Nachfolgend ein Beitrag vom 11.6.2018 von Podewils, jurisPR-SteuerR 23/2018 Anm. 1

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Für die Tatbestandsverwirklichung des § 35 AO reicht es aus, wenn eine Person nach außen hin so auftritt, als könne sie umfassend über fremdes Vermögen verfügen, und sie faktisch die Aufgaben eines Geschäftsführers wahrnimmt.
2. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids, mit dem eine Person als faktischer Geschäftsführer einer GmbH für Steuerschulden der Gesellschaft in Haftung genommen wird, wenn sich die Annahme der faktischen Geschäftsführung allein auf Sachverhalte ohne diesbezügliche indizielle Bedeutung stützt.
3. Die Beherrschung der Buchhaltung begründet allein keine faktische Geschäftsführerstellung.

A. Problemstellung

Die Position als GmbH-Geschäftsführer ist oftmals mit einem gewissen Prestige sowie einem einigermaßen auskömmlichen Einkommen und weiteren Annehmlichkeiten verbunden; andererseits gibt es nicht zu unterschätzende Haftungsrisiken gegenüber der Gesellschaft und deren Gläubigern, u.a. gegenüber dem Finanzamt nach § 69 AO. Dies gilt auch für den sog. faktischen Geschäftsführer.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsteller war seit deren Gründung im Jahr 2009 bei einer GmbH angestellt, deren alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin seine Ehefrau war. Der Antragsteller kümmerte sich dort insbesondere um Buchhaltung und Finanzen. Anfang 2016 wurde bei der GmbH eine Außenprüfung durchgeführt, die für die Beteiligten einige Unannehmlichkeiten mit sich brachte, nämlich zum einen erhebliche Steuernachforderungen gegenüber der GmbH und zum anderen steuerstrafrechtliche Ermittlungen gegen den Antragsteller. Im September 2016 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet.
Anschließend nahm das Finanzamt den Antragsteller gemäß § 191 AO i.V.m. den §§ 69, 35 AO in Haftung für die gegen die GmbH festgesetzte und nicht beglichene Steuerschulden in Höhe von ca. 500.000 Euro, da dieser deren faktischer Geschäftsführer gewesen sei. Gegen den Haftungsbescheid legte der Antragsteller Einspruch ein und beantragte zugleich Aussetzung der Vollziehung (AdV).
Die begehrte AdV wurde vom Finanzamt abgelehnt, jedoch mit der vorliegenden Entscheidung durch das FG Köln gewährt.
Das FG Köln verwies zunächst auf die Besonderheiten des AdV-Verfahrens als einem summarischen Verfahren, in dem einerseits lediglich präsente Beweismittel zu berücksichtigen sind und andererseits kein Vollbeweis der behaupteten Tatsachen erforderlich ist, sondern bereits die Glaubhaftmachung genügt (grundlegend BFH, Urt. v. 14.07.1976 – I R 138/74 – BStBl II 1976, 682; BFH, Beschl. v. 21.06.1972 – II B 44/71 – BFHE 112, 74).
Nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO soll grundsätzlich AdV gewährt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Entsprechende ernstliche Zweifel sind nach ständiger Rechtsprechung gegeben, wenn bei summarischer Prüfung des Verwaltungsaktes gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zutage treten (BFH, Beschl. v. 11.03.1970 – I B 50/68 – BStBl II 1970, 569; BFH, Beschl. v. 08.02.2017 – X B 138/16 – DStR 2017, 1259; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 151. Lfg., Stand: Februar 2018, § 69 FGO Rn. 89 ff.). Der Erfolg in der Hauptsache braucht dabei nicht wahrscheinlicher zu sein als ein Misserfolg (BFH, Beschl. v. 28.11.1974 – V B 52/73 – BStBl II 1975, 239; BFH, Beschl. v. 07.09.2011 – I B 157/10 – BStBl II 2012, 590; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 89 m.w.N.). AdV ist vielmehr schon dann zu gewähren, wenn es auf Grund des vorliegenden Prozessstoffes ernstlich möglich erscheint, dass sich der angegriffene Bescheid bei abschließender Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtswidrig erweist.
Vor diesem Hintergrund hatte das FG Köln – unbeschadet der sonstigen tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung nach § 191 i.V.m. §§ 69, 35 AO – zumindest ernstliche Zweifel, ob der Antragsteller als faktischer Geschäftsführer angesehen werden könne.
Der faktische Geschäftsführer ist ein Anwendungsfall des § 35 AO. Diese Norm verlangt, dass die fragliche Person nach außen hin so auftritt, als könne sie umfassend über fremdes Vermögen verfügen (Rüsken in: Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 35 Rn. 2 ff. m.w.N.).
Unstreitig erledigte der Antragsteller die finanziellen Angelegenheiten der GmbH, namentlich deren Buchführung. So hatte er auch Kontovollmacht und übermittelte Steuererklärungen und sonstige Korrespondenz an das Finanzamt. Das FG Köln erblickte in dieser doch recht weitgehenden Übernahme der kaufmännischen Abwicklung der Geschäfte zwar ein durchaus gewichtiges Indiz für eine Qualifizierung des Antragstellers als faktischer Geschäftsführer, das aber für sich alleine genommen noch nicht ausreiche. Denn derartige Aufgabenübertragung finde in Unternehmen oftmals auch auf vertrauenswürdige Buchhalter statt. Die Beherrschung der Buchhaltung allein könne daher keine faktische Geschäftsführerstellung begründen.
Vorliegend hatte das Finanzamt zwar behauptet, der Antragsteller habe auch die Unternehmenspolitik bestimmt, das Unternehmen organisiert sowie Einfluss auf die Gestaltung von Geschäftsbeziehungen genommen. Allerdings gelang es dem Finanzamt nicht, diese Behauptungen hinreichend glaubhaft zu machen. Das Finanzamt hatte in diesem Zusammenhang nur dargetan, dass der Antragsteller zwei Lieferantenverträge für die GmbH unterzeichnet hatte – dies allerdings in einem Zeitraum von über sechs Jahren. Diesem Umstand war daher keine nachhaltige Bedeutung beizumessen. Schließlich hatte das Finanzamt den Umstand, dass der Antragsteller bei der GmbH eine eigene E-Mail-Adresse hatte, die sich aus der Kombination seines Namens und der Firma der GmbH zusammensetzte, ebenfalls als Indiz für eine faktische Geschäftsführerstellung angeführt; diese Schussfolgerung bewertete das FG Köln ausdrücklich als „gewagt“.

