Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


24. Mai 2016

Künstler und Medienschaffende solidarisieren sich mit dem Schatten eines Satirikers, der vom Versuch der eigenen Kunst schon zurücktrat, bevor sie vollendet war.

Zunächst darf Folgendes gesagt werden: Der tiefere Sinn jeder Äußerung ist es, eine sogenannte breite gesellschaftliche Debatte auszulösen. Wer also auf der Bühne einem lebendigen Huhn den Hals umdreht oder mit einem Messer abtrennt (Handbeil besser, da Hühner in Todesangst kampfstark) oder einem röchelnden rosa Ferkel den Bauch aufschlitzt, um die Welt mit Blut zu bespritzen, vollstreckt zweifellos Kunst. Jedenfalls wenn er drei Semester „Kunst“ in Karlsruhe studiert und eine Seminararbeit zum Thema „Ob und wie unterscheidet sich die Traumwelt des Surrealismus vom Weltentraum der Aborigines“ geschrieben hat. In jedem Fall – und allein hierauf kommt es an – wird er doch wohl eine „breite gesellschaftliche Debatte“ anstoßen wollen: Über Hühner, Messer, Schlachten, Tiere, Hühnchenbrüste, Ekel, das Leben der Schweine und das der Menschen. Ohne „breite gesellschaftliche Debatte“ – oder sagen wir: die Vorstellung davon – ist unser Leben nicht viel wert gewesen. „Hier ruht Jan Bömmel. Er hat eine breite gesellschaftliche Debatte angestoßen“ – Was für ein Abgang!

Und doch wird es, liebe Leserinnen und Leser, in Karlsruhe und sonst wo, humorfreie Staatsanwältinnen geben, die meinen, Surrealismus sei kein vernünftiger Grund, ein Wirbeltier öffentlich niederzumetzeln, und man könne die Verschmelzung von Vergangenheit und Zukunft ebenso gut oder wirkungsvoller darstellen, wenn man eine lebende Nacktschnecke mit einer Gartenschere in Scheiben schneidet (mit dem Vorteil, dass man hier nebenbei noch einen Beitrag zur Erhaltung des Endiviensalats und dessen Antioxidantien leistet).

Kunst!

Kunst, so wird behauptet, darf – ich gehe davon aus, Sie erinnern sich –: alles. „Satire“ sowieso. Das haben entweder Pharoah Sanders oder Moses oder der Medizinmann des Königs Etzel nach sieben mal sieben Tagen strengen Fastens erkannt und vom Berge hinab in die Welt geworfen, mitten aufs goldene Kalb des Kunsthandwerks. Seither darf die Kunst alles, während das Kunsthandwerk zum Töten eine Lizenz benötigt. 88 Millionen Dollar bot man Herrn Daniel Craig aus Amerika an für zweimal Bond. Und er hat abgelehnt. O Du brennender Dornbusch! Verkauften wir unsere Schwestern und Brüder nicht schon für ein Tausendstel?

Kunst darf also alles: Das sagen seit dem 13. April übrigens auch Yanis Varoufakis, ein europäischer Finanzkünstler, und Jan Josef Liefers, Spezialist für feinsinnigen Humor in praktisch jedem Format, also sozusagen ein Urban Priol der Rechtsmedizin. Können 238.000 Unterzeichner der Resolution „Befreit Böhmermann“ irren?

Man muss nicht Joseph Beuys missverstehen, um zu ahnen, dass zwar jeder Mensch ein Künstler, nicht aber das Leben als solches bereits Kunst ist. Umso überraschender, dass die Staatsaffäre Böhmermann der beuysschen Theorie bislang nicht Abermillionen neue Anhänger zugespült hat. Ich meine jene 45 Prozent der Deutschen, die der Ansicht sind, Kunst sei erstens frei, dürfe zweitens alles und gehöre daher drittens „ins Feuilleton, nicht in einen Gerichtssaal“. Die Sprengkraft der Theorie aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“) im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 GG haben diese Kunst-Theoretiker offenbar noch gar nicht erkannt, sodass die leibhaftige Verpflanzung der Freiheit in das Leben weiterhin der Avantgarde vorbehalten bleibt. (Und mit Avantgarde meine ich nicht das wilde Leben des großen Pablo P., 1925, im Gegenlicht oder das Klaviergeklimper des kleinen Malerfürsten L., 2015.)

Der Grund – oder sagen wir: ein Grund – dafür liegt natürlich darin, dass 95 Prozent der Freiheitsfreunde zugleich der Fraktion „Kunst kommt von Können“ angehören, einer bekanntlich überaus einflussreichen internationalen Bewegung, deren Anführer Dada-Theorien vertreten wie etwa: Krumme Betonsockel kann ich auch (Stelenfeld Berlin); Menschen haben gar nicht drei Augen (Pablo P.); die Auflösung meines Handys ist höher als die von Monets iPhone 1 (Museumsufer Frankfurt, Sommer).

