Nachfolgend ein Beitrag vom 26.4.2016 von Real, jurisPR-HaGesR 4/2016 Anm. 5

Leitsätze

1. Ein verdeckter Mangel i.S.d. § 377 Abs. 3 HGB liegt auch dann vor, wenn – obwohl geboten – keine Stichproben der gelieferten Waren genommen wurden, aber auch bei der Entnahme einer Stichprobe der Mangel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht entdeckt worden wäre.
2. Die Mängelrüge nach § 377 Abs. 1 und Abs. 3 HGB bedarf keiner bestimmten Form. Soweit § 12 Ziff. 2 der Tegernseer Gebräuche eine schriftliche Mängelrüge fordert, liegt darin eine zulässige Verschärfung der Anforderungen an die Wirksamkeit der Mängelrüge im Interesse der Sicherheit und Klarheit im kaufmännischen Verkehr.

A. Problemstellung

„Niemals“, so steht es in Art. 264 des Entwurfs eines Handelsgesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1857, und damit in den Motiven zur Vorgängervorschrift des § 377 HGB, unterlässt es ein ordentlicher Kaufmann, „die ihm gelieferte Ware sofort zu untersuchen, um sich von der vertragsmäßigen Beschaffenheit derselben zu überzeugen, und […] von den vorgefundenen Mängeln ebenso ungesäumt dem Verkäufer Nachricht [zu] geben“. Was sich bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts wie ein handelsrechtlicher Allgemeinplatz anhört, bietet bis heute Raum für zahlreiche rechtliche Abgrenzungsfragen und führt – wie die Besprechungsentscheidung zeigt – für den Käufer bei verspäteter und/oder unzulänglicher Untersuchung und Rüge zu empfindlichen Konsequenzen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das OLG München musste sich mit einem Handelskauf von rund 950 Multiplex-Verlegeplatten beschäftigen. Die Platten waren am 25.07.2011 direkt von dem Verkäufer an den Endkunden des Käufers, in dessen Räumen sie auch verlegt werden sollten, geliefert worden. Mit Schreiben vom 16.08.2011 beanstandete der Käufer erstmals, die Verlegeplatten seien teilweise nicht oberflächengleich, würden beim Begehen sofort Fußabdrücke erkennen lassen und wiesen zudem zu große Toleranzen von Nut und Feder auf. Das Vorhandensein dieser – sicherlich erheblichen – Mängel bleibt laut Tatbestand zwischen den Kaufvertragsparteien im Wesentlichen unstreitig. Der Käufer macht allerdings geltend, dass die Mängel nicht durch bloße Inaugenscheinnahme bei der Anlieferung hätten erkannt werden können, sondern erst bei einer der Mängelrüge vom 16.08.2011 unmittelbar vorausgehenden Probeverlegung offenbar wurden. Dennoch wird der Käufer durch den Verkäufer – ohne dass das Oberlandesgericht zu der Frage, ob die streitgegenständlichen Mängel nun offene oder verdeckte gewesen sind, Beweis erhoben hätte – erfolgreich auf Zahlung des kompletten Kaufpreises in Anspruch genommen.
Nach Auffassung des OLG München steht dem Verkäufer der volle Zahlungsanspruch zu. Dieser sei auch nicht durch Aufrechnung erloschen, da dem Käufer dagegen kein aufrechenbarer Schadensersatzanspruch wegen Lieferung mangelhafter Multiplexplatten zusteht. Da die Platten bereits am 20.07.2011 und am 25.07.2011 geliefert wurden, fehle es an einer unverzüglichen Rüge i.S.d. § 377 Abs. 1 HGB. Daher gelten die Platten mangels rechtzeitiger Rüge nach § 377 Abs. 2 HGB als genehmigt. Die Farbabweichungen stellten keinen verdeckten Mangel i.S.d. § 377 Abs. 3 HGB dar, sondern seien bei ordnungsgemäßer Untersuchung erkennbar gewesen. Dem Käufer sei auch eine probeweise Verlegung von mehreren, stichprobeweise gezogenen Multiplexplatten unmittelbar nach der Anlieferung zumutbar gewesen. Zudem sei die Mängelrüge nach § 12 Nr. 2 der Tegernseer Gebräuche verfristet.

