Nachfolgend ein Beitrag vom 24.10.2017 von Hippeli, jurisPR-HaGesR 10/2017 Anm. 4)
Leitsatz
Ob grob fahrlässige Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorliegt, wenn ein Kapitalanleger eine Risikohinweise enthaltende Beratungsdokumentation „blind“ unterzeichnet, muss der Tatrichter aufgrund einer umfassenden tatrichterlichen Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls feststellen (Fortführung von Senat, Versäumnisurt. v. 23.03.2017 – III ZR 93/16).
A. Problemstellung
Im Kern ging es in der vorliegenden Entscheidung darum, ob es – unter Verjährungsaspekten – ohne weiteres als grob fahrlässig anzusehen ist, wenn der einem Fonds beitretende Anleger die Risikohinweise nicht liest, sie aber im Rahmen der Anlagevermittlung als Teil eines Dokumentenkonvoluts (sog. Beratungsdokumentation) vorgelegt bekommt und „blind“ unterzeichnet.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger begehrte u.a. von seinem Schwiegersohn Schadensersatz in Form der Rückabwicklung wegen Pflichtverletzungen im Rahmen der Anlagevermittlung. Der Schwiegersohn ist als Finanzberater tätig. Seinen Schweigereltern riet er dazu, ihre Ersparnisse umzuschichten. Im Zuge dessen sollten diese aus sicheren Anlageformen (Sparkonten; Bausparverträge; Lebens- und Rentenversicherungen) aussteigen und sich stattdessen an einem Fonds in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG beteiligen, dessen Anlagekonzept in der Realisierung kurzfristiger Kursgewinne aus dem Handel mit Wertpapieren und Finanzinstrumenten aller Art besteht. Der Kläger und seine Ehefrau traten dem Fonds sodann auch tatsächlich als mittelbare Kommanditisten bei. Der Kläger vertrat nun die Ansicht, sein Schwiegersohn habe im Vermittlungsgespräch Aufklärungspflichten in Bezug auf Eigenschaften des Fonds und bestehende Risiken verletzt. Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos.
Der BGH hat die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Letztlich müsse davon ausgegangen werden, dass ein Schadensersatzanspruch des Klägers i.S.d. § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB wegen Schlechterfüllung etwa eines Anlagevermittlungsvertrags gegeben ist.
Zunächst einmal hafte die neben dem Schwiegersohn des Klägers beklagte Gründungskommanditistin des Fonds für im Rahmen der Vermittlung der Fondsanteile begangene Pflichtverletzungen. Dies gelte auch vorliegend, wo diese sich des Schwiegersohns des Klägers als Untervermittler bedient hat. Zudem hafte der Schwiegersohn des Klägers wohl wegen der familiären Nähe zum Kläger und dessen Ehefrau, die auf eine Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens i.S.d. § 311 Abs. 3 BGB schließen lässt.
Offenbar sei das Vermittlungsgespräch in Bezug auf die gebotene Aufklärung über wesentliche Eigenschaften des Fonds und der Beteiligung anhaftende Risiken vorliegend auch unrichtig bzw. unvollständig gewesen. Ein in diesem Zusammenhang ggf. zu berücksichtigender richtiger und vollständiger Emissionsprospekt sei auch nicht vor dem maßgeblichen Zeitpunkt des Beitritts zum Fonds übergeben worden.
Der für Aufklärungspflichtverletzungen darlegungs- und beweisbelastete Kläger habe die entsprechenden Darlegungen vorgenommen und als Zeugen seine drittwiderbeklagte Ehefrau, seine Tochter sowie sich selbst und seinen Schwiegersohn im Wege der Parteivernehmung i.S.d. §§ 445 ff. ZPO angeboten. Das Oberlandesgericht sei diesen Beweisantritten allerdings nicht gefolgt, was nicht frei von Rechtsfehlern sei. Jedenfalls habe das Beweismittel der Parteivernehmung genutzt werden müssen, da die tatbestandlichen Voraussetzungen vorlagen. Zumindest treffe dies auf den Kläger und seine drittwiderbeklagte Ehefrau zu. Diesbezüglich sei ein Ermessensfehlgebrauch im Rahmen der Parteivernehmung von Amts wegen i.S.d. § 448 ZPO erkennbar, da – unterstellt, der vorhandene Prozessstoff wäre ausgeschöpft worden – eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des klägerischen Vorbringens bestand.
