Nachfolgend ein Beitrag vom 28.3.2017 von Cranshaw, jurisPR-HaGesR 3/2017 Anm. 5
Leitsätze
1. Art. 5 Nr. 3 der VO (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Schadensersatzklage wegen plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen wie die Klage im Ausgangsverfahren nicht „eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne dieser Verordnung betrifft, wenn zwischen den Parteien eine stillschweigende vertragliche Beziehung bestand, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der Nachweis des Vorliegens einer solchen stillschweigenden vertraglichen Beziehung muss auf einem Bündel übereinstimmender Indizien beruhen, zu denen u.a. das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen, Treu und Glauben zwischen den Parteien, die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung, etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und/oder zu den gewährten Rabatten sowie die ausgetauschte Korrespondenz gehören können.
2. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der VO (EG) Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass langjährige Geschäftsbeziehungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen“ einzustufen sind, wenn die charakteristische Verpflichtung des fraglichen Vertrags die Lieferung eines Gegenstands ist, und als „Vertrag über eine Erbringung von Dienstleistungen“, wenn diese Verpflichtung die Bereitstellung von Dienstleistungen ist, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
A. Problemstellung
Bei langjähriger Zusammenarbeit von Unternehmen kommt es, sowohl in „Inlandfällen“ als auch natürlich in grenzüberschreitenden Fällen, immer wieder zu Zerwürfnissen oder auch nur zu divergierender Entwicklung der geschäftlichen Interessen oder zur Änderung von Geschäftsmodellen, die am Ende zur Trennung der Geschäftsverbindung zu dem bisherigen Partner führen. Wünschenswert ist dabei stets, dass eine Vertragsdokumentation besteht, die entscheidend dazu beiträgt, im Rahmen der Trennung entstehendes Konfliktpotential einzuhegen und einer möglichst einvernehmlichen Lösung den Weg zu ebnen. Dazu gehört schließlich auch neben anderen Regelungen (vgl. im Einzelnen unter Abschnitt C I.) eine sinnvolle Gerichtsstandsklausel zum internationalen Gerichtsstand, die nach der hier vertretenen Auffassung bei einer sachgerechten Lösung mit dem anzuwendenden Recht und der gewählten Vertragssprache identisch sein muss. Alternativ kann man sich natürlich auf ein (internationales) Schiedsgericht zur Streitlösung einigen, wobei auch hier wiederum das anzuwendende Verfahrensregelwerk zu bestimmen ist und gleichermaßen die Vertragssprache, die sich dann am Schiedsgericht orientieren sollte.
Was aber geschieht, wenn es eine solche streiterleichternde Vertragsdokumentation nicht gibt, wesentliche Fragen ohne ausdrückliche Vertragsklausel geblieben sind, ja wenn es keinen schriftlichen Vertrag gegeben hat – und das über Jahrzehnte? Mit einer solchen Konstellation hatte sich der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV auf Vorlage der Cour d’appel de Paris in einem Fall zu befassen, dessen Hintergrund der Streit eines französischen Unternehmens aus Nizza mit einem italienischen Unternehmen aus Bologna um einen etwaigen Schadensersatzanspruch der französischen Gesellschaft ist. Diese warf der italienischen Gesellschaft vor, eine langjährige Geschäftsverbindung plötzlich abgebrochen zu haben. Verfahrensgegenstand des Verfahrens vor dem EuGH ist ein Zwischenstreit dieses Prozesses, nämlich die Frage der internationalen Zuständigkeit der französischen oder italienischen Gerichte. Abhängig ist die Entscheidung darüber von den Wertungen des Art. 5 Nr. 3 bzw. des Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. (VO (EG) Nr. 44/2001 „Brüssel I-VO“); die zitierten Normen entsprechen Art. 7 Nr. 2 bzw. Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO (VO (EU) Nr. 1215/2012 = EuGVVO n.F., seit 10.01.2015). Der vorliegende Fall war noch nach der früheren Brüssel I-VO zu entscheiden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Bei wirtschaftlicher Betrachtung stehen sich in dem hier bestehenden Rechtsstreit auf Konzernebene zwei Unternehmensgruppen der italienischen Nahrungsmittelindustrie gegenüber, die teilweise auf sich wohl überschneidenden Sektoren der milchverarbeitenden Industrie arbeiten, nämlich die Granorolo-Gruppe mit Sitz in Bologna und die Ambrosi-Gruppe mit Sitz in der Provinz Brescia. Prozesspartei und Klägerin ist hier eine Ambrosi Emmi France SA („Ambrosi“) , also ein Unternehmen von Ambrosi und der schweizerischen Emmigruppe; diese beiden Unternehmensgruppen sind international auf dem Sektor der Milchverarbeitung und der Käseproduktion umfassend unterwegs.
