Nachfolgend ein Beitrag vom 22.8.2018 von Wenker, jurisPR-VerkR 17/2018 Anm. 1
Leitsätze
1. Den vom gegenüberliegenden Gehsteig kommenden und auf einem Fußgängerüberweg die Fahrbahn in einem Zug überquerenden Pedelec Fahrer trifft bei einer Kollision mit einem Kraftfahrzeug ein Verschulden nach § 10 StVO.
2. Als nicht abgestiegener Fahrer eines Pedelec – mithin als Radfahrer – unterfällt er nicht dem Schutzbereich des § 26 StVO.
3. Eine Reaktion des Kraftfahrzeugführers ist nicht bereits dann gefordert, wenn der Pedelec Fahrer vom linksseitigen Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen auf der Gegenfahrbahn auffährt. Eine Reaktionsaufforderung ist erst zu dem Zeitpunkt gegeben, zu dem – vom Pedelec Fahrer zu beweisen – konkrete Anhaltspunkte erkennbar wurden, dass der Pedelec Fahrer durchfahren und nicht auf der Mittelinsel halten würde, um der Kraftfahrerin ihren Vorrang zu gewähren.
A. Problemstellung
Das OLG Hamm hatte sich mit der Beurteilung der Haftungsfrage bei einem Unfall zwischen einem Pedelec und einem Pkw zu befassen. Der Pedelec-Fahrer wechselte – ohne anzuhalten oder abzusteigen – vom Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen, wo es zur Kollision kam.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger fuhr mit seinem Pedelec von dem – aus der Sicht der Beklagten – gegenüberliegenden Rad-/Gehweg in einem Zug auf einen Fußgängerweg (Zebrastreifen), um die Fahrbahn zu überqueren. Dabei hielt er auch auf der zwischen den Richtungsstreifen vorhandenen Mittelinsel nicht an. Dabei kam es zu einer Kollision mit dem Pkw der Beklagten. Der Kläger erlitt schwere Kopfverletzungen.
Das erstinstanzliche Landgericht verurteilte den Beklagten zu Schadenersatz nach einer Haftungsquote von einem Drittel. Zur Begründung hatte das Landgericht ausgeführt, im Rahmen der nach § 9 StVG, § 254 BGB vorzunehmenden Abwägung sei von einem überwiegenden unfallursächlichen Verschulden des Klägers auszugehen. Dieser habe den Unfall durch einen Verstoß gegen § 10 StVO maßgeblich verursacht und könne sich nicht etwa auf einen Vorrang nach § 26 StVO berufen, während der Beklagten lediglich ein unfallursächlicher Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO anzulasten sei, weil sie nach dem Gutachten des Sachverständigen den Unfall bei hier geboten gewesener Reaktion bereits auf das Auffahren des Klägers vom linksseitigen Gehweg auf den Fußgängerüberweg gerade noch hätte vermeiden können. Bei dieser Sachlage sei eine Haftung der Beklagten von einem Drittel anzunehmen.
Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg.
Dem Grunde nach sei keine weitergehende Ersatzpflicht der Beklagten anzunehmen. Der Verkehrsunfall, bei dem der Kläger schwer verletzt worden sei, habe sich zunächst beim Betrieb des von der Beklagten geführten PKW ereignet (§ 7 Abs. 1 StVG). Höhere Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG liege keinesfalls vor. Danach komme es für die Frage der Haftungsquote maßgeblich auf die gemäß den §§ 9 StVG, 254 BGB vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge an, bei der jeweils zulasten einer Seite nur unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden könnten. Dem Kläger sei dabei zutreffend ein gravierender Verstoß gegen § 10 StVO unter Missachtung des Vorranges der Beklagten anzulasten. Insbesondere unterfalle der Kläger als nicht abgestiegener Fahrer eines Pedelec nicht dem Schutzbereich des § 26 StVO. Der wegen des Zusammenhanges mit seinem Einfahrmanöver i.S.d. § 10 StVO von vornherein für einen unfallursächlichen Verstoß gegen § 10 StVO sprechende Anschein sei keinesfalls erschüttert. Im Gegenteil stehe der vorgenannte Verkehrsverstoß aufgrund der überzeugenden Ausführungen hierzu in dem vom Landgericht verwerteten Gutachten des Sachverständigen G sogar positiv fest. Damit habe der Kläger die erste und auch entscheidende Ursache für den Verkehrsunfall gesetzt. Weitere unfallursächliche Verkehrsverstöße des Klägers – insbesondere auch hinsichtlich des hier sicherlich besonders tragischen Nichttragens eines Schutzhelmes – könnten aus den vom Landgericht unbeanstandet angeführten Gründen nicht in die Abwägung eingestellt werden.
