Nachfolgend ein Beitrag vom 10.4.2018 von Adamus, jurisPR-FamR 7/2018 Anm. 8
Leitsatz
Zum Erbrecht vor dem 01.07.1949 geborener nichtehelicher Kinder, hier: teleologische Erweiterung von Art. 5 Satz 2 des Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes (ZwErbGleichG).
A. Problemstellung
Kann einem vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kind trotz der eindeutigen Stichtagsregelung in Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG (§ 1589 Abs. 2 BGB a.F.) i.V.m. Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG a.F. bei einem Erbfall vor dem 28.05.2009 ein Erbrecht nach dem Vater zustehen?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die am 13.01.1928 nichtehelich geborene Antragstellerin begehrte die Erteilung eines Erbscheins, der sie als Alleinerbin ihres am 13.06.1993 verstorbenen Vaters ausweist.
Sie ist das einzige Kind des Erblassers, der ledig war. Er wurde im Jahr 1928 verurteilt, Unterhalt an die nicht in seinem Haushalt lebende Antragstellerin zu leisten. Die Antragstellerin hatte im Alter von etwa 14 Jahren das letzte Mal Kontakt zum Erblasser. Während der deutschen Teilung war ein Kontakt zu dem auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebenden Erblasser nicht möglich. Nach dem Mauerfall gelang es ihr 1991 den Kontakt wieder herzustellen. Mit Schreiben vom 14.03.1992 erklärte der Erblasser „eidesstattlich“, dass die Antragstellerin seine leibliche Tochter sei. Die Antragstellerin besuchte den Erblasser im Seniorenheim, war Ansprechpartnerin für seine Ärzte und wurde um die Zustimmung zur Obduktion des Leichnams gebeten. Sie kümmerte sich auch um das Begräbnis des Erblassers. Nach dem Tod des Erblassers wurde die Antragstellerin als einzig bekannte Angehörige vom Nachlassgericht benachrichtigt und um Mitteilung von Informationen zu dem Erbfall gebeten. Zur Erbenermittlung wurde ein Nachlasspfleger eingesetzt, dessen Bemühungen erfolglos blieben. Im April 1996 wurde das Fiskuserbrecht festgestellt. Knapp vier Monate nach dem Erlass des Urteils des EGMR vom 28.05.2009 (3545/04 – ZEV 2009, 510) zur Konventionswidrigkeit der erbrechtlichen Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland beantragte die Antragstellerin die Erteilung eines sie als Alleinerbin ausweisenden Erbscheins.
Der Antrag hatte keinen Erfolg. Nachdem ein Erbenermittler Nichten und Neffen des Erblassers ausfindig machte, wurde der Beschluss über die Feststellung des Fiskuserbrechts im August 2012 aufgehoben und diesen Teilerbscheine erteilt. Auf Betreiben der Antragstellerin wurde mit Beschluss vom 03.06.2014 die Vaterschaft des Erblassers festgestellt. Am 29.08.2014 beantragte sie erneut, diesmal unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 07.02.2013 (16574/08 – ZEV 2014, 491) in der Rechtssache Fabris gegen Frankreich, ihr einen Alleinerbschein zu erteilen und die den übrigen Beteiligten erteilten Teilerbscheine einzuziehen.
Diesen Antrag hatte das Amtsgericht zurückgewiesen. Die Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben.
Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin ist nach Auffassung des BGH statthaft, im Übrigen zulässig und hat Erfolg.
Die Antragstellerin sei als Tochter des Erblassers gemäß § 1924 Abs. 1 BGB dessen Erbin erster Ordnung. Dies folge aus einer über den Wortlaut von Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG hinausgehenden, konventionsrechtlich gebotenen teleologischen Erweiterung der genannten Bestimmung.
Nach dem Wortlaut von Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG sei die Antragstellerin zwar gemäß § 1589 Abs. 2 BGB a.F. i.V.m. Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG a.F. für erbrechtliche Verhältnisse nicht erbberechtigt, weil ein vor dem 01.07.1949 geborenes nichteheliches Kind zu seinem Vater erst mit Wirkung für Erbfälle ab dem 29.05.2009 als verwandt anzusehen sei und der Erblasser vor diesem Stichtag verstorben sei. Diese Rechtsanwendung verstößt nach Meinung des BGH nach der neueren Rechtsprechung des EGMR jedoch gegen Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK (Schutz des Eigentums).
