Nachfolgend ein Beitrag vom 19.12.2017 von Linnartz, jurisPR-FamR 25/2017 Anm. 2
Leitsätze
1. Der Irrtum eines potentiellen Erben über die Zugehörigkeit eines Gegenstandes bzw. einer Forderung zum Nachlass (hier: Schmerzensgeldansprüche der Erblasserin aufgrund ihrer im Zusammenhang mit dem Absturz eines Flugzeugs der German Wings auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf erlittenen Todesangst) kann zur Anfechtung der Erbausschlagung berechtigen, wenn sich der Irrtum auf wertbildende Faktoren besonderen Gewichts bezieht, denen im Verhältnis zur gesamten Erbschaft eine erhebliche und für den Wert des Nachlasses wesentliche Bedeutung (hier bejaht für 25.000 Euro Schmerzensgeld bei einem im Erbscheinsantrag angegebenen Nachlasswert von 35.000 Euro) zukommt.
2. Dem weiteren Erfordernis der Ursächlichkeit des Irrtums für die Erbausschlagung genügt der Erbe, indem er dartut, dass er bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte (hier zunächst erklärte Ausschlagung mit Blick auf sich andeutende psychisch belastende Konflikte über die Erbauseinandersetzung, sodann – nach Kenntnis der Zugehörigkeit des Schmerzensgeldanspruchs zum Nachlass – Anfechtung der Ausschlagungserklärung und Geltendmachung (u.a.) dieses (übergegangenen) Anspruchs zur Verarbeitung des traumatischen Verlustes der Verwandten und als symbolische Wiedergutmachung zur Trauerbewältigung).
A. Problemstellung
Die Entscheidung befasst sich mit der Problematik der Anfechtung der Erbausschlagung, wenn ein Irrtum über die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zum Nachlass besteht.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Bei dem Absturz eines Flugzeugs der German Wings GmbH kamen die Erblasserin und ihr Vater ums Leben. Die Erblasserin war unverheiratet und kinderlos. Als Erbe kamen zwei Geschwister der vorverstorbenen Mutter der Erblasserin in Betracht (Beteiligter zu 2 und S.). Daneben waren aufgrund gesetzlicher Erbfolge eine Schwester des Vaters (Beteiligte zu 1) und die noch lebenden Brüder des Vaters der Erblasserin A.H., B.H. und C.H. zu Erben berufen. C.H. und sein Sohn schlugen die Erbschaft aus.
Auch die Beteiligte zu 1 schlug in notarieller Urkunde die Erbschaft aus. Hierzu kam es, weil sie nach Auskunft des die Ausschlagung beurkundenden Notars davon ausging, dass nur die Hinterbliebenen des Opfers Schadensersatzansprüche gegen German Wings hätten. Richtig ist jedoch, dass es Schadensersatzansprüche der Erblasserin gab. Bei diesen Ansprüchen sei zudem zu beachten, dass es sich um erhebliche Ansprüche handele, wenn man davon ausgeht, dass französische und amerikanische Gerichte deutlich höhere Schmerzensgeldansprüche ausurteilen, als deutsche Gerichte.
Der Nachlasswert betrug ca. 35.000 Euro, ohne einen möglichen Schadensersatzanspruch gegen German Wings, der mit ca. 25.000 Euro zu beziffern ist. Wegen dieses Mehrwerts focht die Beteiligte zu 1 ihre Erbausschlagung fristgerecht an. Von einem möglichen Schadensersatzanspruch habe sie erst nach ihrer Ausschlagung erfahren. Sie sei bei der Erbausschlagung nach Auskunft durch den Notar davon ausgegangen, dass es mögliche Ansprüche gegen German Wings gerade nicht gibt.
