Beschluss vom 26. August 2014, Beschluss vom 26. August 2014

2 BvR 2172/13
2 BvR 2400/13

Im Strafverfahren hat das Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung mitzuteilen, ob Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung stattgefunden haben. Auch eine Negativmitteilung, dass keine solchen Gespräche stattgefunden haben, ist erforderlich. Dies hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden. Zwei Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs hat die Kammer aufgehoben, da ihnen eine Auslegung der Strafprozessordnung zugrunde liegt, die unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar ist.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Dem Verfahren 2 BvR 2172/13 liegt ein Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 23. Januar 2013 zugrunde, mit dem der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt wurde. Im Verfahren 2 BvR 2400/13 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht Potsdam am 14. Dezember 2012 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. In beiden Fällen legten die Beschwerdeführer Revision ein und rügten unter anderem einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 der Strafprozessordnung (StPO), weil das Landgericht es unterlassen habe, in öffentlicher Sitzung mitzuteilen, ob und ggf. welche Vorgespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten geführt wurden. Der Bundesgerichtshof verwarf beide Revisionen durch Beschlüsse vom 22. August 2013 und 17. September 2013 als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Revisionsentscheidungen verstoßen gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG).

  1. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Willkürlich ist ein Richterspruch erst dann, wenn Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist vielmehr in einem objektiven Sinne zu verstehen.
  2. Den Revisionsentscheidungen liegt eine Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO zugrunde, nach der eine Mitteilungspflicht nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben. Diese Auslegung verstößt in unvertretbarer und damit objektiv willkürlicher Weise gegen den eindeutigen objektivierten Willen des Gesetzgebers, wie er auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 herausgearbeitet wurde.
  3. a) § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO lautet: „Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.“

Der Wortlaut der sprachlich wenig geglückten Norm erscheint zwar auf den ersten Blick mehrdeutig (einerseits „ob“, andererseits „wenn“). Er lässt aber durch die weitere Formulierung „und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt“ auf das Bestehen einer Mitteilungspflicht auch für den Fall schließen, dass keine Verständigungsgespräche stattgefunden haben (sog. Negativmitteilungspflicht), weil es des Zusatzes „und wenn ja“ ansonsten nicht bedurft hätte. Da der Gesetzeswortlaut selbst bei einer Ersetzung des „ob“ durch ein „dass“ unverständlich bliebe, ist nicht das „ob“, sondern das „wenn“ als Redaktionsversehen einzuordnen.

  1. b) Die Gesetzessystematik spricht ebenfalls für eine Negativmitteilungspflicht. Wenn in § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO von „Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung“ die Rede ist, so lässt dies allein den Schluss zu, dass zu Beginn der Hauptverhandlung in jedem Fall eine Mitteilung – sei es positiv oder negativ – zu erfolgen hat. Eine klare Bestätigung dieser Sichtweise findet sich in § 78 Abs. 2 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG), wonach die Mitteilungspflicht im Bußgeldverfahren nur gilt, wenn eine Erörterung stattgefunden hat. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss eindeutig, dass im „normalen“ Strafprozess eine Mitteilungspflicht auch dann besteht, wenn keine Erörterung stattgefunden hat.
  2. c) Auch die Materialien zum Verständigungsgesetz belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber für den „normalen“ Strafprozess eine Negativmitteilungspflicht einführen wollte. Der Bundesrat ist der Einführung einer Negativmitteilungspflicht in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf entgegengetreten und hat deswegen eine abweichende Fassung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschlagen. Diese ist jedoch nicht Gesetz geworden. Es blieb vielmehr bei der im Regierungsentwurf vorgesehenen Fassung.
  3. d) Sinn und Zweck des dem Verständigungsgesetz zugrunde liegenden Regelungskonzepts, das umfassende Transparenz in Bezug auf Verständigungen im Strafprozess vorsieht, sprechen ebenfalls für eine Negativmitteilungspflicht.
  4. e) Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts legt die Vorschrift des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO dahingehend aus, dass sie eine Negativmitteilungspflicht beinhaltet (vgl. Urteil vom 19. März 2013, Rn. 98).
  5. Von einem Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf einer Grundrechtsverletzung ist bereits dann auszugehen, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung des verletzten Grundrechts zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Welche Darlegungsanforderungen der Bundesgerichtshof – bei Bejahung einer Negativmitteilungspflicht – an den Vortrag des Revisionsführers gestellt hätte und ob er die diesbezügliche Verfahrensrüge hiernach für zulässig erachtet hätte, ist zunächst eine Frage des einfachen Rechts, die nicht durch das Bundesverfassungsgericht zu beurteilen ist.

(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 17. September 2014)