Nachfolgend ein Beitrag vom 8.11.2016 von Adamus, jurisPR-FamR 23/2016 Anm. 1

Leitsatz

Die Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen des erstversterbenden Ehegatten durch einen Dritten wird nicht in entsprechender Anwendung von § 2285 BGB beschränkt.

A. Problemstellung

Kann ein Dritter eine wechselseitige Verfügung des erstversterbenden Ehegatten nach dem Tod des überlebenden Ehegatten noch anfechten oder ist die Anfechtung in Analogie zu § 2285 BGB ausgeschlossen?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin und die Beklagte sind Töchter des Ehepaares M. Diese errichteten im Jahr 1977 ein handschriftliches gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig als Erben einsetzten, die Klägerin zur Schlusserbin bestimmten und die Beklagte enterbten. Der Vater der Parteien verfasste außerdem im Jahr 1985 ein Einzeltestament, in dem er die Mutter als Alleinerbin einsetzte. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1995 lieferte die Mutter nur das Einzeltestament beim Nachlassgericht ab. Die Mutter verstarb im Jahr 2012. Nachdem die Klägerin das gemeinschaftliche Testament im Tresor des Elternhauses gefunden hatte, lieferte sie es beim Nachlassgericht ab und beantragte die Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin der Mutter. Die Beklagte erklärte daraufhin gegenüber dem Nachlassgericht die Anfechtung des Testaments wegen eines Motivirrtums ihrer Eltern. Diese seien damals wütend auf sie gewesen, weil sie entgegen deren Wunsch Sozialpädagogik statt Medizin studiert und ihre Eltern außerdem erfolgreich auf Unterhaltsleistung verklagt habe. Bereits etwa ein Jahr später hätten sie sich wieder mit ihr versöhnt. Das Landgericht gab der Klägerin mit ihrem Antrag auf Feststellung der Alleinerbenstellung statt. Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen. Der BGH hat auf die Revision der Beklagten das Berufungsurteils aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Verfügungen zur Schlusserbeneinsetzung der Klägerin durch beide Ehegatten in dem gemeinschaftlichen Testament sind (unstreitig) wechselbezüglich i.S.v. § 2270 Abs. 1 BGB. Eine wirksame Anfechtung der Verfügung des Vaters zur Schlusserbeneinsetzung hätte daher gemäß § 2270 Abs. 1 BGB auch die Unwirksamkeit der entsprechenden Verfügung der Mutter zur Folge. Die Verfügung der Mutter zur Schlusserbeneinsetzung konnte analog § 2285 BGB nicht mehr angefochten werden, denn ein Dritter kann vertragsmäßige Verfügungen im Erbvertrag nicht mehr anfechten (§§ 2078, 2079 BGB), wenn das Recht des letztversterbenden Erblassers, die Verfügung aus demselben Grund anzufechten, zurzeit des Erbfalls bereits erloschen ist. Die erbvertragliche Vorschrift des § 2285 BGB ist auf die wechselbezüglichen Verfügungen des letztverstorbenen Ehegatten im gemeinschaftlichen Testament entsprechend anwendbar (h.M., zuletzt BGH, Urt. v. 15.06.2010 – IV ZR 21/09 – ZEV 2010, 364). Die Jahresfrist des § 2283 Abs. 1 BGB für eine Selbstanfechtung durch die Mutter war zurzeit des Erbfalls bereits abgelaufen. Der Motivirrtum war mit der Versöhnung bekannt, mit dem Tod des Vaters im Jahr 1995 als frühestmöglichem Anfechtungszeitpunkt begann die Frist zu laufen.
Anderes gilt nach BGH, mit der h.M. in der Literatur, für die Anfechtung der Verfügung des Erstversterbenden durch einen Dritten. Eine analoge Anwendung des § 2285 BGB auf die Drittanfechtung einer wechselbezüglichen Verfügung des Erstversterbenden im gemeinschaftlichen Testament komme nicht in Betracht, weil es an der vergleichbaren Interessenlage fehle. Dem erstversterbenden Ehegatten steht selbst kein Anfechtungsrecht hinsichtlich seiner wechselbezüglichen Verfügungen, sondern ein Widerrufsrecht zu. Wegen der unterschiedlichen Ausgestaltung des Widerrufsrechts des Erstversterbenden und des beim Erbvertrag bestehenden Anfechtungsrechts ist eine entsprechende Anwendung auf die wechselbezügliche Verfügung des Erstversterbenden weder geeignet noch erforderlich. Der Erstversterbende ist beim gemeinschaftlichen Testament – anders als der durch den Erbvertrag gebundene Erblasser – nicht an seine wechselbezüglichen Verfügungen gebunden und auf ein Anfechtungsrecht beschränkt. Zu Lebzeiten beider Ehegatten kann jeder von ihnen seine wechselbezüglichen Verfügungen gemäß § 2271 Abs. 1 BGB widerrufen. Es ist daher weiter vom Berufungsgericht zu klären, ob der Vater einem Motivirrtum unterlegen war.

