Nachfolgend ein Beitrag vom 4.2.2019 von Pfützenreuter, jurisPR-SteuerR 5/2019 Anm. 3

Leitsätze

1. Die Anforderungen an die Bildung einer Rückstellung wegen ungewisser Verbindlichkeiten sind durch die BFH-Rechtsprechung hinlänglich geklärt.
2. Wurde der Werkmangel durch den Besteller bis zum Bilanzstichtag noch nicht gerügt und beruhte dies maßgeblich darauf, dass der (objektiv angelegte) Mangel bis zu jenem Stichtag noch keine erkennbare betriebsbeeinträchtigende Wirkung entfaltete und hatten folglich die Vertragsbeteiligten noch keine Kenntnis vom Mangel, liegt es nahe, dass der Werkunternehmer am Bilanzstichtag noch nicht ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zur Gewährleistung rechnen musste.

A. Problemstellung

Voraussetzung für eine Verbindlichkeitsrückstellung ist das Bestehen oder die Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach und/oder der Höhe nach, die wirtschaftliche Verursachung der Verbindlichkeit in der Zeit vor dem Bilanzstichtag sowie dass der Schuldner mit seiner Inanspruchnahme ernsthaft rechnen muss. Dabei sind „aufhellende“ Umstände, die zum Bilanzstichtag bereits vorliegen und zwischen Stichtag und Bilanzaufstellung bekannt werden, zu berücksichtigen.
Streitig war vorliegend, ob für die Beseitigung eines Werkmangels, von dem am Bilanzstichtag noch keiner der Vertragsparteien Kenntnis hatte, eine Rückstellung zu bilden ist, weil der Unternehmer aufgrund von Mängelrügen zwischen Bilanzstichtag und Bilanzaufstellung ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zur Gewährleistung rechnen musste.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger unterhielt einen Gewerbebetrieb. Für das Streitjahr 2007 bildete er bei Bilanzerstellung im Juli 2008 neben einer unstreitigen Pauschalrückstellung für Gewährleistungsverpflichtungen eine diesbezügliche Einzelrückstellung (84.160,59 Euro). Anlass hierfür war, dass der Kläger bei einigen Werklieferungen (Herstellung und Montage von Planen für Biogasanlagen) nach Mängelrügen der Auftraggeber im Mai/Juni 2008 zeitnah Nacherfüllungsarbeiten mit entsprechendem Aufwand durchgeführt hatte.
Das Finanzamt erkannte die Einzelrückstellung nach einer Außenprüfung nicht mehr an, da der Kläger am Bilanzstichtag nicht ernsthaft mit einer Inanspruchnahme auf Nacherfüllung habe rechnen müssen. Das Klageverfahren blieb erfolglos (FG Greifswald, Urt. v. 21.02.2018 – 3 K 53/15). Weder dem Kläger noch seinen Auftraggebern – so das Finanzgericht – sei am 31.12.2007 (Bilanzstichtag) die Mangelhaftigkeit der Werklieferungen bekannt gewesen. Der bis zur Bilanzaufstellung bekannt gewordene Gewährleistungsaufwand könne nicht wertaufhellend auf den Bilanzstichtag zurückbezogen werden.
Der BFH hat die Entscheidung des Finanzgerichts bestätigt und die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Die vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen seien nicht von grundsätzlicher Bedeutung und die geltend gemachten Verfahrensmängel lägen nicht vor.
I. Die Anforderungen, nach denen eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB zu bilden seien, seien durch die BFH-Rechtsprechung geklärt. Insbesondere sei geklärt, dass auch zum Bilanzstichtag noch nicht erhobene Mängelrügen bei wertaufhellender Betrachtung den Ansatz einer Verbindlichkeitsrückstellung rechtfertigen könnten. Objektiver Anknüpfungspunkt sei zum einen ein bereits zum Bilanzstichtag vorliegender Mangel. Zum anderen müsse bei noch nicht gerügten Mängeln mit einer Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen (ernsthaft) zu rechnen sein. Jedenfalls dann, wenn – wie hier – die beiderseitige Unkenntnis maßgeblich auf dem Umstand beruhe, dass der Mangel am Bilanzstichtag noch keine betriebsbeeinträchtigende Wirkung entfaltet habe und daher nicht erkennbar gewesen sei, liege es nahe, die Gefahr der Inanspruchnahme des Werkunternehmers am Bilanzstichtag noch nicht als überwiegend anzusehen.
II. Auch das rechtliche Gehör des Klägers sei nicht i.S.v. § 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden. Für die Gewährung rechtlichen Gehörs genüge es grundsätzlich, den Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ein prozessuales Gebot, seine vorläufige Rechtsauffassung mitzuteilen und damit Hinweise zu den Erfolgsaussichten für das Verfahren zu geben, bestehe für das Finanzgericht nicht, obwohl dies für die Verfahrensbeteiligten durchaus wünschenswert sein könne und aus Sicht des Senats förderlich erscheine. Im Streitfall sei zudem zu beachten, dass sich das Finanzgericht zuvor in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren jedenfalls summarisch zur vorliegend streitigen Rechtsfrage positioniert habe.

