Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


In seinem neuen Buch „Einspruch“ führt der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm einen wütenden Feldzug gegen Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte – kurz, gegen die gesamte deutsche Justiz. Ein heftiger Widerspruch

Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer
1. November 2014, 15:59 Uhr DIE ZEIT Nr. 45/2014, 30. Oktober 2014

I. Norbert Blüm hat ein neues Buch geschrieben. Das ist, da er ein mitteilsamer Mensch ist, an sich nichts Besonderes. Dieses Buch ist trotzdem besonders.

Wer der fast 80-jährige Norbert Blüm wirklich ist, weiß man nicht. Den meisten bekannt ist seine liebste Märchenfigur: der kleine, kurzatmige, halssteife Mann, der einfache Scherze und kurze Sätze liebt, von der Welt immer überrascht ist und aus der Fähigkeit, frühkindliche Ahnungslosigkeit zu simulieren, das Beste gemacht hat.

Als Minister in fünf Kabinetten des Großen Kanzlers Kohl lobte er die jeweilige Rechts-, Sozial- und Rentenpolitik. In gefühlten fünfhundert Talkshows verteidigte er der Oma ihr klein Häuschen, als habe er es mit eigenen Händen errichtet und nicht mitgeholfen, die Frau in die Armut zu regieren. Noch heute gelingt es ihm, wenn er sich zur Weltpolitik äußert, jenen entfernten Geruch von Altöl und Waschpaste aus den Werkshallen seiner Jugend zu verbreiten.

Im Duo mit dem fast gleichaltrigen TV-Kommissar Peter Sodann trafen sich zwei Gleichgesinnte: Ihre Darbietung bestand in einer aus ganz und gar reinem Herzen kommenden, ursprünglich-naiven Einfachheit, unterlegt mit einer gewissen lauernder Sprungbereitschaft.

In Sodanns früherem Leben galt das als Kennzeichen eines couragiert-spießigen Freigeistes: Man wird ja wohl noch mal meckern dürfen! Und auch Norbert Blüm ist nicht Jacques Tati, Schlichtheit nicht sein letztes Wort. Das „Wir können auch anders!“ ist daher der andere Teil seiner Inszenierung. Große Karrieren wurden nach diesem Bild gestaltet: Heinz Schenk, Karl Moik, Walter Scheel. Wenn Berufspolitiker sich auf dieses Feld begeben, blickt der Untertan vorsichtig um sich: Wenn das mal nicht täuscht!

II. Blüms neues Buch überrascht durch ein radikales Bekenntnis im Vorwort: „Vom Recht verstehe ich wenig bis nichts.“ Sollte der Leser sich jetzt fragen: Warum dann weiterschreiben?, hat er das Geheimnis dieses Autors nicht verstanden. Er erhebt sich, unter Berufung auf Goethe, als ein „Dilettant“ in die Lüfte des Unverstandenen wie weiland der fliegende Robert im Struwwelpeter und will genau dies. Selten bringt ein Autor sein Programm so früh und klar zum Ausdruck.

Blüms Fragen, Antworten, Schlussfolgerungen und Botschaft stehen schon im Titel: Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Da er sich nicht auf das Recht einlassen, sondern mit dem Räsonnement über Gerechtigkeit begnügen möchte, ist ihm alles eins: Sozialprozess, Familienrecht, Strafverfolgung und Zivilprozess in jedem beliebigen Rechtsgebiet.

Dabei geht es ihm weder um „Gerichte“ noch um „Willkür“ im wörtlichen Sinn. Vielmehr möchte der Autor uns Folgendes sagen: Das Rechtssystem Deutschlands ist in den Händen einer faulen, selbstgefälligen, menschenfeindlichen Bande von Ignoranten, die sich Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter nennen, diese Bezeichnungen aber nicht verdienen. Große Sauerei, Krähentheorie. Gut, dass wir Robin Blüm von Locksley haben! „Da muss mal einer dazwischenschlagen“, ruft er aufgeregt im Fernsehen und weist auf sein Buch. Er bewirbt es mit dem Ausruf: „Ich will die Welt verändern!“

Schon verzichteten – behauptet Blüm – erste Buchhandlungen aus Furcht vor Rache auf Dichterlesungen.

III. Richter und Sachverständige: „schaffen sich ihre Wahrheit zur Not selbst“.

Das „Familienrecht ist ein System der Willkür und Arroganz“.

Sogenannte Anwälte „drangsalieren skrupellos das Recht und kümmern sich um die Wahrheit einen Dreck“.

Im Familienrecht „verdient das Recht diesen Namen nicht mehr“.

Die Nichtöffentlichkeit von Gerichtsverfahren ist „für viele Richter und Anwälte ein Freibrief, schalten und walten zu können, wie es ihnen passt“.

„Unschuldige Menschen verschwinden auf Nimmerwiedersehen in der Psychiatrie.“

Für die „Blödheit von Rechtsanwaltsargumenten“ gibt es keine Untergrenze.

Hoeneß und Ecclestone: Mauschelei, Freikauf.

Bundesrichter gewähren „Beratungshilfe, wie man im Gericht am besten davonkommt“, und zwar „hoch dotiert“.

Staatsanwälte: „mediengeile“ Faulenzer ohne rechtsstaatliche Objektivität.

Banker und Millionäre werden nicht verfolgt, „kleine Handwerker“ drangsaliert.

Den Ausreden der Bosse, die nur glauben kann, „wer seine Unterhosen mit der Beißzange anzieht“, folgt die Justiz in devoter Unterwürfigkeit; stattdessen werden anständige Menschen verdächtigt und schikaniert.

Richter in der Beschwerdeinstanz sind bloß „willfährige Gehilfen“ oder „Strohmänner“ ihrer voreingenommenen Kollegen in den unteren Instanzen.