Weiterhin seien auch die Annahmen des Oberlandesgerichts zum Verjährungseintritt infolge grob fahrlässiger Unkenntnis einzelner Anlagerisiken i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB fehlerhaft, da sie von den Feststellungen des Landgerichts nicht getragen werden. Danach hätten der Kläger und seine Ehefrau zwar das Beratungsprotokoll und somit auch die hierin beinhalteten Risikohinweise auf der letzten Seite der Beitrittserklärung zum Fonds (= Zeichnungsschein) nicht gelesen, letztlich aber dennoch unterschrieben. Dass die Risikohinweise optisch nicht auffällig waren, sei allerdings in rechtsfehlerhafter Weise nicht weiter beanstandet worden. Auf grob fahrlässige Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB könne aber nicht alleine schon deshalb geschlossen werden, wenn der hiernach unterzeichnende Anlageinteressent den überlassenen Emissionsprospekt, den Zeichnungsschein oder die Beratungsdokumentation nicht liest. Entscheidend sei vielmehr stets eine umfassende Würdigung des Einzelfalls. Vorliegend lasse sich aber festhalten, dass Feststellungen hierzu jenseits des Umstands „Unterschrift ohne Kenntnisnahme“ bislang unterblieben sind.
C. Kontext der Entscheidung
Der vorliegende Fall knüpft nahtlos an ein anderes Judikat des III. Zivilsenats des BGH aus dem Jahr 2017 an (BGH, Versäumnisurt. v. 23.03.2017 – III ZR 93/16 – NJW 2017, 2187). Dort wurde entschieden, dass alleine der Umstand, dass ein Anlageinteressent, dem nach Abschluss der Anlageberatung noch rein formal der Zeichnungsschein zur Unterschrift vorgelegt wird, den Text des Scheins vor der Unterzeichnung nicht durchliest und deshalb nicht den Widerspruch zwischen der erfolgten Beratung und im Zeichnungsschein enthaltenen Angaben zur Anlage bemerkt, keinen Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB rechtfertigt. Schließlich müsse ein Anlageinteressent „regelmäßig nicht damit rechnen, dass er aus dem Text eines Zeichnungsscheins, der ihm nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung vorgelegt wird, substantielle Hinweise auf Eigenschaften und Risiken der Kapitalanlage erhält. Erst recht muss er nicht davon ausgehen, dass von ihm zur Vermeidung des Vorwurfs grober Fahrlässigkeit erwartet wird, den Text durchzulesen, um die erfolgte Beratung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die unterlassene Lektüre ist daher in einer solchen Situation für sich allein genommen nicht schlechthin unverständlich oder unentschuldbar und begründet deshalb im Allgemeinen kein in subjektiver und objektiver Hinsicht grobes Verschulden gegen sich selbst. Eine andere Beurteilung kann etwa dann in Betracht kommen, wenn der Berater den Anleger ausdrücklich darauf hinweist, er solle den Text vor Unterzeichnung durchlesen, und er dem Kunden die hierzu erforderliche Zeit lässt oder wenn in deutlich hervorgehobenen, ins Auge springenden Warnhinweisen auf etwaige Anlagerisiken hingewiesen wird oder wenn der Anleger auf dem Zeichnungsschein gesonderte Warnhinweise zusätzlich unterschreiben muss.“
Die Vorinstanz, das OLG Frankfurt (Urt. v. 22.01.2016 – 24 U 156/14), hatte dies noch anders beurteilt: Danach hätte die Anlageinteressentin jedenfalls die Unterschiede wahrnehmen und die Beraterin mit den Widersprüchen konfrontieren müssen; da sie dies nicht getan habe, bestehe bei ihr die grob fahrlässige Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB.
Letztlich erscheint es wenig verständlich, dass der III. Zivilsenat des BGH die Maßstäbe seiner Entscheidung vom 23.03.2017 nunmehr schematisch auf den vorliegenden Fall überträgt. Denn schließlich ist es etwas völlig anderes, ob dem Anlageinteressenten nur noch formal ein Dokument vorgelegt wird, in dem er keine Rechtsfolgen auslösenden Risikohinweise erwarten kann, oder ob er eine Beratungsdokumentation ausgehändigt erhält, die natürlich eine gewisse Rechtserheblichkeit aufweist (dies bejahend auch OLG Celle, Urt. v. 23.06.2016 – 11 U 9/16 – BKR 2017, 33), so dass natürlich eine Prüfpflicht des Anlageinteressenten besteht. Eine Rechtserheblichkeit der Beratungsdokumentation ergibt sich schon im Binnenvergleich mit dem Beratungsprotokoll bei der Anlageberatung von Banken oder der Versicherungsmittlung, wo dies ebenfalls Einfluss auf den späteren Haftungsprozess haben kann (vgl. etwa Spindler in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, 2. Aufl. 2016; Kap. 33 Rn. 194 ff.; Schimikowski in: Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, 3. Aufl. 2017, 3. Teil Rn. 123). Teilweise wird dementgegen aber wesentlich weitergehend davon ausgegangen, dass von keiner Rechtserheblichkeit ausgegangen werden kann, da durch eine Beratungsdokumentation keine „vertragliche Bindung erzeugt“ werden soll (Grüneberg, Die Bankenhaftung bei Kapitalanlagen, 2017, S. 198; Maier, VuR 2017, 56). Letztgenannte Ansicht beschränkt die Rechtswirkung aber unverständlicherweise rein auf Primäransprüche.
