Nachfolgend ein Beitrag vom 4.7.2018 von Mayer, jurisPR-StrafR 13/2018 Anm. 1
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. In Fällen, in denen die zuständigen innerstaatlichen Behörden maskierte Polizeibeamte zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung oder zur Durchführung einer Festnahme einsetzen, ist es erforderlich, dass diese Beamten eine unverwechselbare Kennzeichnung, etwa eine Identifikationsnummer, sichtbar tragen. Das Tragen einer solchen Kennzeichnung wahrt ihre Anonymität und ermöglicht aber gleichzeitig ihre Identifizierung und Vernehmung, wenn es zu Beanstandungen bezüglich der Art und Weise, wie der Einsatz durchgeführt wurde, kommt. Eine unzureichende Kennzeichnung der Polizeibeamten und die daraus resultierende Unfähigkeit von Augenzeugen und Opfern, die Beamten, die Misshandlungen begangen haben sollen, zu identifizieren, kann dazu führen, dass eine bestimmte Kategorie von Polizeibeamten praktisch straflos bleibt (Festhaltung EGMR, 22.07.2014, 50275/08).
2. So kann auch der Einsatz behelmter Polizeibeamter ohne individuelle Kennzeichnung zur Absicherung eines Fußballspiels und zur Verhinderung von bzw. Vorgehen gegen Ausschreitungen durch rivalisierende Fußballfans geeignet sein, die Effektivität von Ermittlungen von Anfang an zu behindern.
3. Die Effektivität von Ermittlungen hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab und muss auf der Grundlage aller erheblichen Tatsachen und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten der Ermittlungsarbeit beurteilt werden. Wird das erforderliche Maß an Effektivität der Ermittlungen nicht erreicht und liegt somit ein Ermittlungsmangel vor, der verhindert, dass der Sachverhalt oder die Identität der Verantwortlichen (hier: insbesondere für Körperverletzungen durch Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray und für Freiheitsberaubungen) festgestellt werden kann, so führt dies in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 der Konvention.
4. Die Opfer der Verletzung von Art. 3 der Konvention haben einen immateriellen Schaden erlitten, der eine billige Geldentschädigung rechtfertigt, die vorliegend mit jeweils 2.000 Euro bemessen wird. Außerdem erhalten sie Ersatz von Kosten und Auslagen für innerstaatliche Verfahren (hier: Klageerzwingungsverfahren und Verfassungsbeschwerde) sowie Verzugszinsen.
A. Problemstellung
Der EGMR weist im vorliegenden Fall auf ein in Deutschland ungebrochen aktuelles und sehr emotional diskutiertes Problem hin: Jedenfalls die Kombination aus fehlender individueller Kennzeichnung von Polizeibeamten und einer hinzutretenden Maskierung verhindert die Identifizierung einzelner Beamter durch Augenzeugen und Opfer von Straftaten. Dies führt in der Praxis dazu, dass Beamte bei der Begehung von Straftaten straflos bleiben können. Der EGMR zeigt in seiner Entscheidung auf, wie mit dieser Problematik im Hinblick auf einen möglichen verfahrensrechtlichen Verstoß gegen Art. 3 EMRK umzugehen ist.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der EGMR hatte über die Individualbeschwerde zweier deutscher Staatsangehöriger, die insbesondere eine Verletzung von Art. 3 EMRK rügten, zu entscheiden. Die Beschwerdeführer hatten ein Fußballspiel der zweiten Mannschaften der rivalisierenden Vereine TSV 1860 München und FC Bayern München im Grünwalder Stadion in München besucht. Vor Ort waren Polizeibeamte des USK und der Bereitschaftspolizei im Einsatz gewesen. Diese hatten Uniformen und Helme mit Visier, jedoch keinerlei individuelle Kennzeichnung wie Identifikationsnummern oder Namensschilder getragen. Lediglich die Einsatzzüge waren auf den Uniformen vermerkt gewesen.
