Nachfolgend ein Beitrag vom 13.4.2017 von Itzel, jurisPR-BGHZivilR 7/2017 Anm. 4
Leitsätze
1. Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht wegen Verstoßes gegen winterliche Räum- und Streupflichten setzt entweder das Vorliegen einer allgemeinen Glätte voraus oder das Vorliegen von erkennbaren Anhaltspunkten für eine ernsthaft drohende Gefahr aufgrund vereinzelter Glättestellen.
2. Eine Gemeindesatzung über den Straßenreinigungs- und Winterdienst muss nach dem Grundsatz gesetzeskonformer Auslegung regelmäßig so verstanden werden, dass keine Leistungspflichten begründet werden, die über die Grenze der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten hinausgehen.
A. Problemstellung
Umfang und Grenzen des Winterdienstes (Streu- und Räumpflichten) führen in Schadensfällen immer wieder zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Neben den regelmäßig auftretenden Fragestellungen nach zeitlichem Beginn und Ende der Pflicht, der Verantwortlichkeit bei Blitzeis oder bei lang andauerndem Schneefall, der Pflicht zum vorbeugenden Streuen und der Mitverantwortung des gestürzten Bürgers oder Führers des verunfallten Fahrzeuges kommt nunmehr die Frage nach den inhaltlichen Grenzziehungen der Winterdienstpflicht bei satzungsmäßiger Übertragung derselben auf den (anliegenden) Bürger in den Fokus der Betrachtung. Dabei erlauben die (landesrechtlichen) Straßen(reinigungs)gesetze regelmäßig die Überbürdung der eigentlich die öffentliche Hand treffende Streu- und Räumpflicht auf die Eigentümer der den Verkehrsflächen anliegenden Grundstücke. Dies erfolgt durch entsprechende (Orts-)Satzungen, die meist in Umfang und Grenzen recht weitgehend und für den Bürger entsprechend belastend sind (vgl. nur z.B. die entsprechenden Satzungen der Städte Köln und Krefeld unter „Winterwartung“). Geht nun eine Satzung über die Ermächtigungsnorm hinaus oder verlangt sie vom Bürger mehr als das, was die Gemeinde an Verkehrssicherungspflicht ansonsten zu leisten hätte, stellen sich weitergehende Fragen. Letztlich wird zu entscheiden sein, ob der Satzungsbefehl im Schadensfall zu einer Haftung führt oder ob der Eigentümer sich auf einen auch ansonsten allgemein gültigen Standard für den Winterdienst zurückziehen kann.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Geschädigte kam im Januar 2013 gegen 7:20 Uhr auf dem Gehweg vor dem innerstädtisch gelegenen Hausgrundstück der Beklagten zu Fall und verletzte sich hierdurch nicht unerheblich. Die Klägerin zahlte als Arbeitgeberin der Geschädigten dieser den Verdienst fort und geht aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte vor. Der Sturz ereignete sich auf einer 1 x 1 m großen Glatteisfläche. Der übrige Gehwegbereich war trocken und geräumt.
Der BGH hat zunächst die allgemeine und überzeugende Auffassung bestätigt, nach der der Anlieger im Fall der satzungsmäßigen Übertragung der Winterdienstpflicht nicht als „Werkzeug, Verwaltungshelfer“ für die nach Straßenrecht eigentlich verpflichtete öffentliche Hand (im Regelfall Kommune) handelt, mithin über § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 GG eine Haftungsüberleitung gerade nicht eintritt (vgl. Itzel, MDR 2015, 1217 m.w.N.). Vielmehr haftet der Anlieger nach allgemeinem Deliktsrecht, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB mit der Satzung als Schutznorm. Unter Berücksichtigung der allgemeinen (Verkehrssicherungs-)Pflichten für den Winterdienst, vor allem, dass die Pflicht eine „allgemeine Glätte“ und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen voraussetzt, gelangt der Senat zur Negierung einer Streupflicht im vorliegenden Fall. Es lag tatbestandlich festgestellt gerade nur eine einzelne Glättestelle vor. Den vom Wortlaut weitergehenden Normbefehl der Satzung, der eine „allgemeine Glätte“ nicht voraussetzt, führt der BGH im Wege „gesetzeskonformer Auslegung“ auf den oben dargestellten allgemeinen Pflichtenumfang zurück. Er begründet dies abschließend damit, dass die Kommune mittels Satzung die allgemeinen Winterdienstpflichten konkretisieren, aber nicht erweitern wollte. Wegen Fehlens einer allgemeinen Glätte und da auch sonstige Pflichten – tatbestandlich festgestellt – nicht verletzt wurden, hat der BGH das klageabweisende amtsgerichtliche Urteil wieder hergestellt.