Ob hier auf Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen tatsächlich mit dem Landgericht ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß – namentlich gegen § 1 Abs. 2 StVO durch mangelnde Aufmerksamkeit und/oder Reaktion – hinreichend sicher feststehe, erscheine bereits durchaus fraglich. Denn aus Sicht des Oberlandesgericht gehe es zu weit, anzunehmen, die Beklagte hätte in jedem Falle bereits reagieren müssen, als der Kläger vom linksseitigen Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen der Gegenfahrbahn auffuhr. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts habe die Beklagte vielmehr erst zu einem Zeitpunkt reagieren müssen, als aufgrund feststellbarer und von der Klägerseite zu beweisender, konkreter Anhaltspunkte erkennbar wurde, dass der Kläger durchfahren und nicht auf der Mittelinsel halten würde, um der Beklagten ihren Vorrang zu gewähren. Dass zu diesem Zeitpunkt die Beklagte noch unfallvermeidend hätte reagieren können, lasse sich auf Grundlage des vorliegenden Sachverständigengutachtens nicht feststellen.
Ein von der klägerischen Berufung zusätzlich geltend gemachter unfallursächlicher Verstoß der Beklagten lasse sich – eine höhere Geschwindigkeit als 30 km/h stehe nach dem vorliegenden Gutachten ohnehin schon nicht fest – ebenfalls nicht feststellen. Dass die Beklagte noch langsamer hätte fahren müssen, sei nicht ersichtlich, zumal der Kläger nicht in den Schutzbereich des § 26 StVO falle und grundsätzlich nicht mit einem plötzlichen Einfahren des Klägers auf den Zebrastreifen gerechnet werden müsse.
Eine höhere Haftungsquote der Beklagten als ein Drittel kommt nach Auffassung des OLG Hamm angesichts des deutlich überwiegenden unfallursächlichen Verstoßes des Klägers gegen § 10 StVO auf keinen Fall in Betracht.
C. Kontext der Entscheidung
Der Kläger fuhr mit einem Pedelec („Pedal Electric Cycle“). Es handelt sich dabei – auch in rechtlichen Sinne – um ein Fahrrad, welches mit einer elektrischen Trethilfe ausgestattet ist (§ 1 Abs. 3 StVG). Abzugrenzen ist es insoweit von E-Bikes, bei denen die Fortbewegung auch ohne Muskelkraft möglich ist. E-Bikes gelten daher als Kraftfahrzeuge und unterliegen der Versicherungspflicht.
Der Kläger fuhr von dem linksseitigen Rad-/Fußweg unvermittelt auf den Zebrastreifen, um die durch eine Mittelinsel geteilte Fahrbahn in einem Zug zu überqueren. An Zebrastreifen haben Fahrzeuge nach § 26 Abs. 1 StVO Fußgängern und Rollstuhlfahrern, welche den Überweg erkennbar benutzen wollen, das Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Erforderlichenfalls müssen sie warten. Radfahrer sind nicht Fußgängern gleichzustellen und unterfallen nur dem Schutzbereich des § 26 Abs. 1 StVO, wenn sie absteigen und als Fußgänger das Fahrrad schieben (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 30.03.1992 – 13 U 219/91).
Bei dem Verlassen des Geh-/Radwegs mit dem Fahrrad auf den Zebrastreifen handelt es sich um das Einfahren von einem anderen Straßenteil, so dass § 10 StVO zu beachten ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2016 – 9 U 125/15; KG, Urt. v. 12.09.2002 – 12 U 9590/00 und OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.02.2014 – 4 U 59/13). Der Einfahrende hat sich daher zu vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn frei ist und eine Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies ist der höchste Sorgfaltsmaßstab, den die StVO kennt. Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht bereits der erste Anschein gegen den wartepflichtigen Einfahrenden.