Nach Spielende hatte die Polizei die Tribüne der Fans des TSV 1860 München, zu denen auch die Beschwerdeführer gehörten, vorübergehend abgesperrt, um ein Zusammentreffen der Fanblocks zu vermeiden. Nach Aufhebung dieser Blocksperre war es seitens der Polizei zu gewaltsamen Übergriffen auf die Zuschauer mit Schlagstöcken und Pfefferspray gekommen. Die Gründe dafür sind nicht mehr rekonstruierbar. Ein Beschwerdeführer machte insofern eine Platzwunde durch einen Schlag auf den Kopf, der andere Beschwerdeführer das Sprühen von Pfefferspray in sein Gesicht und einen Schlag auf seinen Oberarm als Verletzungen durch das Vorgehen der Polizei geltend.
Die Presse hatte in den Folgetagen ausführlich über die Vorfälle nach dem Fußballspiel berichtet. Zahlreiche Augenzeugen hatten sich zu Wort gemeldet und von willkürlichen Übergriffen seitens der Polizei berichtet. Eine Woche nach dem Spiel hatte ein Polizeisprecher erklärt, dass in diesem Zusammenhang ermittelt werde. Mehrere Zuschauer hatten Strafanzeige gestellt. Auch die Beschwerdeführer haben formell, der eine circa drei Monate und der andere circa vier Monate nach dem Spiel, unter Vorlage ärztlicher Atteste Strafanzeige gestellt. Der Beschwerdeführer, der die Verletzung durch Pfefferspray und einen Schlag auf den Arm anmerkte, hatte dies bereits – nur nicht formell – knapp sechs Wochen nach dem Spiel zur Anzeige gebracht.
Die Ermittlungen sind durch die Polizei München unter Verantwortung der Staatsanwaltschaft München erfolgt. Als Zeugen sind die Beschwerdeführer, der Leiter des USK in München und die eingesetzten Zugführer des USK befragt worden. Den ermittelnden Behörden hat man auch eine DVD mit Ausschnitten der durch das USK vor Ort durchgeführten Videoüberwachung zur Verfügung gestellt. Da zwar Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass Polizeibeamte auf unverhältnismäßige Weise und ohne offizielle Anordnung oder Billigung mit Schlagstöcken gegen Zuschauer, darunter auch Frauen und Kinder, vorgegangen seien, aber keinen bestimmten Beamten konkrete Gewalthandlungen zugeordnet werden könnten, hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt.
Auf Beschwerde gegen die Einstellung hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen erneut aufgenommen. Es hat ein Treffen des polizeilichen Leiters der Ermittlungen, der Zugführer des USK und weiterer Unterabteilungsleiter der Polizei München stattgefunden. Weder die Staatsanwaltschaft, noch Vertreter der Beschwerdeführer sind daran beteiligt gewesen. Die einzelnen Mitglieder der USK-Züge, in denen die Beschwerdeführer die mutmaßlichen Täter aufgrund der Beweislage verortet haben, sind nicht als Zeugen vernommen worden. Auch ist nicht das gesamte Videomaterial der Videoüberwachung durch das USK zur Verfügung gestellt worden. Dieses hätte man bereits gelöscht und es sei nur noch die DVD mit den Ausschnitten vorhanden. Die Ermittlungen sind erneut eingestellt worden.
Auf die Beschwerde hin, es seien weder die einzelnen Mitglieder der USK-Züge gehört, noch darauf eingegangen worden, dass bisherige Zeugenaussagen der Zugführer mit den Videoausschnitten in Widerspruch stünden, hat die Generalstaatsanwaltschaft diese Einstellung bestätigt.
Ein Klageerzwingungsverfahren vor dem OLG München ist gescheitert, da ein derartiges Verfahren ohne Benennung eines Verdächtigen unzulässig sei. Es diene gerade nicht dem Zweck, einen Beschuldigten zu ermitteln oder Ermittlungen zu ersetzen. Eine darauf folgende Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Art. 2 Abs. 2, 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen.