Die Ambrosi Emmi France hatte bis zum Jahr 2012 über einen Zeitraum von etwa 25 Jahren Lebensmittel von Granorolo in Frankreich vermarktet, ohne dass es freilich einen „Rahmenvertrag“ oder eine „Ausschließlichkeitsklausel“ gab. Am 10.12.2012 teilte Granorolo mit, dass man ab dem 01.01.2013 den Verkauf der Waren von Granorolo in Belgien und Frankreich nicht mehr über Ambrosi, sondern über eine andere Gesellschaft französischen Rechts abwickeln werde. Ambrosi erhob darauf Schadensersatzklage gegen Granorolo beim Tribunal de Commerce Marseille mit der Begründung, bei dem Vorgehen von Granorolo handele es sich um den plötzlichen Abbruch von Geschäftsbeziehungen ohne Beachtung einer Mindestkündigungsfrist, der zum Schadensersatz nach Art. L 442-6 Code de Commerce führe.
Das Gericht in Marseille hatte in einem Zwischenstreit mit Urteil vom 29.07.2014 seine internationale Zuständigkeit bejaht, da die Klage eine unerlaubte Handlung betreffe und das schädigende Ereignis nach Maßgabe des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. in Nizza bei Ambrosi eingetreten sei. Granorolo wandte sich gegen dieses Urteil durch Rechtsmittel zur Cour d’appel de Paris mit der Begründung, die „örtliche“ Zuständigkeit des Gerichts in Marseille sei zu verneinen, denn die Klage betreffe einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit einem Vertrag. Daher sei nach Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. der vorgesehene Ort der Lieferung der betroffenen beweglichen Sachen (Waren > Lebensmittel) maßgeblich, wie er bei jedem Kaufvorgang vertraglich festgelegt worden sei. Man habe auf den Rechnungen jeweils das Kürzel „Ex-Works“ nach den Incoterms vermerkt, so dass Lieferungsort Bologna sei – womit die italienischen, nicht die französischen Gerichte international zuständig wären. Ambrosi beharrte darauf, der Streitgegenstand betreffe eine unerlaubte Handlung; ferner sei eben nicht jeder Vertrag mit „Ex-Works“ nach den Incoterms abgeschlossen worden.
Die Cour d’appel hatte festgestellt, nach französischem Recht handele es sich vorliegend um einen Streitgegenstand, der eine unerlaubte Handlung betreffe, wobei man sich auf Urteile des französischen Kassationshofes stützte. Da jedoch die Begriffe der unerlaubten Handlung oder der Ansprüche aus einem Vertrag im Lichte der EuGVVO autonom nach Unionsrecht auszulegen seien, legte das Gericht in Paris dem EuGH vor.
Die Cour d’appel fragte an, ob unter Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. die Schadensersatzklage aufgrund des „Abbruchs langjähriger Geschäftsverbindungen bei Lieferung beweglicher Sachen über mehrere Jahre an einen Vertriebshändler ohne Rahmenvertrag oder Ausschließlichkeitsklausel“ zu subsumieren sei, also unerlaubte Handlung im Sinn der Norm ist. Mit seiner zweiten Frage wollte das französische Gericht wissen, ob der Erfüllungsort in dem Fall einer vertraglichen Lieferbeziehung aus Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO abzuleiten ist.
