Nachfolgend ein Beitrag vom 21.11.2018 von Rinklin, jurisPR-StrafR 23/2018 Anm. 4
Leitsätze
1. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen beansprucht auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils weiterhin Geltung, wobei sich der Maßstab zugunsten des Gewichtes des staatlichen Strafanspruchs verschiebt.
2. Auch nach einer erstinstanzlichen Verurteilung ist das Beschleunigungsgebot durch eine fehlerhafte vom Angeklagten nicht zu vertretende und vermeidbare Verfahrensverzögerung verletzt, wenn nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht trotz des Rechtes des Angeklagten, sich durch einen Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, ein sachlicher Grund für eine Terminierung erst nach Ablauf von sieben Monaten nicht erkennbar ist.
A. Problemstellung
Der Senat musste sich mit der Frage auseinandersetzen ob Verzögerungen im Berufungsverfahren bei einem in Untersuchungshaft befindlichen und bereits erstinstanzlich zu einer nicht bewährungsfähigen Freiheitsstrafe verurteilten Angeklagten einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot darstellen und deshalb zur Aufhebung des Haftbefehls führen.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Angeklagte wurde vom Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die Hauptverhandlung (fünf Tage) fand von März bis April 2017 statt. Er befand sich in dieser Sache bereits seit Ende November 2016 in Untersuchungshaft, wobei der Haftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt war.
Nachdem Berufung eingelegt wurde, gingen die Akten am 28.06.2017 beim Landgericht ein. Da der zuständige Strafkammervorsitzende krankheitsbedingt bis zum 04.09.2017 verhindert und der erste zuständige Vertreter bis zum 07.07.2017 im Urlaub gewesen sei, sei die Sache am 29.06.2017 zunächst der zweiten Vertreterin vorgelegt worden. Diese sah sich an einer weiteren Förderung des Verfahrens gehindert und habe die Vorlage an den ersten Vertreter nach dessen Urlaubsrückkehr verfügt.
Dieser verfügte nach seiner Urlaubsrückkehr am 10.07.2017 sodann die Abfrage des Berufungsziels, ohne bereits konkrete Terminvorschläge zu unterbreiten.
Mit Verfügung vom 08.08.2017 wurden gegenüber den drei am Verfahren beteiligten Verteidigern Terminvorschläge für 13 Hauptverhandlungstage ab dem 10.10. bis zum 29.11.2017 unterbreitet. Nach Rückmeldung fanden sich drei übereinstimmende Termine der Verteidiger, woraufhin mit Verfügung vom 28.08.2017 weitere 13 Terminvorschläge zwischen dem 01.02.2018 und dem 23.02.2018 unterbreitet wurden. Temin zur Berufungshauptverhandlung wurde sodann mit Verfügung vom 15.09.2017 beginnend ab dem 06.02.2018 und sechs weiteren Folgeterminen anberaumt. Zeugen und ein Sachverständiger sind nur für die ersten drei Hauptverhandlungstage geladen worden.
Am 04.12.2017 hat der Verteidiger des Angeklagten Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Haftfortdauerbeschluss unter Hinweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots erhoben. Nachdem das Landgericht der Beschwerde nicht abgeholfen hatte, legte es diese dem Senat zur Entscheidung vor.
Die Beschwerde des Angeklagten hatte Erfolg, obwohl auch nach Ansicht des Senats die Voraussetzungen des § 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StPO nach wie vor gegeben sind. Insbesondere bestehe gegen den Angeklagten der durch das erstinstanzliche Urteil konkretisierte, dringende Tatverdacht des Wohnungseinbruchdiebstahls in Tatmehrheit mit Diebstahl. Ferner bestehe weiterhin die Gefahr, dass der Angeklagte sich dem Strafverfahren entziehen werde. Mildere Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft i.S.d. § 116 Abs. 1 StPO seien zur Verfahrenssicherung nicht hinreichend geeignet.
Die Haftfortdauer sei infolge vermeidbarer und dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen aber unverhältnismäßig.
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen sei der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenüberzustellen, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17 Rn. 15). Dabei dürfe die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der erwarteten Strafe stehen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setze der Untersuchungshaft auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößere sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 Rn. 20).
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Angeklagten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat könnten zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17 Rn. 17).
Im Rahmen einer Abwägung zwischen Freiheitsanspruch des Betroffenen und Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer dabei anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Maßgeblich sind hierbei in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 Rn. 24). Bei absehbar umfangreicheren Verfahren sei stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 Rn. 41). Eine Verzögerung des Beschleunigungsgrundsatzes sei nur dann hinzunehmen, wenn hierfür wichtige Gründe vorliegen würden, wozu auch eine kurzfristige und nicht vorhersehbare Überlastung eines Spruchkörpers in Folge der Häufung anhängiger Sachen zählen könne, die auch durch Ausschöpfen aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht beseitigt werden kann (BGH, Urt. 24.09.1991 – 5 StR 364/91 – BGHSt 38, 68; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.01.1994 – 2 Ws 593/93 – StV 1995, 146).