C. Kontext der Entscheidung

Der BGH bestätigt hinsichtlich beider Erbfälle die bisherige h.M. Die erbvertragliche Vorschrift des § 2285 BGB ist wegen der vergleichbaren Interessenlage bei Ehegattentestamenten nur auf die Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen durch Dritte bei Tod des Letztversterbenden anwendbar (so schon RG, Urt. v. 16.10.1911 – IV 594/10 – RGZ 77, 165). Das Recht zum Widerruf einer wechselbezüglichen Verfügung erlischt gemäß § 2271 Abs. 2 BGB mit dem Tod des anderen Ehegatten. Der Überlebende ist von diesem Zeitpunkt an wie der Erblasser beim Erbvertrag an seine wechselbezügliche Verfügung gebunden. Der überlebende Ehegatte, der seinen Irrtum erkennt, hat es in der Hand, durch das Unterlassen der Anfechtung auch das Anfechtungsrecht des Dritten zu zerstören.
Dies gilt nicht für die Anfechtung von wechselbezüglichen Verfügungen des Erstversterbenden durch Dritte – vor oder nach dem Tod des Überlebenden. Es fehlt hier an einer für die Analogie notwendigen gleichartigen Interessenlage. Dem erstversterbenden Ehegatten steht kein Anfechtungsrecht, sondern ein Widerrufsrecht zu (u.a. Weidlich in: Palandt, BGB, 75. Aufl.2016, § 2271 Rn. 31; Musielak in: MünchKomm BGB, 6. Aufl., § 2271 Rn. 43; Kanzleiter in: Staudinger, BGB, Bearbeitung 2014, § 2271 Rn. 67; Müßig in: NK-BGB, 4. Aufl., § 2271 Rn. 100 f.). Das Widerrufsrecht erfordert weder einen Grund, noch ist dieses an eine Frist gebunden. Der Erstversterbende hat es zu Lebzeiten in der Hand, die Bindungswirkung der wechselbezüglichen Verfügungen durch Widerruf zu beseitigen. Das Widerrufsrecht kann nicht wie ein Anfechtungsrecht des Erblassers „zur Zeit des Erbfalls“ i.S.v. § 2285 BGB bereits erloschen sein, sondern es erlischt mit dessen Tod. Eine analoge Anwendung von § 2285 BGB auf das Erlöschen des Widerrufsrechts hätte zur Folge, dass eine Anfechtung durch Dritte, unabhängig davon, ob der Erblasser Kenntnis von Tatsachen hatte, die ein Anfechtungsrecht begründen könnten, ausgeschlossen wäre. Damit wäre es nicht mehr möglich, dem wahren Willen des Erblassers Geltung zu verschaffen.
Das Berufungsgericht (OLG Stuttgart, Urt. v. 19.03.2015 – 19 U 134/14 – FamRZ 2016, 744, 745) argumentierte dahin: Wäre der Dritte anfechtungsberechtigt, ergäbe sich bei Anfechtung dasselbe Ergebnis, als hätte der erstverstorbene Ehegatte sein Widerrufsrecht ausgeübt. In diesem Fall hätte der andere Ehegatte auf den Widerruf noch durch eine neue letztwillige Verfügung reagieren können. Die analoge Anwendung von § 2285 BGB auf die Anfechtung von wechselbezüglichen Verfügungen des erstverstorbenen Ehegatten sei daher auch zum Schutz des längerlebenden Gatten geboten (so auch LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.02.1958 – 7 T 91/57 – NJW 1958, 714 und wohl auch BayObLG, Beschl. v. 12.08.2003 – 1Z BR 35/03 – FamRZ 2004, 1068).
Dabei wird aber übersehen, dass § 2285 BGB nicht dem Schutz des Überlebenden dient. Der Gesetzgeber begründete die Vorschrift allein damit, dass anderen Personen ein Anfechtungsrecht nicht in größerem Umfang zugestanden werden könne als dem Erblasser selbst. Geschützt wird daher das Interesse des Erblassers daran, dass sich sein – frei von Irrtum oder Drohung i.S.v. § 2078 BGB gebildeter – Wille durchsetzt. Der Überlebende wird im Regelfall bei einer Drittanfechtung nach dem ersten Erbfall die Möglichkeit haben, neu zu testieren, da die Anfechtung noch zu seinen Lebzeiten erfolgen wird. Die Begründung des Berufungsgerichts für eine Analogie bezieht sich daher allein auf den Sonderfall, dass eine Drittanfechtung nicht zu Lebzeiten des letztverstorbenen Ehegatten erfolgen konnte. Doch ein allgemeiner Grundsatz, dass Ehegatten auf den Bestand der eigenen wechselbezüglichen Verfügungen nach ihrem Tod vertrauen können, besteht beim gemeinschaftlichen Testament nicht.