Auch Verfahren wegen Strafvereitelung im Amt und Beweismittelunterdrückung im Hinblick auf die gelöschten Videoaufnahmen gegen fünf Polizeibeamte haben nur zur Einstellung geführt.
Der Gerichtshof hielt die zulässige Beschwerde für teilweise begründet:
Hinsichtlich der materiellen Rüge des Art. 3 EMRK erkannte er die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit, zumindest teilweise die Rolle eines erstinstanzlichen Tatgerichtes zu übernehmen. Der genaue Hergang der Geschehnisse am Spieltag sei zu rekonstruieren. Er sah im vorliegenden Fall die Beweislast für die behauptete Polizeigewalt bei den Beschwerdeführern. Unter anderem aufgrund des Zeitablaufs, der späten Anzeigen bzw. Atteste konnte der Gerichtshof daher nicht ohne jeden vernünftigen Zweifel feststellen, dass es zu den konkreten Gewalthandlungen gegenüber den Beschwerdeführern gekommen war.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ging der Gerichtshof von einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK aus. So habe eine vertretbare Behauptung, das heißt ein vernünftiger Verdacht, dass die Beschwerdeführer von der Polizei in gegen Art. 3 EMRK materiell verstoßender Weise misshandelt worden waren, vorgelegen. Die Unabhängigkeit der ermittelnden Beamten des Dezernats der Münchner Polizei von den USK-Einheiten hielt der Gerichtshof für gegeben. Die Ermittlungen seien auch zeitig eingeleitet und die Beschwerdeführer daran angemessen beteiligt worden.
Der Gerichtshof sah aber in der Kombination aus Einsatz nicht gekennzeichneter Polizeibeamter und fehlender Sicherung des gesamten Videomaterials ein Ungleichgewicht, das einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK in verfahrensrechtlicher Sicht darstelle. Der Einsatz nicht individuell durch eine Kennzeichnung identifizierbarer Beamter an sich mache Ermittlungen noch nicht unmöglich, erschwere diese aber spürbar. Es bedürfe daher eines Ausgleichs auf Ebene der Ermittlungen selbst. Dieser sei im Hinblick auf das Löschen des Videomaterials – obwohl es sehr zeitnah nach dem Fußballspiel zur Berichterstattung und Aufnahme der Ermittlungen gekommen war – daher im vorliegenden Fall nicht gegeben. Zudem sei die Löschung gerade nicht durch das ermittelnde Dezernat, sondern durch USK-Einheiten erfolgt, die nicht als unabhängig angesehen werden könnten.
Der Gerichtshof sprach den Beschwerdeführern eine Entschädigung für den immateriellen Schaden und die Verfahrenskosten und die Kosten für Auslagen zu.
In einer abweichenden Meinung zog Richter Hüseynov die Unabhängigkeit des ermittelnden Münchner Dezernats von den Münchner USK-Einheiten und damit der Ermittlungen an sich insgesamt in Zweifel. Er nahm dabei insbesondere Bezug auf die ständige internationale Kritik, u.a. der UN, an dem Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Stelle für unabhängige Ermittlungen im Fall von Vorwürfen gegen Polizeibeamte besitzt.
C. Kontext der Entscheidung
Der vorliegende Fall war nahezu ein Jahrzehnt Thema der Berichterstattung, der Fußballfanszenen und der Politik (vgl. beispielhaft BT-Drs. 19/354; Umlauft, Innenausschuss lehnt Kennzeichnungspflicht für Polizisten ab, 06.12.2017, abrufbar unter: https://www.bayern.landtag.de/aktuelles/sitzungen/aus-den-ausschuessen/innenausschuss-lehnt-kennzeichnungspflicht-fuer-polizisten-ab/ (Abgerufen am 09.06.2018); Zengerling, Mit Menschenverstand gegen Deutschland, 15.11.2017, abrufbar unter: https://www.11freunde.de/artikel/wie-eine-gruppe-1860-fans-zehn-jahre-gegen-die-polizei-klagte (Abgerufen am 09.06.2018)).