Das Beschleunigungsgebot verliere seine Bedeutung auch nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gelte für das gesamte Strafverfahren und sei auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10 Rn. 22). Allerdings vergrößere sich, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig sei, mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden sei (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 13.05.2009 – 2 BvR 388/09 Rn. 23).
Der Senat beanstandete, dass die Abfrage nach dem Berufungsziel nicht bereits mit der Unterbreitung von vorsorglichen Terminvorschlägen verbunden und ohne ersichtlichen Grund die Terminsvorschläge für Februar 2018 unterbreitet worden seien.
Angesichts der Dauer der erstinstanzlichen Hauptverhandlungstermine mit einem Kurztermin und zwei weiteren Terminen mit einer Dauer von nur rund einer Stunde bei insgesamt fünf Hauptverhandlungstagen sowie der im Berufungsverfahren erfolgten Ladung von Zeugen und einem Sachverständigen an lediglich drei anberaumten Berufungshauptverhandlungstagen sei bereits zweifelhaft, ob mehr als drei Hauptverhandlungstage erforderlich seien. Angesichts des Umstands, dass seitens der Verteidiger bereits drei gemeinsame Hauptverhandlungstage im November 2017 gefunden werden konnten, hätte sich bei einer erneuten Korrespondenz mit der Verteidigung und vorausschauender ergänzender Terminplanung im Dezember der hier nur scheinbar unbehebbare Konflikt zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern des Beschleunigungsgebots in Haftsachen und dem sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Recht eines jeden Angeklagten, sich nach Möglichkeit vom Anwalt des Vertrauens vertreten zu lassen, voraussichtlich auflösen lassen.
C. Kontext der Entscheidung
Es ergehen inzwischen immer mehr Entscheidungen, die sich mit Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot auseinandersetzen und letztlich zur Aufhebung des Haftbefehls führen.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Kenntnis dieser Rechtsprechung für die Verteidiger von besonderer Bedeutung.
Das Besondere an dieser Entscheidung liegt letztlich darin, dass auch ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zur Aufhebung des Haftbefehls führte, obwohl bereits ein erstinstanzliches Urteil ergangen war. Auch in diesem Verfahrensabschnitt ist das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen. Es spielt dabei (wie vorliegend auch) keine Rolle ob der Haftgrund fortbesteht (vgl. OLG Brandenburg, Urt. v. 01.06.2016 – 4 U 125/15 – StraFo 2016, 152).
Grobe Verfahrensfehler bei der Erledigung von Routinearbeiten – z.B. durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch sonst absehbare und vermeidbare Umstände – können die gebotene zügige richterliche Bearbeitung konterkarieren und damit der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen (BVerfG, Beschl. v. 16.03.2006 – 2 BvR 170/06). Das OLG Köln hat sogar nach erstinstanzlicher Verurteilung wegen versuchten Mordes zu der Freiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot den Haftbefehl aufgehoben (OLG Köln, Beschl. v. 29.02.2016 – III-2 Ws 60/16, 2 Ws 60/16 – NJW-Spezial 2016, 281).
In diesem Verfahrensstadium ist u.a. an Verstöße wie z.B. eine Verzögerung der Urteilszustellung mangels Fertigstellung des Protokolls (§ 273 Abs. 4 StPO) oder eine Verzögerung wegen unwirksamer Urteilszustellung, weil das Sitzungsprotokoll nicht ordnungsgemäß fertiggestellt wurde, zu denken. Ebenso ist z.B. an einen Verstoß gegen § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO zu denken, wonach die Staatsanwaltschaft Gelegenheit hat, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung abzugeben (vgl. dazu OLG Köln, Beschl. v. 29.02.2016 – III-2 Ws 60/16, 2 Ws 60/16 – NJW-Spezial 2016, 281).
D. Auswirkungen für die Praxis
Für den Verteidiger gilt, dass dieser sich in Haftsachen unbedingt mit den Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot vertraut machen sollte, da ansonsten wertvolle Ansätze gegen die Verteidigung von vollstreckter Untersuchungshaft vergeben werden.
Zu beachten ist, dass das Beschleunigungsgebot auch dann gilt, wenn der Betroffene von dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont ist oder diese nicht vollzogen wird, weil er sich in anderer Sache in Haft befindet und für das anhängige Verfahren nur Überhaft notiert ist. Eine Verfahrensverzögerung oder gar Verfahrensverschleppung die zur Aufhebung des Haftbefehls führt, ist als Mangel nicht behebbar und wirkt dauerhaft bis zu dem Zeitpunkt fort, zu dem wegen der haftgegenständlichen Tat ein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist. Der Makel der rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehung wegen unzureichender Verfahrensförderung kann nicht getilgt werden, seine nachträgliche Heilung scheidet auf Grund der Art des Makels aus. Das unterscheidet eine auf Verfahrensverzögerung oder Verfahrensverschleppung gegründete Aufhebungsentscheidung maßgeblich von einer Aufhebungsentscheidung, die wegen fehlenden dringenden Tatverdachts oder Fehlens von Haftgründen ergeht. Die Aufhebungsentscheidung entfaltet somit eine Sperrwirkung (OLG Frankfurt, Beschl. v. 02.04.2013 – 1 Ws 28/13 – NStZ 2014, 357).
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