Nachfolgend ein Beitrag vom 08.09.2016 von Kunze, jurisPR-MietR 18/2016 Anm. 6

Leitsätze

1. Ein in erster Instanz unterlassener Schutzantrag nach § 712 ZPO kann nicht in der Berufungsinstanz mit der Wirkung nachgeholt werden, dass das Berufungsgericht durch Vorabentscheidung nach § 718 ZPO die Vollstreckbarkeitsentscheidung im angefochtenen Urteil nach Maßgabe des § 712 ZPO abändert.
2. Der Mieter, der in den Räumen ein Wohn- und Pflegeheim betreibt, kann eine Räumungsfrist nach § 721 ZPO nicht beanspruchen. Die Heimbewohner können ihre Interessen selbst wahren, da der Vermieter auch gegen sie einen Räumungstitel erwirken muss (Aufgabe von KG Berlin, Urt. v. 17.12.2012 – 8 U 246/11).

A. Problemstellung

Kann ein Gewerbemieter als Betreiber eines Wohn- und Pflegeheims, der vom Landgericht vorläufig vollstreckbar zur Herausgabe der Mietsache verurteilt worden ist, eine Räumungsfrist beanspruchen? Ist ein erstmals in der Berufungsinstanz gestellter Antrag auf Aufhebung der Vollstreckbarkeit des Landgerichtsurteils statthaft?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Landgericht hatte sein Herausgabeurteil gegen den Heimbetreiber für vorläufig vollstreckbar erklärt. Dieser verlangte mit der Berufung u.a. die einstweilige Anordnung einer Räumungsfrist.
Das KG Berlin hat dies als Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Herausgabeurteil ohne Sicherheitsleistung ausgelegt und den Antrag zurückgewiesen.
Eine Räumungsfrist komme nicht in Betracht, denn es gehe um ein Gewerbemietverhältnis und nicht um die Räumung von Wohnraum. Bei der gewerblichen Zwischenvermietung von Wohnraum könne den Bewohnern als Nutzern von Wohnraum eine Räumungsfrist bewilligt werden, denn sie hätten ein eigenständiges Besitzrecht. Nur wenn es daran fehle, wenn also zur Zwangsräumung ein Titel allein gegen den Gewerbemieter ausreiche, komme nach dem Zweck des § 721 ZPO seine Anwendung auch im Gewerbemietverhältnis in Betracht (Hinweis – nur – auf Lehmann-Richter in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 12. Aufl., § 721 ZPO Rn 7). Vorliegend könne der Vermieter aus dem Herausgabeurteil nicht gegen die im Titel nicht genannten einzelnen Heimbewohner vollstrecken. Zugunsten des Betreibers eines solchen Heims könne eine Räumungsfrist daher nicht gewährt werden. Interessen des Betreibers an nahtloser Verlegung seines Betriebs änderten nichts daran, dass im Verhältnis der Parteien keine Vermietung von Wohnraum vorliege. Soweit der Heimbetreiber weiter die Vollstreckbarkeit des Titels überhaupt in Frage stelle, sei dies ggf. Sache des Vollstreckungsgerichts. Die Herausgabe eines Alten- und Pflegeheims erfolge nach der Rechtsprechung des BGH allein durch Besitzeinweisung des Gläubigers nach § 885 Abs. 1 ZPO, ohne dass daneben unvertretbare Handlungen zur Überleitung des Heimbetriebs (§ 888 ZPO) tituliert werden müssten (BGH, Beschl. v. 14.02.2003 – IXa ZB 10/03). Der Betreiber müsse nicht den Betrieb übergeben. Rechtsverhältnisse des Betreibers zu Dritten seien insoweit ohne Bedeutung. Ob der Vermieter ein Pfandrecht am Mobiliar geltend mache, sei unerheblich, denn nach § 885a ZPO könne er ohne weiteres seinen Vollstreckungsauftrag beschränken.
Der erstmals im Berufungsverfahren gestellte weitere Antrag nach § 712 ZPO sei nicht statthaft, weil er nicht in erster Instanz gestellt worden war. Das sei nach wohl h.M. nicht nachholbar, diese Ansicht sei richtig. Der Wortlaut des § 714 ZPO sei klar. § 718 ZPO ermögliche die vorgezogene Korrektur einer falschen vorinstanzlichen Vollstreckbarkeitsentscheidung, nicht aber die unbefristete Nachholung eines erstinstanzlich unterlassenen Antrages.

C. Kontext der Entscheidung

Zu der Frage, ob der gewerbliche Zwischenvermieter Räumungsschutz nach § 721 ZPO beanspruchen kann, gibt das KG Berlin mit dieser Entscheidung seine frühere, dort nicht näher begründete Auffassung (KG Berlin, Urt. v. 17.12.2012 – 8 U 246/11) auf, wonach § 721 ZPO nach seinem Schutzzweck auch gewerbliche Mietverhältnisse ergreife, die eine faktische Wohnnutzung zum Gegenstand haben. Es handele sich im Verhältnis Vermieter/Heimbetreiber eben nicht um ein Wohnraummietverhältnis. Gegen eigenständig besitzende Dritte, wie hier die Heimbewohner, ist ein gesonderter Titel erforderlich. Das ist sogar dann der Fall, wenn dem Dritten möglicherweise nur deswegen der Besitz eingeräumt worden ist, um die Zwangsvollstreckung zu vereiteln (klassischerweise der plötzlich auftretende neue Untermieter), weil staatlicher Zwang eben nicht gegen Personen ausgeübt werden darf, gegen die kein Vollstreckungstitel bzw. keine Vollstreckungsklausel vorliegt (BGH, Beschl. v. 14.08.2008 – I ZB 39/08).
Dass ein Vollstreckungsschutzantrag nach § 712 ZPO in erster Instanz zu stellen ist, wiederholt die Rechtsprechung immer wieder, so dass dies inzwischen Allgemeingut sein dürfte. Auf die Argumente für diese Rechtsauffassung im Einzelnen, die der Beschluss benennt, kommt es im Ergebnis nicht mehr an.

D. Auswirkungen für die Praxis

Dogmatisch ist die besprochene Entscheidung hinsichtlich der Nichtanwendbarkeit des § 721 ZPO sicher richtig. Der Vermieter steht allerdings vor dem praktischen Problem, wie er herausfinden kann, wer – aktuell – Heimbewohner ist, um versuchen zu können, gegen die Bewohner Räumungstitel zu erwirken. Einen diesbezüglichen Auskunftsanspruch gegenüber dem Gewerbemieter durchzusetzen, ist ebenfalls ein steiniger Weg. Nach der Besitzeinweisung durch den Gerichtsvollzieher besteht – vielleicht – die Möglichkeit, die Angetroffenen zu befragen; die ohnehin missglückte Regelung des § 940a ZPO hilft auch nicht weiter. Mit dem vollstreckbaren Herausgabetitel allein ist also noch nicht viel gewonnen.
Der Beschluss erinnert weiter wieder daran, dass der Mietervertreter schon in erster Instanz prüfen muss, ob Antrag nach § 712 ZPO zu stellen ist. Es zu unterlassen, ist sicherlich ein Haftungsrisiko, andererseits sind die Voraussetzungen des § 712 ZPO derart streng, dass kaum ein Mieter sie wird erfüllen können.