II. Der EuGH betont zunächst, der tragende Grundsatz der EuGVVO sei die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Sitzstaates des Beklagten. Die verschiedenen Normen der Verordnung über alternative Zuständigkeiten seien wie Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. Ausnahmen, die eng auszulegen seien und nicht über die ausdrücklich geregelten Konstellationen hinaus ausgedehnt werden könnten. Ferner sind aus dem Blick des EuGH die Begriffsfelder der Ansprüche aufgrund eines Vertrages bzw. aufgrund einer unerlaubten Handlung bzw. einer dieser gleichgestellten Handlung oder der Ansprüche daraus autonom unionsrechtlich, unabhängig vom Verständnis des jeweiligen nationalen Rechts, auszulegen. Unter einem Anspruch aus einer unerlaubten oder einer dieser gleichgestellten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. sei jede „Schadenshaftung“ zu verstehen, die nicht aus einem vertraglichen Anspruch nach Maßgabe von Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. abzuleiten sei. Dabei bedeute die Erhebung einer Klage der einen gegen die andere Vertragspartei noch nicht ohne weiteres, dass es sich dabei tatsächlich um einen Anspruch aus Vertrag handele, wie ihn Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. versteht. Vielmehr, so der EuGH im Ergebnis, müsse sich der geltend gemachte Ersatzanspruch nach seiner Rechtsprechung als Verletzung vertraglicher Pflichten bei einer Würdigung des Vertragsgegenstands herausstellen. Dies festzustellen sei Aufgabe des erkennenden mitgliedstaatlichen Gerichts, das seine Prüfung unabhängig vom nationalen Recht vorzunehmen habe. In vielen Mitgliedstaaten könnten langjährige Geschäftsbeziehungen auch ohne schriftlichen Vertrag zu einer „stillschweigenden“ Vertragsbeziehung führen, deren Verletzung eine entsprechende Haftung zur Folge haben könne. Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. fordere zwar eine vertragliche Beziehung, die aber nicht schriftlich vereinbart worden sein müsse, sondern die auch konkludent „aus eindeutigen Handlungen der Partner“ hervorgehen könne. Die Prüfung, ob im vorliegenden Fall ein solcher stillschweigender Vertrag bestand, stelle den ersten Prüfungsschritt des vorlegenden Gerichts dar. Für einen solchen Vertrag spreche keine Vermutung, seine Entstehung müsse vielmehr nachgewiesen werden, unter Würdigung eines „Bündels übereinstimmender Indizien“. Der EuGH nennt hier als Beispiele „langjährige Geschäftsbeziehungen“, „Treu und Glauben“, „Regelmäßigkeit der Transaktionen“, die „langfristige Entwicklung“ nach Maßgabe von „Menge und Wert“ der Transaktionen, „Absprachen zu den
Für die Frage der internationalen Zuständigkeit ist sodann in einem nächsten Schritt entscheidend, ob langjährige Geschäftsbeziehungen wie hier als „Verkauf beweglicher Sachen“ oder als „Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen“ i.S.d. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO a.F. zu betrachten sind. Dies zu prüfen sei ebenfalls Sache des mitgliedstaatlichen Gerichts. Die Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen eines der beiden Tatbestände des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO a.F. schließe die Anwendung von Buchst. a dieser Norm aus, wie aus Buchst. c derselben Vorschrift nach der Judikatur des Gerichtshofs hervorgehe. Auch der Begriff des Erfüllungsorts nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO a.F. sei im Interesse der Einheit der Gerichtsstände und deren Vorhersehbarkeit autonom nach Unionsrecht auszulegen. Maßgeblich für die dortige Einordnung der jeweiligen Geschäfte als Kauf beweglicher Sachen oder als Erbringung von Dienstleistungen sei die jeweils „charakteristische Verpflichtung“. Ist vertragstypisch die „Lieferung und Abholung beweglicher Sachen“ durch „aufeinanderfolgende Verträge“ in langjähriger Geschäftsbeziehung, so könne das „Verkauf beweglicher Sachen“ nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich EuGVVO a.F. sein. In diesem Fall müsse vom Ausgangsgericht geprüft werden, ob hier die Klausel „Ex-Works“ der Incoterms durchgehend in den Verträgen der Parteien enthalten sei, in welchem Fall von der