Das erstinstanzliche Landgericht hatte die ausgeurteilte Mithaftung der Beklagten von einem Drittel insbesondere damit begründet, dass diese bereits hätte reagieren müssen, als der Kläger vom Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen wechselte. Dem hat das OLG Hamm ausdrücklich widersprochen. Danach musste die Beklagte erst reagieren, als es sich abzeichnete, dass der Kläger nicht auf der vorhandenen Mittelinsel anhalten und ihr Vorrang gewähren würde. Vor diesem Hintergrund wäre wohl eine Korrektur der Haftungsquote zugunsten der Beklagten greifbar gewesen, wenn sie ebenfalls Berufung eingelegt hätte (vgl. insoweit zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt: OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2016 – 9 U 125/15 m. Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 8/2016 Anm. 1 keine Mithaftung des Kraftfahrers).
D. Auswirkungen für die Praxis
Ein Pedelec ist straßenverkehrsrechtlich kein Kraftfahrzeug, sondern ein Fahrrad. Bei dem Wechsel mit einem Fahrrad von einem Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen (Fußgängerüberweg) handelt es sich um ein Einfahren von einem anderen Straßenteil gemäß § 10 StVO. Der Radfahrer hat sich dementsprechend dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Nur Fußgänger und Rollstuhlfahrer genießen auf Zebrastreifen Vorrang. Ein nicht abgestiegener Fahrradfahrer unterfällt dagegen nicht dem Schutzbereich des § 26 StVO.
Eine Reaktion des bevorrechtigten Kraftfahrers ist nicht bereits dann gefordert, wenn ein Radfahrer vom linksseitigen Rad-/Gehweg auf den Zebrastreifen auf der Gegenfahrbahn auffährt. Eine Reaktionsaufforderung ist vielmehr erst dann gegeben, wenn konkrete Anhaltspunkte erkennbar werden, dass der Radfahrer – ohne auf der Mittelinsel anzuhalten – in einem Zug durchfahren wird, ohne dem Kraftfahrer Vorrang zu gewähren. Bei schmaleren Fahrbahnen ohne Mittelinsel wird dies differenzierend zu bewerten sein.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der Kläger erlitt durch den Unfall schwere Kopfverletzungen und trug keinen Schutzhelm. Das Gericht hat dazu klargestellt, dass dies auf die Beurteilung der Haftungsfrage keinen Einfluss hat. Nach herrschender Rechtsprechung kann von einem „normalen“ Radfahrer, der sein Gefährt als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr ohne sportliche Ambitionen einsetzt, mangels entsprechender allgemeiner Übung und Anerkennung im Verkehr nicht ohne weiteres verlangt werden, zu seinem eigenen Schutz einen Sturzhelm zu tragen, so dass unter diesem Gesichtspunkt auch kein Mitverschulden anzurechnen ist (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 09.10.2007 – 4 U 80/07; OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.06.2007 – I-1 U 278/06 und OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.02.2007 – I-1 U 182/06). Daran hat der BGH in seiner viel beachteten Entscheidung vom 17.06.2014 ausdrücklich festgehalten (BGH, Urt. v. 17.06.2014 – VI ZR 281/13). Radfahrer, die bei einem Unfall im Straßenverkehr Kopfverletzungen erlitten haben, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, trifft danach jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich kein Mitverschulden. Mit dieser zeitlichen Begrenzung hat der BGH klargestellt, dass die Verkehrsanschauung unter Radfahrern insoweit einem dynamischen Wandel unterliegt, so dass diese Frage zukünftig möglicherweise anders zu bewerten sein kann.
Das OLG Hamm hat diese Rechtsprechung auch für das Jahr 2013 bestätigt, da – trotz statistisch leicht gestiegener Helmtragequote – weiterhin keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich das Verkehrsbewusstsein insoweit gewandelt habe (OLG Hamm, Urt. v. 04.08.2017 – I-9 U 173/16). Der Kläger fuhr vorliegend mit einem Pedelec, einer Fahrzeuggattung mit starken Zuwachsraten, insbesondere bei älteren Verkehrsteilnehmern. Allein im Jahr 2017 hat es in Deutschland 5.206 Verkehrsunfälle mit Beteiligung von Pedelecs gegeben. Davon immerhin 68 mit tödlichem Ausgang. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob bei der Beurteilung der Haftungsfrage die auf die Jahre 2011 und 2013 abstellende Rechtsprechung des BGH und des OLG Hamm weiterhin Bestand haben kann. Möglicherweise wäre es insoweit auch sachgerecht, zwischen Pedelecs und Fahrrädern ohne Trethilfe zu differenzieren.
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