C. Kontext der Entscheidung

Man kann eine gewisse Empathie für den Käufer des Besprechungsfalls aufbringen. Wie im Alltagsgeschäft mittelständischer Handwerksunternehmen nicht unüblich, ist der Käufer bei der Anlieferung der Ware am dritten Ort nicht zugegen. Mutmaßlich verlässt er sich darauf, dass sein Endkunde den für ihn final bestimmten Bodenbelag, der ordentlich verpackt und auf Paletten gestapelt geliefert wird, sicher und trocken einlagert, bis die eigentlichen Verlegearbeiten beginnen. Dieses zumindest auf den ersten Blick arbeitsökonomisch durchaus nicht unplausible Vorgehen hatte im Besprechungsfall zur Folge, dass der Käufer diverse Mängel der Ware nicht rechtzeitig erkannte, zu spät rügte und so sämtliche vertraglichen Gewährleistungsrechte verlor. Diese Konsequenzen resultieren aus einer in der Praxis offensichtlich nach wie vor häufigen Falschbeurteilung, welche Methoden der Warenuntersuchung wann und wie angewendet werden müssen, um dem Pflichtenkatalog des § 377 HGB zu genügen. Die Beurteilungsschwierigkeiten beginnen mit der Ablieferung der Ware.

I. Ablieferung der Ware

Nach § 377 HGB gilt Ware als abgeliefert, wenn sie so in den Machtbereich des Käufers gelangt, dass er sie auf seine Beschaffenheit hin überprüfen kann. Der Ablieferungsbegriff des § 377 HGB ist damit nicht identisch mit demjenigen des Gefahrenübergangs gemäß § 446 BGB. Bezeichnet der Käufer gegenüber dem Verkäufer, wie im Besprechungsfall, einen dritten Empfangsberechtigten, ist die Ware mit dem Gelangen in den Machtbereich des Dritten als abgeliefert anzusehen (BGH, Beschl. v. 08.04.2014 – VIII ZR 91/13 – CR 2015, 434), selbst wenn es sich bei dem Dritten um einen nichtkaufmännischen Abnehmer handelt (BGH, Urt. v. 24.01.1990 – VIII ZR 22/89 – BGHZ 110, 130). Egal, ob der Käufer diesem physischen Ablieferungsvorgang bei dem Dritten beiwohnt oder nicht, ab diesem Zeitpunkt läuft für ihn die Uhr zur Untersuchung der Ware.

II. Untersuchung der Ware

Der Wortlaut des § 377 Abs. 1 HGB ordnet eine „unverzügliche“ Überprüfung an. Diese soll nach der Ablieferung mit einer ersten „grobsinnlichen Prüfung“ (Grunewald, NJW 1995, 1777, 1778) beginnen und anschließend ohne jede vermeidbare Lässigkeit mit der eigentlichen Warenprüfung beendet werden. Der dem Käufer zugebilligte zeitliche Korridor für diese Untersuchungen reicht dabei von wenigen Stunden bei verderblichen Waren (OLG München, Urt. v. 05.08.1955 – 6 U 731/55 – NJW 1955, 1560 zur Lieferung von Orangen) bis zu zwei Monaten bei kompliziertem technischen Gerät (OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.09.1998 – 22 U 46/98 – NJW-RR 1999, 1714 zur Lieferung von Großventilatoren eines noch zu errichtenden Rückkühlwerkes). Die Rechtsprechung legt im Interesse der Schnelligkeit des Handelsverkehrs die „Unverzüglichkeit“ streng aus, so dass jeder Käufer, egal ob er nun Orangen, Großventilatoren oder wie im Besprechungsfall Verlegeplatten erworben hat, nie falsch beraten ist, wenn er sich mit der Mängelrüge beeilt, sie beinahe übereilt. In der Literatur werden sogar Mängelrügen „ins Blaue hinein“ erwogen (Müller in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2015, § 377 Rn. 55). Unabhängig davon, dass man bei derartigen Rügen ein erhebliches Risiko trägt, den Mangel tatsächlich korrekt zu bezeichnen (eine Mängelrüge, die lediglich bemängelt, das Gerät sei „nicht einsatzbereit” bzw. „nicht funktionsfähig”, ist nach OLG Hamm, Urt. v. 31.08.2004 – 29 U 19/04 jedenfalls zu unbestimmt), dürften insbesondere bei länger andauernden Lieferbeziehungen solche ins Blaue hinein erfolgten Rügen nicht zwingend den Geschäftskontakt zum Verkäufer stärken. Letztlich alternativlos ist daher bei einer Mehrheit gelieferter Waren, wie im Besprechungsfall, die Stichprobe.