Dieser Irrtum sei für die Erbausschlagung ursächlich gewesen. Schließlich sei sie durch die Nachricht vom Tod der Erblasserin und deren Vater am 24.03.2015 im Zeitpunkt der Erbausschlagung vor dem Notar am 28.04.2015 noch traumatisiert gewesen. Sie habe sich in einem Zustand der Verwirrung und großer Traurigkeit befunden. Daher sei sie kaum in der Lage gewesen, sich den unmittelbar nach dem Unglück andeutenden Konflikten im Hinblick auf die Erbauseinandersetzung zu stellen. Aus dieser Situation heraus habe sie sich wegen der Erbausschlagung an den Notar gewendet. Bei der Besprechung mit dem Notar sei es ihr entscheidend darauf angekommen zu klären, ob auch Passagiere Ansprüche gegen German Wings zustünden. Schließlich hätten solche Ansprüche für sie einen wesentlichen Teil der Trauerbewältigung ausmachen können. Entgegen der Auffassung des Nachlassgerichts habe die Beteiligte zu 1 die Erbschaft nicht ausgeschlagen, weil sie diese für uninteressant hielt (Quote 1/6), sondern den familiären Konflikt aufgrund ihres krankheitsbedingten psychischen Ausnahmezustandes nicht gewachsen sah. Hätte sie von den Ansprüchen gegen German Wings Kenntnis gehabt, hätte sie die drohende familiäre Auseinandersetzung in Kauf genommen.
Von einer erfolgreichen Anfechtung ausgehend beantragten die Beteiligte zu 1 und der Beteiligte zu 2 einen Erbscheinsantrag, der den Beteiligten zu 2 und S. als Geschwister der vorverstorbenen Mutter der Erblasserin zu je ¼ als Erben auswies. Die Beteiligte zu 1 und zwei ihrer Brüder sollten Erben zu je ein 1/6 werden.
Das Nachlassgericht sah jedoch die Beteiligte zu 1 aufgrund ihrer Ausschlagung und erfolgloser Anfechtung als nicht erbberechtigt an. Ihrer Beschwerde half das Nachlassgericht nicht ab.
Das OLG Düsseldorf hat der Beschwerde der Beteiligten zu 1 stattgegeben.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts ist der Erbschein antragsgemäß zu erteilen. Die Erbausschlagung stehe dem nicht entgegen. Diese sei erfolgreich angefochten.
Ein Anfechtungsgrund ergebe sich im vorliegenden Fall nicht aus § 119 Abs. 1 BGB. Es läge aber bei der Beteiligten zu 1 ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft i.S.v. § 119 Abs. 2 BGB vor. Die Erbschaft werde grundsätzlich als Sache i.S.d. § 119 Abs. 2 BGB angesehen. Ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Erbschaft berechtige somit zur Anfechtung von Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft.
Im vorliegenden Fall stelle die Zugehörigkeit von Schmerzensgeldansprüchen der Erblasserin zum Nachlass eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Erbschaft dar, hinsichtlich der ein Irrtum möglich sei. Ein Irrtum über die Größe des Nachlasses stelle grundsätzlich keinen Anfechtungsgrund dar. Schließlich seien nicht der Wert des Nachlasses an sich, sondern die wertbildenden Faktoren des Nachlasses als Eigenschaft anzusehen. Damit könne ein Gegenstand oder eine Forderung eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Erbschaft sein. Als verkehrswesentlich seien dabei wertbildenden Faktoren vom besonderen Gewicht anzusehen. Von einem besonderen Gewicht der wertbildenden Faktoren sei auszugehen, wenn die Sache (Forderung) im Verhältnis zur gesamten Erbschaft ein erhebliches Gewicht habe und für den Nachlass von wesentlicher Bedeutung sei.
In diesem Fall sei allein aufgrund der Höhe des von der Beteiligten zu 1 vermuteten Schmerzensgeldanspruchs (25.000 Euro) im Verhältnis zum gesamten Nachlass ohne den Schmerzensgeldanspruch (35.000 Euro) ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Erbschaft gegeben.
Der Irrtum der Bet. zu 1 sei auch kausal für ihre Erbausschlagung gewesen.