C. Kontext der Entscheidung

Ob eine Person als faktischer Geschäftsführer bzw. faktisches Organmitglied zu qualifizieren ist, beschäftigt auch die ordentliche Gerichtsbarkeit des Öfteren. Der BGH stellt insoweit darauf ab, ob derjenige nach dem Gesamterscheinungsbild seines Auftretens faktisch wie ein Organmitglied aufgetreten ist und gehandelt hat (BGH, Urt. v. 21.03.1988 – II ZR 194/87 – BGHZ 104, 44; BGH, Urt. v. 11.07.2005 – II ZR 235/03 – NZG 2005, 816; dazu Osterloh, jurisPR-BGHZivilR 39/2005 Anm. 2).
In einer strafrechtlichen Entscheidung zur Konkursantragspflicht hat das BayObLG acht sog. klassische Merkmale im Kernbereich der Geschäftsführung herausgearbeitet, nämlich die Entscheidungen über Unternehmenspolitik, Unternehmensorganisation und Einstellung von Mitarbeitern, ferner die Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern, Verhandlung mit Kreditgebern, die Gehaltshöhe, die Entscheidung der Steuerangelegenheiten sowie schließlich die Steuerung der Buchhaltung (BayObLG, Urt. v. 20.02.1997 – 5St RR 159/96 – NJW 1997, 1936; vgl. eingehend auch Dierlamm, NStZ 1996, 153). Seien mindestens sechs dieser Merkmale gegeben, sei die Stellung des faktischen Geschäftsführers derart überragend, dass ihn auch dann die Konkurs- bzw. nunmehr Insolvenzantragspflicht treffe, wenn daneben noch ein förmlich bestellter Geschäftsführer vorhanden ist.
Diese Entscheidung des BayObLG ist indes auf § 35 AO nicht übertragbar. Im Rahmen von § 35 AO müssen nicht mindestens sechs klassische Merkmale aus dem Kernbereich der Geschäftsführung verwirklicht sein (FG Hamburg, Urt. v. 29.03.2017 – 3 K 183/15 – EFG 2017, 1225; dazu Henningfeld, EFG 2017, 1228; siehe auch BFH, Beschl. v. 13.08.2007 – VII B 20/07 – BFH/NV 2008, 10).
Denn der Anwendungsbereich von § 35 AO ist deutlich weiter gefasst. Dementsprechend hat der BFH für die erforderliche Verfügungsberechtigung beispielsweise eine Generalvollmacht (BFH, Beschl. v. 09.01.2013 – VII B 67/12 – BFH/NV 2013, 898) oder auch die Stellung als beherrschender Gesellschafter (BFH, Beschl. v. 19.05.2009 – VII B 207/08) genügen lassen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Allein die – wenn auch weitestgehend eigenständige – Erledigung der Buchhaltung eines Unternehmens führt noch nicht zu einer Verantwortlichkeit nach § 35 AO. Daher war die Entscheidung des FG Köln, vorliegend AdV zu gewähren richtig, zumal die diesbezügliche Feststellungslast beim Finanzamt liegt.
Wie der vorliegende Fall in der Hauptsache ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Das FG Köln hat jedenfalls – eigentlich überflüssigerweise – betont, dass eine Gesamtwürdigung aller, auch der dem Gericht bislang noch unbekannten Erkenntnisse und Beweismittel möglicherweise zu einer anderen Bewertung führen kann. Zum Hintergrund gehört nämlich auch, dass der Antragsteller nicht nur der Ehemann der Gesellschafter-Geschäftsführerin der fraglichen GmbH war, sondern vor deren Gründung und nach deren Insolvenz selbst bereits vergleichbare Unternehmen betrieben hatte bzw. noch betreibt. Wenngleich der Vortrag des Finanzamtes im Rahmen des AdV-Verfahrens nicht sonderlich durchschlagskräftig war, erscheinen die zugrunde liegenden Annahmen des Finanzamtes in diesem Lichte zumindest nicht als abwegig.

Haftung eines faktischen Geschäftsführers gegenüber dem Finanzamt
Thomas HansenRechtsanwalt
  • Fachanwalt für Steuerrecht
  • Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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