Lieferung in Italien auszugehen ist (so dass die dortigen Gerichte international zuständig sind). Anders sei dies bei einem Vertriebsvertrag auf der Grundlage eines in die Zukunft wirkenden „Rahmenvertrages“ mit Liefer- und Bezugspflichten, der einen Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich EuGVVO a.F. darstelle (mit Erfüllungsort in Frankreich und der internationalen Zuständigkeit wiederum der dortigen Gerichte). Der Begriff der Dienstleistung nach dieser Norm umfasse ein positives entgeltliches Tätigkeitwerden. Typisch für den darunter fallenden Vertriebsvertrag, so das Fazit des EuGH, sei die Vertriebsleistung des einen Vertragspartners für die Waren des anderen. Leistung der Vertriebspartei ist danach die „Gewährleistung des Vertriebs“ durch „Verbreitung der Waren“. Ein solcher Vertrieb (durch einen Vertragshändler) biete ggf. seinen Abnehmern im Unterschied zum bloßen Wiederverkäufer einen besonderen Service, der den vertriebenen Produkten des Partners einen höheren Markanteil sichert, z.B. durch eine Beschaffungsgarantie des Herstellers und Warenlieferanten, durch die Beteiligung an dessen Vermarktungsstrategie und Absatzförderung. Auch die Prüfung dieser Merkmale sei Aufgabe des Ausgangsgerichts. Der Begriff des Entgelts sei nicht auf Geldzahlungen beschränkt, vielmehr seien alle Vorteile darunter zu subsumieren, bei den Vertragshändlern beispielsweise der Wettbewerbsvorteil durch Ausschließlichkeit, Zurverfügungstellung von Werbematerial, Beteiligung an Schulungen oder durch Zahlungserleichterungen durch den Hersteller gegenüber dem Vertragshändler. Unter diesen Voraussetzungen könne der Vertriebsvertrag ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen nach der zitierten Norm des Art. 1 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO a.F. sein. Die Feststellung der charakteristischen Vertragspflichten nach dieser Vorschrift habe das nationale Gericht vorzunehmen. Entsprechend dem Ergebnis dieser Prüfungen ist der vorliegende Vertrag dann unter eine der beiden Alternativen der zitierten Bestimmung zu subsumieren, und daraus resultiert dann die internationale Zuständigkeit.
C. Kontext der Entscheidung
I. Tatsächliche Problematik des vom EuGH entschiedenen Falles
Der Kern des vorliegenden Rechtsstreits insgesamt bzw. auch des Zwischenstreits ist die offenkundig ungenügende Vertragsdokumentation. War eine über Einzelkaufverträge hinausreichende Vertriebsvereinbarung nicht nur schon lange existent, sondern auch ökonomisch für die Beteiligten bedeutsam, hätte man auf den Abschluss eines schriftlichen Vertrages achten müssen – und zwar schon als Instrument der unternehmerischen Risikostrategie der Beteiligten. In der üblichen Weise sollte ein solcher Vertrag aus dem Blick des europäischen Verfahrensrechts, aber auch aus dem Blick international üblicher Gepflogenheiten ebenso wie – bei Beteiligung eines deutschen Vertragspartners – inländischer Vertragsdokumentationen neben den materiellen Bestimmungen zu der Geschäftsbeziehung eine Reihe von vertragstechnischen Klauseln enthalten, die einen Rechtsstreit wie den vorliegenden, mindestens aber einen solchen Zwischenstreit, weitgehend obsolet machen sollten. Ungeachtet dessen ist es außerordentlich misslich, wenn die Beteiligten nunmehr vom EuGH darauf verwiesen werden, zu prüfen, ob mangels einer schriftlichen Vertragsdokumentation eine solche Vertragsbeziehung mündlich bzw. durch konkludentes Verhalten überhaupt zustande gekommen ist. Dergleichen hier entscheidende Klauseln, die man – wiederum aus der Sicht einer inländischen Dokumentation – vertragssystematisch unter „Schlussbestimmungen“ unterbringen mag, stellen Mindestbedingungen dar. Sie betreffen z.B. die Vereinbarung der Schriftform, die Verabredung einer geeigneten salvatorischen Klausel, die Regelung des Gerichtsstandes (vgl. Art. 23 EuGVVO a.F. = Art. 25 Brüssel Ia-VO), die Bestimmung des auf den Vertrag anzuwendenden materiellen Rechts (wobei der Gerichtsstand zweckmäßig mit der Rechtswahl konform geht) und die Vertragssprache sowie die Voraussetzungen der Beendigung des Vertrages nebst die bei einer Kündigung einzuhaltenden Fristen.