Die These, dass Rechtsanwälten im Interesse ihrer Mandanten alles erlaubt sei, was nicht verboten ist, ist eine „Bankrotterklärung der Moral“.

So geht es 180 Seiten lang, auf und ab, mal mit netten Bonmots, mal in dröger Ministerialprosa. Dann folgen Dokumentationen aus dem Tagebuch des Kommissars Blüm, der das allgegenwärtige Unrecht persönlich ermittelt haben will. Er nennt sie „Jagdszenen“. Sie bestehen aus den Behauptungen jeweils einer Streitpartei, Kommissar Blüm bürgt für die Wahrheit.

Wer gut und wer böse ist, steht schon in Zeile eins fest.

Kostprobe: „Das Jugendamt hat für den Vater plädiert, weil seine Wohnung größer und die von Anna unordentlich sei. Bei meinem Besuch war die kleine Wohnung liebevoll eingerichtet und sauber.“

Anna, die tapfere kleine Frau, ist Blüms Klientin. Männern gegenüber bleibt der Kavalier beim Familiennamen.
„Die Argumentation ist dürftig, die Darstellung oberflächlich“

IV. Blüms Buch ist eine unstrukturierte Abfolge von Beschimpfungen und Behauptungen. Mal ist dieses Landgericht die Heimstatt der Willkür, mal jenes Amtsgericht ein Tanzplatz des Menschenhasses. Das Bundesverfassungsgericht ist stets ein Ort alberner Gottesdienste. Oben, bei den herrschenden Rechtsabschneidern, steht der Minister Norbert Blüm. Unten, bei den Entrechteten, steht als sein kleiner Schatten der einzig wahre Nobbi B. Im Streit um das kleine Häuschen kämpft er Seit’ an Seit’ mit der Oma gegen sich selbst.

Phänomenal ist des Autors Fähigkeit, ohne Kenntnis von Gegenposition und Rechtslage zu wissen, was „richtig“ ist und was „gerecht“. Wie er es auf ein solches Niveau richterlicher Intuition schafft, lässt sich nur ahnen. Blüm erwähnt als Vorbild den König Salomon, der bekanntlich auch nicht Jura studiert hatte. Wir empfehlen dem Herrn Professor Blüm zur Therapie solch überwertiger Gedanken vorerst die Hospitation an einem Amtsgericht. Wir würden gern erkunden, bis zu welchen Gipfeln der Gerechtigkeit er den Akteneingang eines einzigen Vormittags bearbeiten würde. Danach kämen wir gern auf Salomon zurück.

V. Selbstverständlich sind Blüms Vorwürfe nicht frei erfunden. Zu jedem einzelnen fällt einem selber ein Fall ein, der die Empörung bestätigen mag. Das Justizsystem produziert – mitunter öffentlichkeitswirksame – Fehler und tut sich mit der Korrektur oft schwer. Das ist öffentlich zu kritisieren, selbst wenn Fehler im Grundsatz in jedem System unvermeidlich sind.

Aber rechtfertigt das ein solches Elaborat? Wo sind Gegenbeispiele? Wo finden sich die hunderttausend Menschen, die sich nach besten Kräften, mit hohem Engagement und einem Gewissen, das kein bisschen weniger wert ist als das des clownesken Bundesministers a. D., jeden Tag um die Verwirklichung des Rechtsstaats bemühen? Was soll die dumme Behauptung, dass sich „Reiche“ von der Strafverfolgung „freikaufen“ könnten? Fast alle solche Deals betreffen doch kleine Fische, und die gegen sie festgesetzten Geldstrafen oder Auflagen sind lächerlich gering.

Gern würde man darüber sprechen, wie weit die Blümschen Anschuldigungen berechtigt sind. Stil und Undifferenziertheit des Textes nehmen dem fachkundigen Leser aber jede Freude, sich mit Sachfragen auseinanderzusetzen. Fast könnte man glauben, ebendies sei die Hoffnung des Autors.

VI. Die Veränderung der Welt – Blüm schreibt: „sich verändernde Lebensverhältnisse (wie es neuerdings heißt)“ – stört den Minister sehr. Dabei dringt er bis zu letzten Fragen vor: „Jeder ist irgendwo im Nirgendwo. Der Mensch selber ist ein flüchtiger Knotenpunkt im totalen Transit … Aber wie soll dauerhaftes Vertrauen entstehen, wenn alles im Fluss ist?“

Gern hätten wir zu dieser Frage die Antwort eines Menschen gehört, der die Beschleunigung, Entwurzelung und Verwaltung der Lebenswelten an führender Stelle betrieben hat. Wie viele Prozesse vor Sozial- und Verwaltungsgerichten mögen die von Blüm geführten Bürokratien wohl geführt, wie viele schicksalsschwere Formblatt-Bescheide an Rentner und Arbeitslose wohl versandt haben? Vom Wert des Blümschen Ruhegehalts könnten fünf Rechtspfleger oder drei Sozialrichter leben. Zur Belohnung dafür, dass sie jahrzehntelang versucht haben, des Ministers Eingebungen in eine halbwegs verlässliche Rechtspraxis umzusetzen, werden sie nun von ihm als Knechte eines Willkürsystems präsentiert.

VII. Ein letztes Zitat. Den namentlich vorgeführten Präsidenten einer Rechtsanwaltskammer bedient Blüm im vorliegenden Werk mit folgender Herabsetzung: „Der sprachliche Ausdruck steht im proportional umgekehrten Verhältnis zum fachlichen Anspruch, die Argumentation ist dürftig, die Darstellung oberflächlich.“ Ebenso präzise könnte man Blüms Buch zusammenfassen.