Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Die Ermittlungspflicht des Nachlassgerichts (§ 26 FamFG, § 2358 BGB) ist verletzt, wenn die Ermittlungen abgeschlossen werden, bevor feststeht, dass von weiteren Aufklärungsmaßnahmen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist.
2. Besteht Aufklärungsbedarf bezüglich der Testierunfähigkeit des Erblassers, so ist seitens des Nachlassgerichts vor der Einholung eines Sachverständigengutachtens allen aktenkundigen Erfolg versprechenden Ermittlungsansätzen zu Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Begutachtung nachzugehen.
A. Problemstellung
- Die Entscheidung befasst sich mit den Anforderungen, die an die nachlassgerichtliche Aufklärung aktenkundiger möglicher Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Begutachtung der Testierfähigkeit gestellt werden.
- B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
- Die Beteiligten streiten darum, ob der Erblasser aufgrund eines notariellen Testaments beerbt worden oder wegen Testierunfähigkeit zum Zeitpunkt der Errichtung gesetzliche Erbfolge eingetreten ist. Der Erblasser war türkischer Staatsangehöriger. Er ist am 04.08.2012 verstorben und hat seine Ehegattin, die Beteiligte zu 1, sowie fünf volljährige Kinder, die Beteiligten zu 2 bis 6, hinterlassen. Als letztwillige Verfügungen liegen ein maschinenschriftliches Testament vom 24.05.2012 und ein notarielles, unter Hinzuziehung eines Dolmetschers errichtetes Testament vom 16.07.2012, vor. Letzteres enthält eine Wahl des deutschen Rechts und eine Einsetzung der Witwe als Alleinerbin. Der Beteiligte zu 6 hat einen Erbschein nach der gesetzlichen Erbfolge des türkischen Rechts beantragt und geltend gemacht, dass der Erblasser bei Errichtung des notariellen Testaments testierunfähig gewesen sei. Er hat angegeben, der Erblasser habe sowohl im Inland als auch in der Türkei bewegliches und unbewegliches Vermögen hinterlassen. Das Gericht hat Gutachten zur Echtheit der Unterschrift unter dem maschinenschriftlichen Testament und zur Testierfähigkeit bei der notariellen letztwilligen Verfügung eingeholt; Zeugen und Beteiligte zur Testierfähigkeit wurden nicht angehört. Das Gericht ist aufgrund des psychiatrischen Gutachtens von Testierunfähigkeit bei Errichtung des notariellen Testaments ausgegangen und hat die Erteilung eines Erbscheins nach der gesetzlichen Erbfolge angekündigt. Eine Befragung des Notars sei nicht erforderlich, da dieser die Testierfähigkeit bestätigen werde, dies aber im Gegensatz zu den überzeugenden Ausführungen des Gutachters stünde. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Beteiligten zu 1, die zugleich beantragt, einen Erbschein auf der Grundlage des öffentlichen Testaments zu erteilen.Das OLG Karlsruhe hat die Beschwerde als zulässig gewertet und einen Verstoß gegen § 26 FamFG bejaht, der zur Zurückweisung an das Nachlassgericht führe (§ 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG). Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folge aus § 105 FamFG, da eine örtliche Zuständigkeit eines deutschen Gerichts – ausgehend vom letzten Erblasserwohnsitz des Nachlassgerichts Schwetzingen (§ 343 Abs. 1 FamFG) – begründet und Inlandsvermögen vorhanden sei. Ein Erbscheinsverfahren sei daher jedenfalls für das Inlandsvermögen zu betreiben, wenn auch für etwaigen Grundbesitz in der Türkei die Zuständigkeit der dortigen Justiz begründet sein könnte.Soweit das bewegliche Vermögen in Rede stehe und eine wirksame Rechtswahl durch Testament nicht vorliegen sollte, sei nach Art. 14 des deutsch-türkischen Nachlassabkommens (Anlage zum Konsularvertrag zwischen der Türkischen Republik und dem Deutschen Reich vom 28.05.1929) das türkische materielle Recht anwendbar, hinsichtlich des unbeweglichen Vermögens jeweils das Recht des Staates, in dem sich der Nachlass befinde. Sowohl nach deutschem Recht (§ 2229 Abs. 4 BGB) als auch nach dem für das bewegliche Nachlassvermögen im Falle fehlender wirksamer Rechtswahl anwendbaren türkischen materiellen Recht hänge die Erteilung des Erbscheins davon ab, ob der Erblasser bei Errichtung des notariellen Testaments testierunfähig gewesen sei. Die hierzu angestellten Ermittlungen seien von einem wesentlichen Verfahrensfehler beeinflusst, weil das Gericht die aus § 26 FamFG folgende Pflicht zur Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen in schwerwiegender Weise verletzt habe. Nach § 2358 Abs. 1 BGB, § 26 FamFG habe das Gericht unter Benutzung der vom Antragsteller angegebenen Beweismittel von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen vorzunehmen. Dabei seien die Ermittlungen so weit auszudehnen, wie es die Sachlage erfordere. Die Aufklärungspflicht sei verletzt, wenn Ermittlungen, zu denen nach dem Sachverhalt und dem Vorbringen der Beteiligten Anlass bestanden habe, nicht durchgeführt worden seien; die