C. Kontext der Entscheidung
Im Zentrum dieser wie auch vorangegangener Entscheidungen (BGH, Urt. v. 23.07.2015 – III ZR 86/15 – MDR 2015, 1001; OLG Hamm v. 10.09.2014 – I-11 U 20/14 – BADK-Information 2015, 157) steht die Frage, ob und in welchem Umfang der Gesetz- und ggf. auch der Satzungsgeber (Verkehrssicherungs-)Pflichten neu schaffen und/oder erweitern kann. Wie aus der BGH-Entscheidung zum Berliner Straßenrecht (BGH, Urt. v. 05.07.2012 – III ZR 240/11 – MDR 2012, 1088) ersichtlich, kann der Gesetzgeber durchaus den Pflichtenumfang insbesondere im Straßenrecht zugunsten des Bürgers durch Gesetzesänderung erweitern. Ob dies auch für Satzungen gilt, ist bislang noch nicht eingehend angesprochen und geklärt worden. Insoweit ist wohl entscheidend auf die jeweilige Ermächtigungsnorm abzustellen.
Hier ist dann zu klären, ob und ggf. in welchem Umfang ermächtigungsnormüberschreitende Satzungen (teilweise) nichtig sind. Im vorliegenden Fall war die satzungsmäßige Winterdienstpflicht weitergehend als die allgemeine aus dem Straßenrecht (Ermächtigungsnorm) sich ergebende Pflichtenstellung, wobei diese Festlegungen rein richterrechtlich erfolgen. Der überschießende Pflichtenteil war nicht gesetzlich abgedeckt und damit nicht verbindlich. Der BGH hat diese Konfliktlage pragmatisch durch Normauslegung auf „Vermutungsbasis“ („… ist deshalb davon auszugehen …“) gelöst. Allerdings führt dieser Weg letztlich dazu, dass Normkonkretisierungen durch Satzung völlig obsolet erscheinen, da verbindlich ausschließlich die allgemeinen Anforderungen an die Winterdienstpflichten sind, so wie sie sich letztlich aus der Rechtsprechung (nicht immer in allen Punkten einheitlich) ergeben. Für davon abweichende Festlegungen nach Zeit, Inhalt und sonstige Konkretisierungen durch (Orts-)Satzung bleibt dann kein Raum.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang noch, dass eine Berechtigung für über die straßenrechtliche Satzungsermächtigung hinausgehende Pflichten des Bürgers sich ggf. aus dem jeweiligen Gemeinderecht, Gemeindegesetz – eher theoretisch – ergeben könnte (früher: Hand- und Spanndienste der Einwohner).
Unter Beachtung der vorliegenden BGH-Entscheidung werden satzungsmäßige Bestimmungen zum zeitlichen Umfang und der zu bedienenden Flächen (insbesondere Straßenkörper, außerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile belegene Grundstücke) kritisch zu würdigen sein. Dies schafft für Kommunen und Bürger sicherlich keine abschließende Klarheit über die wahrzunehmenden Pflichten, wobei die Überwachung der Anlieger-Winterdienstpflichten durch die Kommune privatrechtlich ausgestaltet sein dürfte. Der Verweis auf § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB greift in jedem Fall zugunsten der überwachenden Gemeinde nicht ein.
D. Auswirkungen für die Praxis
Sollte die vorliegende BGH-Entscheidung der Beginn einer neuen Tendenz zur Einschränkung satzungsbegründeter Winterdienstpflichten der Bürger (anliegende Grundstückseigentümer) sein, so ist dies zum einen hinsichtlich unsinniger Pflichten (Räumung von Straßen durch Anlieger bis zur Straßenmitte usw.; vgl. o. Satzungen der Städte Köln und Krefeld) begrüßenswert. Problematisch wird dies aber für Bürger, Anwälte und Gerichte, wenn konkrete Vorgaben in Satzungen hinsichtlich Ort, Zeit und einzusetzende Mittel interpretativ auf die „Grenzen der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten“ zurückgeführt werden. Die konkreten Handlungspflichten sind dann unbeachtlich, und die satzungsrechtlichen Regelungen laufen leer. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Inhalt und Grenzen der „allgemeinen Verkehrssicherungspflichten“ nicht statisch, auch nicht normiert sind. Die Festlegungen beruhen auf richterrechtlichen (überwiegend) konsensfähigen Einzelfallentscheidungen. Es bleibt dann für den Bürger (Schädiger und Geschädigter) ein Bereich der völligen Unsicherheit hinsichtlich einzuhaltender Winterdienstpflichten. Insoweit ist zu hoffen, dass eine Entscheidung in einem konkreten Einzelfall vorliegt und konkrete Anweisungen für den Winterdienst in Satzungen weiterhin Valenz und Handlungssteuerungspotential für den Bürger besitzen.