Nicht angezeigt ist auch die vorliegend faktisch vorgenommene, aber nicht weiter erläuterte Gleichsetzung mit der Nichtbeachtung des Emissionsprospekts. Nach der Rechtsprechung des III. Zivilsenats des BGH ergibt sich darauf bezogen ebenfalls alleine noch keine grob fahrlässige Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Dort geht es grundlegend darum, dass der Anlageinteressent es unterlassen hat, prospektgestützt die Inkongruenzen zu den Ratschlägen und Auskünften des Anlageberaters oder Anlagevermittlers zu eruieren (vgl. BGH, Urt. v. 08.07.2010 – III ZR 249/09 – NJW 2010, 3292; BGH, Urt. v. 16.03.2017 – III ZR 489/16 – WM 2017, 708; Grüneberg, Die Bankenhaftung bei Kapitalanlagen, S. 197). Allerdings wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass kein Verschulden des Anlageinteressenten gegen sich selbst vorliegt, wenn er von der Durchsicht des Emissionsprospekts Abstand genommen hat, weil er bereits zuvor besonderes Vertrauen in die Aussagen des Anlageberaters oder Anlagevermittlers gesetzt hat. Wesentlich dürfte es in diesem Zusammenhang aber auch darum gehen, dass dem Anlageinteressenten die Durchsicht des regelmäßig sehr umfangreichen Emissionsprospekts nicht zuzumuten ist. Etwas völlig anderes ist aber eine quantitativ überschaubare Beratungsdokumentation, wo eine kurze Sichtung durchaus möglich erscheint. Zumal die Beratungsdokumentation anders als der Emissionsprospekt noch unterschrieben werden muss, so dass die Warnfunktion der Unterschrift zu einer gesteigerten Vorsicht veranlasst (vgl. im Ansatz auch OLG Celle, Urt. v. 23.06.2016 – 11 U 9/16 – BKR 2017, 33, 35; a.A. Maier, VuR 2017, 56, „Unterschrift als bloße Empfangsbestätigung“). Im Prinzip ist die Unterschrift der eigentliche Abgrenzungskern: Das grundsätzlich zuzubilligende Vertrauen in die Aussagen des Anlageberaters oder Anlagevermittlers wird dann erschüttert, wenn dieser etwas gerade zur Unterschrift vorlegt und hier Diskrepanzen zum Anlage- oder Vermittlungsgespräch auftreten. Wird dann „blind“ unterschrieben, muss von grober Fahrlässigkeit gesprochen werden. Warum sollte dies bei Anlageberatung/Anlagevermittlung anders sein als andernorts im Rechtsverkehr?
Abzugrenzen ist der Fall auch von einer weiteren Entscheidung des III. Zivilsenats des BGH (Urt. v. 17.03.2016 – III ZR 47/15 – WM 2016, 732), wo es zwar auch um die grob fahrlässige Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Zusammenhang mit der Beratungsdokumentation ging. Dort allerdings stand lediglich in Rede, ob der Anlageinteressent die Beratungsdokumentation auch noch nach dem Beitritt zum Fonds lesen muss, so dass er seine Anlageentscheidung vor dem Hintergrund etwaiger Widersprüche zur tatsächlich erfolgten Beratung nachträglich hinterfragen kann.
D. Auswirkungen für die Praxis
Auswirkungen für die Praxis sind durchaus vorhanden. Das vorliegende Judikat gibt dem Anlageinteressenten/Anleger erneut mehr Sicherheit (ob er diese verdient hat oder auch nicht). Im Prinzip reicht es nun i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB rundweg aus, dass er geltend macht, dass er auf die Aussagen des Anlageberaters oder Anlagevermittlers vor Vertragsabschluss vertraut hat. Alle ihm ausgehändigten/unterzeichneten Unterlagen muss er dann nicht lesen und auf etwaige Inkongruenzen zum Beratungs-/Vermittlungsgespräch untersuchen.
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