Ermittlungen seien erst abzuschließen, wenn von weiteren Maßnahmen ein die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht zu erwarten sei. Insbesondere finde die Verpflichtung zur weiteren Aufklärung dort ihre Grenze, wo es die Beteiligten allein oder hauptsächlich in der Hand hätten, die notwendigen Erklärungen abzugeben und Beweismittel zu bezeichnen bzw. vorzulegen, um eine ihren Interessen entsprechende Entscheidung herbeizuführen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.01.2013 – 3 Wx 27/12 – NJW-RR 2013, 782).Nach diesem Maßstab sei der Ermittlungspflicht nicht genügt. Zwar sei ein Gutachten zur Frage der Testierfähigkeit erhoben worden. Dieses gründe sich jedoch nicht auf hinreichend festgestellten Anknüpfungstatsachen. Vielmehr ergäben sich aus den Akten eine Reihe Erfolg versprechender Ermittlungsansätze zu Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Begutachtung, denen nicht nachgegangen worden sei. Zunächst bestehe Anlass, die Beteiligten anzuhören, die zur Zeit der Testamentserrichtung Kontakt zu dem Erblasser gehabt hätten. Es sei zu erwarten, dass diese relevante Angaben machen könnten, insbesondere etwaige auffällige Verhaltensweisen oder erkennbare Störungen des Lang- oder Kurzzeitgedächtnisses schildern könnten. Es bestehe ferner Anlass, den Urkundsnotar und den Dolmetscher als Zeugen zu vernehmen. Bei der Vernehmung des Notars komme es nicht darauf an, dessen Einschätzung der Testierfähigkeit in Erfahrung zu bringen, sondern Wahrnehmungen, die er anlässlich der Beurkundung gemacht habe. Zu den Akten seien Arztatteste gelangt. Da deren Inhalt von Beteiligten in Zweifel gezogen werde, bestehe Anlass, die Attestersteller als Zeugen zu vernehmen, damit sich das Gericht einen Eindruck von der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben und ihrer Glaubwürdigkeit verschaffen und diese um konkrete Angaben zu Beobachtungen bitten könne, die für die Beurteilung der Testierfähigkeit durch den Sachverständigen von Bedeutung sein könnten. Einem Arztschreiben lasse sich entnehmen, dass der Erblasser in zeitlicher Nähe zur Testamentserrichtung in verschiedenen Krankenhäusern behandelt worden sei. Auf die Beiziehung der Behandlungsunterlagen der Krankenhäuser könne nicht verzichtet werden. Das gelte insbesondere, weil sich aus der Pflegedokumentation Beobachtungen ergeben könnten, die für die Beurteilung der geistigen Gesundheit des Erblassers hilfreich sein könnten. Schließlich könnte Anlass bestehen, den Zahnarzt, der den Erblasser bis 25.07.2012 behandelt habe, zu befragen. Es erscheine denkbar, dass dieser – etwa im Gespräch über Behandlungsmöglichkeiten – Wahrnehmungen gemacht habe, die die Feststellung der Testierfähigkeit erleichtern können. Die Vernehmung des Zahnarztes könnte insbesondere wegen der zeitlichen Nähe zu der in Rede stehenden Testamentserrichtung eine wertvolle Erkenntnisquelle sein. Die Zurückverweisung an das Nachlassgericht begründet das Oberlandesgericht damit, dass eine umfangreiche weitere Beweisaufnahme erforderlich sei. Zunächst seien die Beteiligten und Zeugen anzuhören, sodann sei der Sachverständige dazu zu befragen, ob die gewonnenen Erkenntnisse zu einer abweichenden Beurteilung der Frage der Testierfähigkeit führten. Schließlich werde auch eine Auseinandersetzung mit dem eingereichten Privatgutachten eines Facharztes für Neurologie erforderlich sein.
- C. Kontext der Entscheidung
- Kommt bei erbrechtsbegründenden letztwilligen Verfügungen nach dem substantiierten, nicht bloß „ins Blaue hinein“ erfolgten Vortrag eines Beteiligten oder angesichts aktenkundiger Zweifel begründender Umstände Testierunfähigkeit des Erblassers in Betracht, so ist anerkannt, dass das Nachlassgericht in Erfüllung seiner Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG, § 2358 BGB) den Sachverhalt „ausermitteln“ muss. Es muss demnach allen aktenkundigen Ermittlungsansätzen nachgehen, die Anknüpfungstatsachen für die sachverständige Begutachtung begründen können und darf die Ermittlungen erst einstellen, wenn von weiteren Ermittlungen kein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis mehr zu erwarten ist (Lange in: jurisPK-BGB, § 2358 Rn. 3 und 7). Die vorliegende Entscheidung liegt ganz auf dieser Linie, verdeutlicht aber in sehr anschaulicher Weise für die nachlassgerichtliche Praxis mit welcher Akribie naheliegenden aktenkundigen Ermittlungsansätzen nachzugehen ist.
- D. Auswirkungen für die Praxis
- Die Entscheidung konkretisiert in anschaulicher Weise für die nachlassgerichtliche Praxis, dass bei tatsachengestützten Zweifeln an der Testierfähigkeit des Erblassers sämtliche aktenkundigen Erkenntnisquellen zur Testierfähigkeit des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung von Amts wegen auszuschöpfen sind, bevor ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben wird.