D. Auswirkungen für die Praxis

Ein Dritter kann bei einem Irrtum sowohl die wechselseitige letztwillige Verfügung des Erstversterbenden als auch des Letztversterbenden anfechten. Die Anfechtung durch einen Dritten erfordert wie die Selbstanfechtung einen Anfechtungsgrund i.S.d. §§ 2078, 2079 BGB. Der Letztversterbende kann die Anfechtung gemäß § 2283 Abs. 1, 2 BGB nur innerhalb eines Jahres ab Kenntnis vom Anfechtungsgrund oder Beendigung der Zwangslage erklären. Das Anfechtungsrecht kann durch Ablauf der Anfechtungsfrist oder durch Bestätigung, § 2284 BGB, beim Erbfall bereits erloschen sein. Dann ist gemäß § 2285 BGB auch eine Anfechtung durch einen Dritten, die auf denselben Anfechtungsgrund gestützt werden soll, ausgeschlossen. Hat der Erblasser keine Kenntnis vom Anfechtungsgrund, beginnt auch die Anfechtungsfrist für ihn nicht zu laufen, so dass sein Anfechtungsrecht beim Erbfall nicht erloschen sein kann und eine Drittanfechtung daher möglich bleibt. Die Anfechtung der letztwilligen Verfügung des Erstversterbenden durch einen Dritten ist nicht wegen eines möglichen Fristablaufs ausgeschlossen. Hier kommt es „nur“ darauf an, dass sich der Erstversterbende in einem Irrtum befand. Die Beweislast für die anfechtungsbegründenden Tatsachen trifft dabei den Anfechtenden. Eine Anfechtung der Verfügung des Erstversterbenden kann – wie im vorliegenden Fall unstreitig – nur dann zu einem Erfolg für den Anfechtenden führen, wenn es sich um eine wechselbezügliche Verfügung der Ehegatten handelt. Nur dann führt die Unwirksamkeit der einen Verfügung zur Unwirksamkeit der wechselbezüglichen Verfügung (hier der Schlusserbeneinsetzung). Wäre die Schlusserbeneinsetzung durch die Eheleute nicht wechselbezüglich verfügt, wäre die Anfechtung der einseitigen Verfügung der Letztversterbenden – bei einem Irrtum – unabhängig von § 2285 BGB möglich.