III. Stichprobe

Was die Art und Weise der Warenprüfung in der knapp bemessenen Frist des § 377 HGB angeht, sind generalisierende Aussagen angesichts der Fülle möglicher Lieferobjekte schwierig. Relativ einfach lässt sich noch eine äußere Grenze dahingehend beschreiben, dass keinesfalls Untersuchungs- oder Testverfahren angewendet werden müssen, deren Dauer sicher den zur „unverzüglichen“ Prüfung zugebilligten Zeitraum überschreiten würde. Einigkeit besteht weiter dahingehend, dass bei größeren Warenmengen die Überprüfung repräsentativer Stichproben genügt. Die Stichprobe muss so gewählt werden, dass ein sicherer Rückschluss auf die gesamte Lieferung möglich ist – ergo nicht nur aus einer Charge oder Verpackung, nicht nur von einer Güte- oder Gewichtsklasse dürfen die Stichproben stammen. Auch müssen zerstörende Untersuchungen und der Verlust der Stichproben durch die Überprüfung in Kauf genommen werden. Zur Anzahl der erforderlichen Stichproben sind diverse plakative Einzelfallentscheidungen ergangen. So wurde bei 5.000 Dosen Apfelmus (RG, Urt. v. 13.03.1923 – III 344/22 – RGZ 106, 359, 362) die Öffnung von zehn Dosen, also von 0,2% der gelieferten Menge, für ausreichend erachtet, während andernorts das probeweise Öffnen von 4% der gekauften Gurkengläser als zumutbar beschrieben wird (OLG Hamburg, Urt. v. 12.11.1964 – 3b U 51/64 – MDR 1965, 390).
Die Grenzen, wann mit dem Öffnen weiterer Verpackungen oder dem Zerstören von zu prüfenden Warenteilen aufgehört werden darf, sollen Gesichtspunkte der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit, also der Kosten- und Zeitaufwand sowie die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten bilden. So darf der Käufer mit der Probennahme stoppen und die Ware als insgesamt mangelhaft rügen, wenn er bei 2.400 Einheiten bereits in den ersten fünf Stichproben identische Mängel findet (BGH, Urt. v. 20.04.1977 – VIII ZR 141/75 – DB 1977, 1408), muss andererseits aber, wie z.B. das Besprechungsurteil postuliert, bei Lieferung von Waren auf mehreren Paletten mindestens von jeder Palette eine Probe ziehen. Im Zweifel ist der Käufer also gut beraten, mehr Proben zu nehmen als er Transporteinheiten in sein Lager geliefert bekommt. Gesteigerte Anforderungen werden insbesondere an die Beprobung von Bauteilen gestellt, welche als typische Massenprodukte nicht nur eine gewisse unvermeidliche Fehlerhäufigkeit aufweisen, sondern im Zweifel auch nicht unerhebliche Bauschäden auslösen können (Müller in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, § 377 Rn. 98).

IV. Über Stichproben hinausgehende Maßnahmen

Ist anlässlich der Stichprobenuntersuchung ein Mangel nicht sicher feststellbar, fordert die obergerichtliche Rechtsprechung weitere Maßnahmen, wie etwa eine Probeverarbeitung oder die Hinzuziehung von Sachverständigen. Bei diesen über die „grobsinnliche Untersuchung“ hinausgehenden Maßnahmen liegt für den Käufer, wie auch das Besprechungsurteil zeigt, ein erhebliches Risikopotential. Veranlasst er in der ihm zur Verfügung stehenden, knappen Zeit nicht die gebotenen Untersuchungen, gelten die Kaufsachen kraft der Fiktion des § 377 Abs. 2 und Abs. 3 HGB als genehmigt. Und die Rechtsprechung legt auch hier die Latte für den Käufer extrem hoch. So sollen Holzbauteile probeweise in einem geschlossenen Raum aufgestellt werden müssen, um Ausgasungen der Lackierung feststellen zu können (BGH, Urt. v. 11.11.1974 – VIII ZR 137/73 – WM 1974, 1204, 1205), Heizmatten sind durch die Vornahme von elektrischen Durchgangsmessungen auf ihre Hitzebeständigkeit zu prüfen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.05.1996 – 22 U 13/96 – NJW-RR 1997, 1344, 1346), und Bodenplatten bedürfen einer probeweisen Verlegung an Ort und Stelle, um u.a. die Maßhaltigkeit von Nut und Feder zu ermitteln (Besprechungsentscheidung).