Nach dem Urteil des EGMR vom 23.03.2017 – 59752/13 und 66277/13, 59752/13, 66277/13 – FamRZ 2017, 829) in der Rechtssache Wolter und Safert gegen Deutschland verletze die strikte Anwendung der in Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG bestimmten Stichtagsregelung die vorgenannten Bestimmungen der EMRK und damit die Rechte nichtehelicher Kinder, wenn bei besonderen Umständen kein gerechter Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen (Familie des Erblassers ./. nichteheliches Kind) hergestellt würde. Die Kenntnis der Betroffenen, der Status der erbrechtlichen Ansprüche (Verjährung) und die bis zur Geltendmachung des Anspruchs verstrichene Zeit seien dabei ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, ob durch das nationale Recht eine finanzielle Entschädigung für den Verlust des Erbrechts gewährt werde.
Vorliegend lägen diese besonderen Umstände vor. Die Existenz der Antragstellerin sei den Beteiligten bekannt gewesen. Die gemäß § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB 30jährige Verjährungsfrist für den Anspruch aus § 2018 BGB sei im Streitfall nicht abgelaufen. Zudem habe die Antragstellerin den Erbschein nur knapp vier Monate nach der Entscheidung in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland beantragt. Schließlich stehe der Antragstellerin für den Ausschluss des Erbrechts auch kein Anspruch auf Zahlung einer finanziellen Entschädigung zu. Aufgrund der Konventionswidrigkeit des Ausschlusses des Erbrechts der Antragstellerin sei Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG im Streitfall teleologisch dahin zu erweitern, dass die Ersetzung von Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG a.F. gemäß Art. 1 Nr. 2 ZwErbGleichG bereits für den in Rede stehenden Erbfall Geltung beansprucht und § 1589 Abs. 2 BGB a.F. damit nicht anzuwenden sei.
C. Kontext der Entscheidung
Der EGMR hatte in der Entscheidung „Brauer ./. Deutschland“ festgestellt, dass der Ausschluss des Erbrechts des vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kindes den Beschwerdeführer in seinen Rechten (Art. 8 EMRK; Art. 14 EMRK) verletzt. Der Gesetzgeber hat daraufhin mit dem zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz reagiert und die Stichtagsregelung (Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG) eingeführt. Danach erfolgte die Gleichstellung für Erbfälle die nach der Entscheidung des EGMR am 28.05.2009 eintraten. Für Erbfälle vor dem 28.05.2009 räumte der Gesetzgeber der Rechtssicherheit (der Familie des Erblassers) den Vorrang ein. Der BGH (Urt. v. 26.10.2011 – IV ZR 150/10 – FamRZ 2012, 119) und in der Folge das BVerfG (Beschl. v. 18.03.2013 – 1 BvR 2436/11, 1 BvR 3155/11) bestätigten die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Der EGMR entschied zeitlich folgend am 07.02.2013 (Fabris ./. Frankreich) und nunmehr am 09.02.1017 (Mitzinger ./. Deutschland) und am 23.03.2017 (Wolter und Safert ./. Deutschland), dass die strikte Anwendung der Stichtagsregelungen – in Deutschland Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG – die Rechte nichtehelicher Kinder aus der ERMK verletzen, wenn in besonders gelagerten Fällen der Rechtssicherheit kein großes Gewicht beigemessen werden könne und daher ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt werden müsse.
Der BGH kommt zu dem einleuchtenden Ergebnis, dass auch im vorliegenden Fall die Bestimmungen der EMRK verletzt werden würden. Die EMRK steht innerhalb der deutschen Rechtsordnung zwar nur im Rang eines Bundesgesetzes. Deutsche Gerichte trifft jedoch die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen. Die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung endet dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint, etwa wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstößt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.05.2015 – 2 BvR 1170/14 Rn. 47 f. – FamRZ 2015, 1263; BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – BVerfGE 111, 307, 329). Dies ist vorliegend aber nicht problematisch, weil das BVerfG mit Urteil vom 18.03.2013 (ZEV 2013, 326) die Frage, ob eine teleologische Erweiterung von Art. 5 ZwErbGleichG in bestimmten Fällen, die mit dem Fall Brauer ./. Deutschland vergleichbar sind, in Betracht kommt, offengelassen hat. Die teleologische Erweiterung einer Gesetzesbestimmung setzt eine Regelungslücke voraus. Die Bestimmung muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen. Dass eine gesetzliche Regelung rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist, reicht nicht aus. Ihre Unvollständigkeit erschließt sich vielmehr aus dem gesetzesimmanenten Zweck und kann auch bei einem eindeutigen Wortlaut vorliegen (BVerwG, Urt. v. 18.04.2013 – 5 C 18/12 Rn. 22 – NJW 2013, 2457).