Diese Geschehnisse stehen für ein Thema, das gerade in der Politik kaum hitziger diskutiert werden könnte (vgl. nur Schröder/Leue, Emotional aufgeladene Debatte, 02.12.2017, abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/kennzeichnungspflicht-fuer-polizisten-emotional-aufgeladene.724.de.html?dram:article_id=402168 (Abgerufen am 09.06.2018)): die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten. Die Meinungen gehen von einer absoluten Ablehnung hin zu einer dringenden Notwendigkeit einer solchen Pflicht.
Befürworter einer Pflicht führen beispielsweise die nachweisbar schwierigere Identifizierbarkeit Beamter im Fall von Übergriffen oder das höhere Vertrauen der Bürger in individuelle Polizisten gegenüber einer anonymen Staatsmacht an (vgl. BT-Drs. 19/255, S. 1; vgl. Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion zur Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei vom 22.05.2012, S. 3 m.w.N.). Sozialpsychologen mahnen zudem, dass Menschen aus der Anonymität einer Gruppe heraus signifikant häufiger zu gewalttätigen Übergriffen neigen (so genannte Deindividuation) (Six in: Wirtz, Dorsch – Lexikon der Psychologie, 18. Aufl. 2014, S. 374). Gegner meinen hingegen vor allem, eine Kennzeichnung stelle Beamte unter Generalverdacht und fördere Übergriffe gegenüber Beamten und deren Familien (Baumann, Wir wollen Polizisten schützen und setzen hohes Vertrauen in ihre Arbeit, 29.11.2012, abrufbar unter: https://www.cducsu.de/themen/innenpolitik/wir-wollen-polizisten-schuetzen-und-setzen-hohes-vertrauen-ihre-arbeit (Abgerufen am 09.06.2018)).
Der Art der Debatte entsprechend fallen auch die Interpretationen der Entscheidung des EGMR aus. Von einer Bestätigung der nicht bestehenden Notwendigkeit einer Kennzeichnungspflicht hin zur Forderung einer Kennzeichnungspflicht wird in die Entscheidung – je nach politischem Gusto – vielerlei hineingelesen (vgl. Umlauft, Innenausschuss lehnt Kennzeichnungspflicht für Polizisten ab, 06.12.2017, abrufbar unter: https://www.bayern.landtag.de/aktuelles/sitzungen/aus-den-ausschuessen/innenausschuss-lehnt-kennzeichnungspflicht-fuer-polizisten-ab/ (Abgerufen am 09.06.2018)).
Tatsächlich kann man konstatieren, dass beide Seiten Recht haben: Der EGMR hat in seiner Entscheidung einerseits keinen Zweifel daran gelassen, dass er eine Kennzeichnungspflicht von jedenfalls maskierten Beamten für erforderlich hält, um Strafbarkeitslücken zu schließen. Er hat aber andererseits auch einen Weg aufgezeigt, wie der Staat das Fehlen einer entsprechenden Kennzeichnung überwinden kann: Die fehlende Kennzeichnung, die der Gerichtshof als von Anfang an bestehendes Ermittlungshindernis bei Ermittlungen gegen Polizeibeamte ansieht, könne durch umso intensivere Ermittlungen ausgeglichen werden.
Der EGMR gibt den Staatsanwaltschaften und ihren Ermittlungen im Rahmen des Legalitätsprinzips gemäß den §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1, 2 StPO somit eine klare Vorgabe: Der Grundsatz, dass die Staatsanwaltschaft in der Gestaltung ihrer Ermittlungen frei ist (Peters in MünchKomm StPO, 1. Aufl 2016, § 152 Rn. 71), findet eine Grenze in Verfahren gegen nicht gekennzeichnete Polizeibeamte. Hier sei ein „Mehr an Ermittlungen“ im Vergleich zum „Normalfall“ notwendig. Zwar ist das in Anbetracht der Tatsache, dass keine Abstufung der Ermittlungsbemühungen nach Person oder Deliktscharakter, sehr wohl aber anhand der Aufklärungswahrscheinlichkeit zulässig ist, möglich (Diemer in Karlsruher Komm. StPO, 7. Aufl. 2013, § 152 Rn. 6; Peters in MünchKomm StPO, 1. Aufl. 2016, § 152 Rn. 70 f.).
