgängen 1980 bis 1985 äußerten ihn zu 11 Prozent, Berufskollegen aus den Zulassungsjahrgängen 1990 bis 1996 zu 7 Prozent. Der Vergleichswert für die Rechtsanwaltsgeneration der Zulassungsjahrgänge 2004 bis 2010 beträgt 9 Prozent. Ähnlich stabil sind die Werte für das Wunschziel Verwaltungsjurist (5 Prozent, 6 Prozent, 5 Prozent).
3. Resümee
Junge Rechtsanwälte der Gegenwart werden ganz überwiegend Rechtsanwalt, weil sie Rechtsanwalt werden möchten und nicht, weil sie mangels besserer Alternativen Rechtsanwalt werden müssen. Der Anteil der Rechtsanwälte, die lieber einen anderen juristischen Beruf als den Anwaltsberuf ergriffen hätten, ist in der aktuellen Generation junger Rechtsanwälte so niedrig wie nie zuvor. Dies ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Frauenanteil in der Anwaltschaft kontinuierlich zunimmt und Juristinnen traditionell ein größeres Interesse an einer Tätigkeit in der Verwaltung oder Justiz haben als Juristen, besonders bemerkenswert. Hinzu kommt, dass ein abweichendes primäres Berufsziel nicht zwangsläufig bedeutet, dass der Anwaltsberuf mit einer ablehnenden Grundeinstellung oder mit Widerwillen ergriffen worden ist: Er war lediglich nicht das primäre Berufsziel, sondern möglicherweise, wie häufig in Lebenssituationen, ein Kompromiss zwischen dem Gewünschten und dem Möglichen. Schließlich hat rund ein Viertel der Rechtsanwälte, die von einem abweichenden primären Berufsziel berichten, dieses zunächst verwirklicht und den Anwaltsberuf erst nach Erfahrungen in diesem Wunschberuf alternativ oder kumulativ ergriffen.