Diese Voraussetzung ist bei Erbfällen erfüllt, die sich vor dem 29.05.2009 ereigneten und in tatsächlicher Hinsicht mit der Rechtssache Brauer ./. Deutschland vergleichbar sind. Das ZwErbGleichG bezweckt, die vom EGMR in der genannten Rechtssache für konventionswidrig befundene Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht, soweit möglich, zu beseitigen. Auch für Erbfälle, die sich vor dem 29.05.2009 ereigneten, wurde dies für wünschenswert gehalten. Aus Gründen des Vertrauensschutzes und zur Vermeidung einer Rückabwicklung weit in der Vergangenheit liegender Erbfälle hat sich der Gesetzgeber jedoch dagegen entschieden (BT-Drs. 17/3305 S. 7 f.; BT-Drs. 17/4776). Die Einschätzung, dass die Sache Brauer ./. Deutschland ein „atypischer“ Fall ist, zeigt, dass der Gesetzgeber solche „atypischen Fälle“ nicht in einer Weise regeln wollte, die weitere Verurteilungen der Bundesrepublik herausfordert, er hielt sie lediglich für unwahrscheinlich.
Der vorliegende Streitfall ist aber nun ebenso gelagert wie der Fall Brauer. Die Antragstellerin und ihren Vater verband eine tatsächliche Nähebeziehung. Es fehlen nahe gesetzliche Erben, die wiederum selbst keine tatsächliche Beziehung zum Erblasser hatten und daher auch kein Vertrauen auf den Erhalt der Erbschaft bilden konnten. Die teleologische Erweiterung von Art. 5 ZwErbGleichG in bestimmten Fällen, die in tatsächlicher Hinsicht mit dem durch den EGMR in der Rechtssache Brauer ./. Deutschland vergleichbar sind, ist daher zu bejahen.
Die Sache ist aber noch nicht zur Endentscheidung reif, da den Beteiligten noch Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist. Nach dem bisherigen Verfahrenslauf konnten die anderen Beteiligten noch davon ausgehen, dass der Antragstellerin kein Erbrecht zusteht. Bei der Entscheidung wird zu beachten sein, dass ein Konventionsverstoß in Betracht kommt, wenn ohne die gerügte Diskriminierung ein nach staatlichem Recht durchsetzbarer Anspruch auf den Vermögenswert bestanden hätte. Der Konventionsverstoß bei wortlautgetreuer Anwendung von Art. 5 Satz 2 ZwErbGleichG ergibt sich nunmehr aus dem Urteil des EGMR vom 23.03.2017 (59752/13 und 66277/13, 59752/13, 66277/13 – FamRZ 2017, 829) in der Rechtssache Wolter und Sarfert ./. Deutschland.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die starre Stichtagsregelung (28.05.2009 = Datum der Entscheidung des EGMR in der Sache Brauer ./. Deutschland), die in Art. 5 ZwErbGleichG Eingang gefunden hat, ist in Einzelfällen konventionswidrig (Art. 14 EMRK – Diskriminierungsverbot i.V.m. Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK – Schutz des Eigentums). Der EGMR hat die Kriterien herausgearbeitet, bei deren Vorliegen der Rechtssicherheit, die der Gesetzgeber mit der Stichtagsregelung erreichen wollte, Nachrang einzuräumen ist.
Der BGH hat dem mit der nicht alltäglichen teleologisch erweiterten Auslegung der Stichtagsregelung Rechnung getragen und so grundsätzlich auch das Erbrecht des vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kindes auch bei dem Erbfall vor dem 28.05.2009 eröffnet.
Die Entscheidung kann grundsätzlich auf vergleichbare Fälle (Kriterien des EGMR) übertragen werden. Der Gesetzgeber wäre erst gefragt, wenn es eine große Anzahl von vergleichbaren Fällen gäbe. Dies müsste sich recht bald zeigen, denn nichteheliche Kinder müssten sich nach den Kriterien des EGMR zeitnah um die Durchsetzung ihres Erbrechts bemühen.
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