Sie habe dargetan, dass sie bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falls die Ausschlagung nicht erklärt hätte. Dabei komme wirtschaftlichen Erwägungen ein besonderes Gewicht zu. Diese Voraussetzungen seien gegeben: Die Ausschlagung sei wegen des sich andeutenden Konflikts bei der Erbauseinandersetzung erfolgt. Hätte die Beteiligte zu 1 von der Zugehörigkeit des Schmerzensgeldanspruchs zum Nachlass gewusst, hätte sie bei verständiger Würdigung die Ausschlagung nicht erklärt. Das Oberlandesgericht verkenne dabei nicht, dass höhere Nachlasswerte auf härtere Erbauseinandersetzungen schließen lassen. Dabei sei aber zu beachten, dass die Geltendmachung der Schmerzensgeldansprüche, so das Bekunden der Beteiligten zu 1, für sie persönlich zur Verarbeitung traumatischen Verlustes eines Verwandten wichtig sei. Die Zurechnung eines Schmerzensgeldanspruchs sei zur Trauerbewältigung geeignet.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung steht und fällt mit der Entscheidung über die rechtliche Wirkung der Anfechtung. Ein Anfechtungsgrund aus § 119 Abs. 1 BGB kann gegeben sein, wenn der Erklärende sich über die Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt. Dabei muss aber das vorgenommene Rechtsgeschäft eine wesentlich andere Rechtswirkung erzeugen als die, die beabsichtigt war (BGH, Urt. v. 29.06.2016 – IV ZR 387/15 – ZEV 2016, 574). Ein Irrtum über die Rechtsfolgen der Ausschlagungserklärung im Hinblick auf Schmerzensgeldansprüche lag jedoch nicht vor. Es lag vielmehr ein Irrtum darüber vor, ob die Schmerzensgeldansprüche Bestandteil des Nachlasses sind.
Das OLG Düsseldorf hat hier die Rechtsprechung aufgegriffen, dass ein Irrtum darüber, ob die Erbschaft finanziell uninteressant ist, nicht angefochten werden kann, wenn der Nachlass sich später als wertvoller herausstellt (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 05.09.2008 – I-3 Wx 123/08 – ZEV 2009, 137; BayObLG, Beschl. v. 16.03.1995 – 1Z BR 82/94 – NJW-RR 1995, 904; Otte in: Staudinger, BGB, Bearbeitung 2008, § 1954 Rn. 14).
Dagegen kann ein Irrtum darüber, dass bestimmte Rechte zum Nachlass gehören zur Anfechtung berechtigen. Es muss sich dabei dann aber um eine wesentliche Eigenschaft handeln (KG, Beschl. v. 11.08.1992 – 1 W 38/91 – FamRZ 1992, 1477; Leipold in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2017, § 1954 Rn. 11). Zu den Eigenschaften der Erbschaft gehört dabei die Zusammensetzung des Nachlasses. Eine wesentliche Eigenschaft wird angenommen, wenn ein Irrtum darüber vorliegt, ob der Nachlass überschuldet oder nicht überschuldet ist, sofern der Irrtum auf falsche Annahme über das Vorhandensein von Nachlassgegenständen oder Nachlassverbindlichkeiten beruht. Eine fehlerhafte Entscheidung zu den Wertvorstellungen ist allerdings unerheblich (OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.06.2013 – 7 U 130/12 – ErbR 2015, 91; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.01.2011 – 3 Wx 21/11 – ZEV 2011, 317; OLG Stuttgart, Urt. v. 29.01.2009 – 19 U 150/08 – ZErb 2009, 297; KG, Beschl. v. 16.03.2004 – 1 W 120/01 – ZEV 2004, 238; Leipold in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2017, § 1954 Rn. 13).
Die Entscheidung stellt weiter klar, dass die verkehrswesentliche Eigenschaft nicht davon abhängt, dass eine Überschuldung des Nachlasses im Raum steht. Verkehrswesentlich sind wertbildende Faktoren von besonderem Gewicht. Dies ist anzunehmen, wenn der wertbildende Faktor im Verhältnis zur gesamten Erbschaft eine erhebliche und für den Nachlass wesentliche Bedeutung hat (BayObLG, Beschl. v. 11.01.1999 – 1Z BR 113/98 – ZEV 1998, 430).
D. Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bedeutet die Entscheidung, dass eine Anfechtung der Erbausschlagung einer gründlichen Beratung bedarf. Es sind die Vorstellungen des Ausschlagenden im Zeitpunkt der Ausschlagung mit den späteren Vorstellungen des Ausschlagens zu vergleichen. Dabei ist darauf zu achten, ob die Kausalität gegeben ist und natürlich die Anfechtungsfrist des § 1954 Abs. 1 BGB gewahrt wird.
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