Die reine Möglichkeit darf aber nicht von den Problemen der praktischen Umsetzung ablenken: Der EGMR zeichnet mit dieser Vorgabe eines nicht näher definierten „Mehr an Ermittlungen“ den bedenklichen Weg einer Einzelfallrechtsprechung vor. Denn er führt zur Konkretisierung dieses „Mehr“ lediglich aus, dass es von den Umständen des konkreten Falls abhänge, welcher Art und welchen Ausmaßes die Beweissicherung sein müsse, damit sie die Minimalanforderungen an eine effektive Ermittlung erfülle (Rn. 94 des Urteils). Woran aber soll für die Staatsanwaltschaften ohne weitere Vorgaben erkennbar sein, welche Ermittlungsmaßnahmen der EGMR im Einzelfall für erforderlich hielte? Das vermeintliche Schlupfloch für Gegner einer Kennzeichnungspflicht entpuppt sich dadurch als Scheinlösung. Die Berechenbarkeit der Anwendung des Gesetzes durch seine Verwender und damit letztlich die Rechtssicherheit nehmen beim Beschreiten dieses Weges zwangsläufig Schaden (vgl. umfassend m.w.N. Landau, NStZ 2007, 121-129).
Der EGMR schiebt das Problem der fehlenden Kennzeichnung, statt richtigerweise dem Gesetzgeber, den Staatsanwaltschaften und anderen Rechtsanwendern zu. Eine im Straf(verfahrens)recht inzwischen übliche Problemverlagerung (vgl. Bittmann, NStZ 2016, 249 f.). Um einen verfahrensrechtlichen Verstoß gegen Art. 3 EMRK sicher zu verhindern, müssten die sowieso schon überlasteten Staatsanwaltschaften nun Ermittlungen in zweifelhaften Fällen überobligatorisch durchführen. Andernfalls wäre mit weiteren Verurteilungen der Bundesrepublik zu rechnen. Man könnte meinen, dass der EGMR mit seinem nur augenscheinlichen Schlupfloch des „Mehr an Ermittlungen“ zugleich eine weitere Bestrafung der Bundesrepublik ausgesprochen hat. Der Gesetzgeber sollte sich in Anbetracht dieses Fingerzeigs aus Straßburg, der unzweideutiger ist als in der politischen Landschaft wahrgenommen, genau überlegen, warum er nicht einfach eine Kennzeichnungspflicht einführt. In neun Bundesländern ist dies bereits heute und ohne die von Gegnern befürchteten Folgen der Fall (BT-Drs. 19/354, S. 2 ff.; Pinkert/Stepputat, Offenbar Probleme bei Polizei-Kennzeichnung, 13.02.2018, abrufbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Offenbar-Probleme-bei-Polizei-Kennzeichnung,polizei4898.html (Abgerufen am 09.06.2018)).