II. Anknüpfung der internationalen Zuständigkeit nach der EuGVVO durch den EuGH, Bedeutung des Erfüllungsorts
Im Zentrum steht zunächst, dass nach der EuGVVO die Klage grundsätzlich am Sitz oder Wohnsitz des Beklagten einzureichen ist, Ausnahmetatbestände sind eng auszulegen und zwar jeweils autonom nach Unionsrecht, also unabhängig von den Vorstellungen des jeweils nationalen Rechts, innerhalb dessen sich der Rechtsstreit abspielt (vgl. beispielsweise EuGH, Urt. v. 18.07.2012 – C-147/12 Rn. 27, 31, f. m.w.N. – ZIP 2013, 1932 „ÖFAB“). Die Novellierung des Internationalen Zivilprozessrechts der EU durch die Brüssel Ia-Verordnung hat hieran ebenso wenig etwas geändert wie an den Inhalten der vorliegend heranzuziehenden Normen des Art. 5 Nr. 3 bzw. Nr. 1 EuGVVO a.F. (Brüssel I-VO). Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung grenzt der EuGH die Zuständigkeiten für Schadensersatzklagen (hier aufgrund des plötzlichen Abbruchs langjähriger Geschäftsbeziehungen) wegen unerlaubter Handlung und gleichgestellten Tatbeständen negativ ab; Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. ist nur heranzuziehen, wenn keine vertragliche Beziehung bestand, die auch konkludent zustande gekommen sein kann (Besprechungsentscheidung, vgl. auch EuGH, Urt. v. 28.01.2015 – C-375/13 Rn. 44 m.w.N. – NJW 2015, 1581 „Kolassa“). Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung. Liegt eine vertragliche Sonderbeziehung der Streitparteien vor, ist in einem weiteren Schritt Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. zu prüfen, systematisch dabei zunächst Buchst. b dieser Norm, denn nach der Struktur der Bestimmungen in Nr. 1 ist Buchst. a subsidiär gegenüber Buchst. b, wie aus Buchst. c hervorgeht. In Buchst. b können die beiden Regelungen über den „Verkauf beweglicher Sachen“ einerseits, über die „Erbringung von Dienstleistungen“ andererseits zu ganz unterschiedlicher internationaler Zuständigkeit führen, abhängig von der konkreten Vertragsgestaltung mit der Folge erheblicher Feststellungsprobleme bei fehlender klarer Vertragsdokumentation. Insbesondere entsteht ein systematisches Problem bei „typengemischten“ Verträgen, verwendet man einmal die Terminologie des inländischen Rechts. Der EuGH will auch hier eine Gesamtbetrachtung vornehmen, die auf Indizien gründet und schließlich in eine Wertung des erkennenden mitgliedstaatlichen Gerichts einmündet, welches Charakteristikum die konkrete Vertragsbeziehung prägt. Der Gerichtshof gibt eine Hilfestellung insoweit, als er auch bei langjähriger Geschäftsbeziehung keine Dienstleistung annimmt, wenn lediglich Waren aufgrund jeweils voneinander unabhängiger Verträge bestellt „und abgeholt werden“, wie das hier eventuell der Fall war. Davon grenzt er die Vertragsbeziehung eines Vertragshändlers ab, der den Absatz des Herstellers fördert und dafür in dessen Vertriebsstrukturen mehr oder weniger eingebunden ist (wie in die Werbung, bei der Preisgestaltung, Schulungen usw.), wodurch sich Vorteile für beide Beteiligte, ebenso für die Kunden ergeben.