C. Kontext der Entscheidung

I. Nach der Rechtsprechung des BFH ist zwischen der Wahrscheinlichkeit des Bestehens der Verbindlichkeit („Ungewissheit“ i.S.d. § 249 HGB) und der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme zu unterscheiden, da die Risiken unterschiedlich hoch sein können (BFH, Urt. v. 16.12.2014 – VIII R 45/12 – BStBl II 2015, 759; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 31/2015 Anm. 2). Das Bestehen der Verbindlichkeit ist nur anhand der rechtlichen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage zu prüfen. Vorliegend ging es nicht um die Wahrscheinlichkeit des Entstehens/Bestehens einer Verbindlichkeit, weil nicht streitig war, dass einige Werklieferungen bereits am Bilanzstichtag mangelbehaftet waren. Umstritten war vielmehr die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme des Klägers durch seine Kunden, denn weder sie noch der Kläger selbst hatten am Bilanzstichtag Kenntnis von den Mängeln, weil diese noch keine betriebsbeeinträchtigende Wirkung entfaltet hatten.
II. Die für die Rückstellungsbildung erforderliche Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme ist einzelfallbezogen im Wege einer Prognose anhand der tatsächlichen Verhältnisse zu beurteilen. Es müssen aus Sicht des Bilanzstichtags mehr objektive Gründe für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme als dagegen sprechen. (BFH, Urt. v. 25.11.2009 – X R 27/05 – BFH/NV 2010, 1090; Anm. Nöcker, jurisPR-SteuerR 29/2010 Anm. 2). Auch am Bilanzstichtag noch nicht gerügte Mängel sind zu berücksichtigen, wenn und soweit mit einer Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen zu rechnen ist (BFH, Urt. v. 17.02.1993 – X R 60/89 – BStBl II 1993, 437, unter 2.a).
III. Ob die Inanspruchnahme zu erwarten ist, richtet sich nach den objektiven Verhältnissen des jeweiligen Bilanzstichtags unter Berücksichtigung der bis zur Bilanzaufstellung – oder spätestens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Bilanz im ordnungsgemäßen Geschäftsgang (§§ 243 Abs. 3, 264 Abs. 1 HGB) aufzustellen gewesen wäre – bekannt werdenden wertaufhellenden Umstände (BFH, Urt. v. 22.08.2012 – X R 23/10 – BStBl II 2013, 76, unter II.2.b, mit Anm. Pfützenreuter, jurisPR-SteuerR 49/2012 Anm. 1). Nach ständiger Rechtsprechung sind als „wertaufhellend“ jedoch nur die Umstände zu berücksichtigen, die zum Bilanzstichtag bereits objektiv vorlagen und nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung lediglich bekannt oder erkennbar wurden (BFH, Urt. v. 16.12.2014 – VIII R 45/12 – BStBl II 2015, 759; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 31/2015 Anm. 2). Im vorliegenden Fall stellten deshalb die erst nach dem Bilanzstichtag, aber vor der Bilanzaufstellung seitens der Kunden des Klägers geltend gemachten Mängelrügen keinen wertaufhellenden, sondern einen wertbegründenden Umstand dar. Er führt nicht dazu, bereits zum Bilanzstichtag von einer überwiegenden „Wahrscheinlichkeit“ der Inanspruchnahme des Klägers auszugehen.
IV. In verfahrensrechtlicher Hinsicht schützt der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) die Beteiligten davor, von neuen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkten des Gerichts „überfahren“ zu werden, die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit dem auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte. Dies ergibt sich aus der Hinweispflicht des Gerichts gemäß § 76 Abs. 2 FGO, dessen Verletzung regelmäßig eine Verletzung des rechtlichen Gehörs bedeutet (BFH, Beschl. v. 04.12.2017 – X B 91/17 – BFH/NV 2018, 342, unter II.4.a). Der Einwand des Klägers, das Finanzgericht habe keinerlei rechtliche Hinweise gegeben, in der mündlichen Verhandlung seine vorläufige Rechtsauffassung nicht mitgeteilt und auch nicht erörtert, worauf es bei der Entscheidungsfindung ankomme, beinhaltet jedoch keine Umstände, die zur Verletzung des rechtlichen Gehörs führen. Zur Mitteilung seiner vorläufigen Rechtsansicht und damit zur Erteilung von Hinweisen zu den Erfolgsaussichten der Klage ist das Finanzgericht – worauf der BFH nun nochmals hinweist – nicht verpflichtet. § 76 Abs. 2 FGO fordert vielmehr vom Vorsitzenden, darauf hinzuwirken, dass Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt und ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Seine eigene Rechtsauffassung muss er den Beteiligten nicht mitteilen.

D. Auswirkungen für die Praxis

I. Der Fall verdeutlicht noch einmal, dass eine Verbindlichkeitsrückstellung wegen vertraglicher Gewährleistungsansprüche erst gebildet werden kann, wenn derjenige, der Inhaber des gegen den Steuerpflichtigen gerichteten Anspruchs ist, von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis hat oder eine solche Kenntniserlangung unmittelbar bevorsteht, so dass eine Inanspruchnahme wahrscheinlich ist.
II. Das Gericht verletzt das Recht auf Gehör i.S.v. Art. 103 Abs. 1 GG, wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten beruht, zu denen sie sich nicht geäußert haben und zu denen sich zu äußern sie nach dem vorherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten. Auf rechtliche Umstände, die ein Beteiligter selbst hätte sehen können und müssen, muss er allerdings nicht hingewiesen werden (BFH, Urt. v. 10.03.2016 – X B 198/15 – BFH/NV 2016, 1042, unter II.2.). Nur dann, wenn das Gericht dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste, liegt eine Überraschungsentscheidung vor, die den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt.

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