V. Flucht in den verdeckten Mangel

In diesem für den Käufer sehr engen rechtlichen Korsett des § 377 HGB existieren für ihn nur wenige, probate Verteidigungsmöglichkeiten. Als letzter Ausweg bleibt häufig nur, wie es auch der Käufer der Besprechungsentscheidung (letztlich erfolglos) versucht, sich auf einen verdeckten Mangel (§ 377 Abs. 2 HS. 2, Abs. 3 HGB) zu berufen. Im Gegensatz zum offen zutage liegenden bzw. bei ordnungsgemäßer (Stichproben-)Untersuchung zutage tretenden Mangel hat der verdeckte Mangel den „Charme“, dass er erst gerügt werden muss und kann, wenn er sich tatsächlich zeigt. Bei verdeckten, vorher nicht erkennbaren Mängeln beginnt die Rügefrist also nicht wie sonst mit der Ablieferung, sondern, auch wenn die normale Untersuchungs- und Rügefrist für die Ware (für offene Mängel) abgelaufen ist, erst mit ihrer Entdeckung (Hopt in: Baumbach/Hopt, HGB, 36. Aufl. 2014, § 377 Rn. 39). Der Käufer der Besprechungsentscheidung, der mit dem Behaupten eines verdeckten Mangels seine Mängelrüge vom 16.08.2011 für die am 25.07.2011 gelieferten Verlegeplatten noch „retten“ will, muss sich allerdings vom OLG München ins Stammbuch schreiben lassen, dass ihn die Beweislast dafür trifft, ob bei einer (gedachten) unverzüglichen Untersuchung der Ware die Mängel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht entdeckt worden wären. Letzteres verneint das OLG München hier schon mit der Begründung, dass die als verdeckte Mängel bezeichneten Passungenauigkeiten unstreitig bei einer Probeverlegung der Platten im August zutage getreten seien und der Käufer nicht habe plausibilisieren können, weshalb für ihn eine solche Probeverlegung nicht auch schon bei bzw. unmittelbar nach Ablieferung möglich und zumutbar war. Der unter dem Regime des § 377 HGB agierende Käufer hat also anders als der sich sonst auf hypothetische Kausalitäten Berufende, nicht nur einen gewöhnlichen Lauf der Dinge oder eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Nichterkennen des Mangels bei einer üblichen Stichprobenuntersuchung zu beweisen, sondern muss eine fast naturwissenschaftliche Sicherheit bieten, die ohne ein ihm günstiges Sachverständigengutachten dem Gericht jeweils nur schwer bis gar nicht zu vermitteln sein wird.

D. Auswirkungen für die Praxis

„Niemals“, um erneut die Wortwahl des eingangs zitierten Handelsgesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1857 zu gebrauchen, sollten an Handelsgeschäften auf Käuferseite Beteiligte die Durchschlagskraft des § 377 HGB unterschätzen.
Die Obergerichte stellen unverändert nicht nur an die unverzügliche Rüge, sondern auch an die Annahme eines (regelmäßig für den Käufer argumentativ und prozessual leichter handhabbaren) verdeckten Mangels hohe Anforderungen. Wareneingangskontrollen sowie die Praxis der Absetzung von Mängelrügen müssen zum möglichst weitgehenden Erhalt der Mängelrechte daher effizient und vor allem zeitnah durchgeführt werden. Fehlt eines dieser beiden Elemente droht, wie in der Besprechungsentscheidung, das verteidigende Vorbringen des Käufers gegen die Kaufpreisklage des Verkäufers bereits an Beweislastfragen zu scheitern.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Das Urteil des OLG München thematisiert darüber hinaus die Möglichkeit, den § 377 HGB durch Handelsbrauch zu modifizieren. Verschärfungen des Pflichtenkatalogs des Käufers begegnet die Rechtsprechung dabei stets aufgeschlossen; vorliegend winkt die Besprechungsentscheidung die Vereinbarung eines Schriftformerfordernisses für die Mängelrüge durch die sog. Tegernseer Gebräuche als unkritisch durch, während sie individuellen Erleichterungen für die Käuferseite, wie etwa einem ganz oder teilweisen Abbedingen von Rügelasten (BGH, Urt. v. 19.06.1991 – VIII ZR 149/90 – NJW 1991, 2633, 2634) oder zumindest der Verlängerung der Rügefristen (OLG Köln, Urt. v. 10.10.2001 – 13 U 203/01) regelmäßig mit Verweis auf die gesetzgeberische Wertentscheidungen zu § 377 HGB, insbesondere die zeitnahe Klarheit über die endgültige Geschäftsabwicklung, Absagen erteilt bzw. sie nur in engen Grenzen zulässt.