Es erscheint evident, dass bei einer Wertung als Vertriebsvereinbarung eine Dienstleistung i.S.d. § 5 Nr. 1 Brüssel I-VO bejaht werden muss. Für die vom EuGH geforderte Entgeltlichkeit in diesem Kontext lässt der Gerichtshof jeden Vorteil aus der Vertragsbeziehung genügen, auf einen konkreten „Preis“ oder eine „Vergütung“ in Gestalt einer Geldzahlung soll es nicht ankommen (vgl. EuGH, Urt. v. 09.12.2013 – C-9/12 Rn. 37-39 „Corman-Collins“; diese in der Besprechungsentscheidung mehrfach zitierte Entscheidung ähnelt dem Sachverhalt des Besprechungsurteils in vielerlei Hinsicht). Entsteht ein Streit bei solchen Verträgen, sind international die Gerichte des Staates zuständig, in welchem die Dienstleistung erbracht wird, d.h. in dem Mitgliedstaat, in dem der Vertragshändler tätig wird, regelmäßig sein Sitzstaat. Verneint man eine Vertriebsvereinbarung („Vertragshändlervertrag“), bleibt nur die Alternative des Verkaufs beweglicher Sachen, die aber ebenfalls weiter zu untersuchen ist, denn dann kommt es für die internationale Zuständigkeit gleichermaßen auf den Erfüllungsort aus dem Blick des europäischen Rechts an. Hat man freilich die Incoterms (2010) der ICC angewandt und den dortigen entsprechenden Code, so ist der Erfüllungsort determiniert. Vorliegend würde die Klausel „Ex-Works“, ist sie Bestandteil des Vertragswerks der Parteien geworden, den Erfüllungsort nach Italien verlegen, so dass die angerufenen französischen Gerichte international nicht zuständig wären. Damit schließt sich aber der Kreis, denn dann geht es bei einem Schadensersatzprozess gegen den Hersteller nicht mehr um die alternative internationale Zuständigkeit des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO a.F. (= Art. 7 Nr. 1 EuGVVO n.F./Brüssel Ia-VO), sondern um den allerdings damit identischen allgemeinen internationalen Gerichtsstand am Sitz des Beklagten nach den Art. 2, 60 EuGVVO a.F. (= Art. 4, 63 Brüssel Ia-VO).
III. Materielle Rechtslage
1. Die materielle Rechtslage war nicht Gegenstand des Zwischenstreits vor dem EuGH. Angesichts der fehlenden Dokumentation kann noch das Problem entstehen, welches materielle Recht anwendbar ist; die Antwort geben zwar die Art. 3, 4 Rom I-VO des „vergemeinschafteten“ IPR im Vertragsrecht, abhängig davon, ob eine Rechtswahl vereinbart wurde oder ob das anzuwendende Recht aus der Verordnung abzuleiten ist (vgl. Art. 4 Rom I-VO). Vorliegend ist das freilich eher nicht der Fall, da die Rom I-VO nur auf Verträge anzuwenden ist, die ab dem 17.12.2009 abgeschlossen wurden. Altverträge über Dauerrechtsverhältnisse aus der Zeit davor sind daher ggf. nach dem jeweils bis zum Inkrafttreten der Rom I-VO einschlägigen Kollisionsrecht des betreffenden Mitgliedstaats zu beurteilen.
2. Der plötzliche Abbruch von Vertragsbeziehungen führt im französischen Recht unter den Voraussetzungen des Art. L 442-6 alinea 5 Code de Commerce zu Schadensersatzansprüchen. Grundtatbestand ist Satz 1: „[…] De rompre brutalement, […], une relation commerciale etablie, sans preavis ecrit tenant compte de la duree de la relation commerciale et respectant la duree minimale de preavis determinee, en reference aux usages du commerce, par des accords interprofessionels. [….]“ (vgl. unter /www.legifrance.gouv.fr/, mit Verlinkungen, sowie weiter gehend Rn. 5 der Besprechungsentscheidung).