Eines ist kriminalpolitisch sicher: Steigende Arbeitsbelastung für die Staatsanwaltschaften und eine damit verbundene Kostensteigerung durch ein „Mehr an Ermittlungen“ können ebenso wenig gewünscht sein wie ungeahndete Straftaten. Denn jede ungeahndete Straftat – gerade durch Täter, die eigentlich für die Einhaltung von Recht und Ordnung einstehen sollten – spricht dem Gesetz blanken Hohn aus und wirkt gegenüber dem Normadressaten delegitimierend (Bittmann in: Festschrift für Imme Roxin 2012, S. 13 ff.). Dieser Effekt fehlender Ahndung auf die Bevölkerung darf keinesfalls unterschätzt werden. Der Staat sollte daher konsequent dazu übergehen, seinen Bürgern auf Augenhöhe zu begegnen. Das Vertrauen, das er von ihnen einfordert (Stichworte: „Vorratsdatenspeicherung“, bzw. allgemeiner die konsequente Ausweitung polizeilicher Befugnisse), verdient auch ein Entgegenkommen. So kann es dann eben auch ein Beweis staatlichen Vertrauen in die Bevölkerung sein, die (bessere) strafrechtliche Verfolgbarkeit Polizeibeamter durch eine individuelle Kennzeichnung zu gewährleisten.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des EGMR sollte direkte Konsequenzen sowohl für Staatsanwaltschaften als auch für Verteidiger nach sich ziehen. Es ist ein klares „Wettrüsten“ auf beiden Seiten vorgezeichnet: Staatsanwaltschaften müssen sich im Falle des Anfangsverdachtes einer Straftat durch (insbesondere, aber nicht nur maskierte) Polizeibeamte nunmehr darum bemühen, besonders intensive Ermittlungen durchzuführen und Beweisanträgen nach § 163a Abs. 2 StPO im Zweifelsfall nachzugehen. Für Opferanwälte eröffnet die Entscheidung hingegen gerade die Möglichkeit das Ausbleiben genau derart spezifischer Maßnahmen seitens der Ermittlungsbehörden zum Anlass von Beschwerden und Rügen zu nehmen.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Dem Problem der Unabhängigkeit der die Ermittlungen führenden Behörden, das vor allem in der abweichenden Meinung von Richter Hüseynov zur Sprache kommt, versucht Bayern seit 2013 dadurch abzuhelfen, dass sich eine zentrale Stelle beim Landeskriminalamt mit derartigen Fällen beschäftigt.
Es bleibt jedoch ein äußerst fader Beigeschmack, wenn der bayerische Innenminister Joachim Herrmann im Jahr 2016 zum angeblichen Erfolg dieser Zentralstelle festhält: „Die gründlichen Überprüfungen zeigen, dass Anzeigen gegen Polizeibeamte häufig jeglicher Grundlage entbehren und die Vorwürfe haltlos sind.“ Denn die Anklage- und Verurteilungsquote bei Tatvorwürfen gegen Polizeibeamte – es kam gerade einmal zu 12 Verurteilungen oder Strafbefehlen bei 500 Anzeigen nur im Rahmen der sogenannten Schwerpunktdelikte 2014 und 2015 – fallen im Vergleich zum sonstigen bayerischen Durchschnitt von 30% Anklageerhebungen und 81% Verurteilungen im Jahr 2012 mehr als auffällig niedrig aus (Bayerische Staatsregierung, „Zentralstelle Interne Ermittlungen“ hat sich bestens bewährt, 07.12.2016, abrufbar unter: http://www.bayern.de/zentralstelle-interne-ermittlungen-hat-sich-bestens-bewaehrt/ (Abgerufen am 09.06.2018); Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick. Ausgabe 2015, 2015, S. 12, 14). Diese niedrigen Anklage- und Verurteilungsquoten könnten auf vielerlei zurückgeführt werden. Laut bayerischem Innenminister sind diese Zahlen ein Zeichen dafür, dass Anzeigen gegen Polizeibeamte jeglicher Grundlage entbehren und Vorwürfe gegen diese haltlos sind (vgl. oben). Umgekehrt könnte man einwenden, dass gerade aufgrund der mangelnden Identifizierbarkeit der Beamten keine Verurteilungen möglich sind. Zumindest um bestehende Zweifel auszuräumen könnte ein Staat, der nichts zu verbergen hat – und dieses Argument auch gegenüber den eigenen Bürgern gerne anführt – über die Einführung einer Kennzeichnungspflicht nachdenken.
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