3. Im deutschen Recht vermochte in Fällen wie hier bei bestehender Vertragsbeziehung bis zur Schuldrechtsreform das vormalige Institut der positiven Vertragsverletzung zu helfen, heute ist Anspruchsgrundlage u.a. § 280 Abs. 1 BGB. Die Ansprüche gründen sich auf Verletzung des geschützten Vertrauens der anderen Seite und sie rekurrieren auch auf § 241 Abs. 2 BGB, da es um vertragliche Nebenpflichten geht (vgl. Grüneberg in: Palandt, BGB, 76. Aufl. 2017, § 280 Rn. 5, 8, 12). Ob die Beendigung der Vertragsbeziehung ohne angemessene Kündigungsfrist effektiv einen Ersatzanspruch generiert, ist Frage des Einzelfalls. Erforderlich ist ein Dauerschuldverhältnis.
Ist freilich eine einem Vertragshändlervertrag entsprechende Vertragsbeziehung zu bejahen, sind die hierfür geltenden Normen und Grundsätze heranzuziehen, die eine plötzliche Vertragsbeendigung (vom 10.12. des Jahres auf den 01.01. des unmittelbaren Folgejahres) ohne wichtigen Grund bei einem unbefristeten Vertrag wie hier nicht zulassen (vgl. Baumbach/Hopt, HGB, Einl. vor § 373 Rn. 38 ff., 40). Merkmal des Vertragshändlervertrages ist ein Dauerschuldverhältnis als Rahmenvertrag, das den Vertragshändler in die Vertriebsorganisation des Herstellers eingliedert. Er kann auch durch „Kettenverträge“ begründet werden. Die einzelnen Lieferverträge zwischen Vertragshändler und Hersteller sind rechtlich selbstständig (Baumbach/Hopt, HGB, Einl. vor § 373 Rn. 35, st. Rspr. des BGH, vgl. BGH, Urt. v. 09.10.2002 – VIII ZR 95/01 – BB 2002, 2520; der Senat hat § 89 HGB angewandt; zu den Charakteristika des Vertragshändlervertrages vgl. z.B. BGH, Urt. v. 04.04.1979 – VIII ZR 199/78 – BGHZ 74, 136, st. Rspr.). Auf weitere Einzelheiten des Vertragshändlerrechts, auf das ggf. das Handelsvertreterrecht analog angewendet werden kann (vgl. Baumbach/Hopt, HGB, Einl. vor § 373, Rn. 37), ist im vorliegenden Rahmen nicht weiter einzugehen. Die Ausführungen des EuGH in der Besprechungsentscheidung legen das Zustandekommen eines Vertriebsvertrages (in Deutschland: Vertragshändlervertrag) nahe.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der EuGH festigt und konturiert in seiner Entscheidung die bisherige Judikatur des Gerichtshofs. Der vorliegende Zwischenstreit mahnt die beteiligten Parteien bei einer ins Auge gefassten dauernden und unbefristeten kommerziellen Kooperation – insbesondere auch, wenn diese grenzüberschreitend ist – nachdrücklich zu einer geeigneten schriftlichen Vertragsdokumentation, die mindestens die unter Abschnitt C I. aufgeführten Klauseln enthält, die u.a. für Rechtssicherheit bei der Beendigung des Vertragsverhältnisses sorgen sollen. Schon ohne Wahl des materiellen Rechts hängt das weitere Schicksal der Vertragsbeendigung von der anzuwendenden Rechtsordnung ab; in dem vom EuGH entschiedenen Fall mag offenbleiben, ob französisches Recht und damit Art. L 442-6 CC anwendbar ist oder nicht. Bei der internationalen Zuständigkeit bleibt es im Hinblick auf die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen bei der Prüfungsreihenfolge des EuGH, die eine unerlaubte Handlung erst ins Auge fasst, wenn es an einem vertraglichen Anspruch fehlt. Ist ein vertraglicher oder aus einem Vertrag ableitbarer Anspruch zu bejahen, kommt es auf den Erfüllungsort an, der nach den Kriterien des Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO (= Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO) zu ermitteln ist, über die der EuGH im vorliegenden Urteil „Granorolo/Ambrosi Emmi France“ und in seiner entsprechenden früheren Rechtsprechung entschieden hat.