Jenseits dessen wird es schwierig. Nehmen wir also an, ein bayerischer Schriftsteller, Dramatiker und Regisseur verwendet in einem Film einen Frosch, den er an ein Kreuz bindet, auf dass er Jesus Christus gleiche, dem Erfinder des Jesus-Christus-Kreuzes. Den Original-Jesus lässt er vom Kreuz herabsteigen und in der Fußgängerzone umherirren und mit zwei Schnapsgläsern um die Spende von „Scheiße für die Polizei“ bitten.
Seit wann ist Frösche fesseln Kunst? Oder Kreuze klauen?

Oder nehmen wir an, das Zentrum für Politische Schönheit in Berlin montiert heimlich die Kreuze ab, die vor dem Deutschen Bundestag an die Opfer des Mauerbaus erinnern, und stellt sie an der EU-Außengrenze wieder auf.

Was gebietet dem Kunst-darf-alles-Freund in diesen Fällen die Freiheit der Kunst? Sie wissen oder ahnen es: Jahr um Jahr um Jahr hat seit 1986 der Freistaat Bayern eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht, wonach in Paragraf 166 StGB die sogenannte Friedensschutz-Klausel gestrichen werden solle, damit endlich wieder die Gotteslästerung als solche strafbar und einem gewissen Achternbusch, Herbert das Handwerk gelegt werde. Und selbstverständlich hat die Staatsanwaltschaft Berlin nicht gezögert, ein Ermittlungsverfahren wegen Kreuzesdiebstahls einzuleiten … Wo kämen wir hin, Bürgerinnen und Bürger, wenn hier jeder Kunst machen dürfte, wie er will? Seit wann ist Frösche fesseln Kunst? Oder Kreuze klauen? Oder Grabsteine beschmieren? Oder anderen Leuten sagen, dass sie von Fellatio an hundert Schafsböcken träumen? Hier übrigens trifft sich das Lumpenproletariat mit der Avantgarde: Es wird wohl so viel Kunst sein, wie es kostet.

Formate

Fragen wir noch ein bisschen tiefer: Was sagen wohl Döpfner, Liefers, Hallervorden & Co., sollte ein türkischer Satiriker im Staatsfernsehen live auf ein Nacktfoto der deutschen Bundeskanzlerin scheißen und dazu deklamieren: Dies ist die Antwort auf das Statement von A. M., sie freue sich sehr, sehr, sehr, dass es gelungen sei, einen durch Film, Funk & Fernsehen bekannt gewordenen sunnitischen Religionsführer abzuknallen?

Oder wie wär’s mit folgendem Happening vor dem Lageso zu Berlin: 19 von Scheitel bis zur Schulter tief verschleierte, ansonsten nackte weiße Jungfrauen und 38 weiß gestreifte nigerianische Muslime urinieren gleichzeitig in ein großes Becken, das mit der Deutschlandfahne ausgekleidet ist (siehe: Paragraf 90a Abs. 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch: „Wer öffentlich… die Flagge der Bundesrepublik verunglimpft, wird … bestraft“) und singen dabei einen Tango mit dem Text des „Deutschlandliedes“: Deutsch-land Teu / Tschland ü / Ber a / Hales, ü- /Ber-a-hales / in der welt!

Jetzt aber wird’s spannend: Auftritt Katja Riemann, Matthias Brandt, Yanis Varoufakis und „mehr als 70“ weitere Künstler. Alle werden mit verbundenen Augen und verstopften Ohren von Showmaster Florian Silbereisen in die Stadthalle von Mainz oder Offenbach geführt, von Ihnen, liebe Zuschauer, dem „Team Böhmermann“ (Leitung: „Elton“) oder dem „Team Erdomann“ (Leitung: B. Schöneberger) zugelost und müssen dann der Reihe nach am Uringeruch erkennen, ob die Sache a) „im Feuilleton“ oder b) „im Gerichtssaal“ oder c) durch Torwandschießen entschieden werden soll. Notar im Studio: Sigmund Gottlieb mit Donald-Trump-Perücke. Der Reinerlös geht an dasjenige Flüchtlingsheim, in dem – Stichzeit heute 22.30 Uhr, liebe Zuschauer – die nachweislich meisten Christenverfolgungen stattgefunden haben.

Horizonte I

Wissen Sie noch, liebe Leser, was ein „Rücktrittshorizont“ ist? Es ist dies ein Begriff aus der Strafrechtsdogmatik. Klingt irgendwie wichtig, hat weitreichende Konsequenzen, ist aber intellektuell nicht weiter schwierig.

Erinnern Sie sich bitte: Der Täter einer versuchten (also nicht vollendeten, also nicht zum „Erfolg“ gelangten) Straftat kann vom Versuch „zurücktreten“, wenn der Versuch nicht „fehlgeschlagen“ ist. Ein Fehlschlag liegt vor, wenn der Taterfolg aus Sicht des Täters gar nicht mehr eintreten kann, zum Beispiel weil die Mittel des Täters erschöpft sind, weil das Opfer Hilfe erlangt hat oder eine Vollendung aus anderen Gründen nicht möglich ist. Ist das der Fall, ist die Sache gelaufen, und der Täter ist wegen „Versuchs“ strafbar.

Liegt ein „Fehlschlag“ nicht vor, kann der Taterfolg also immer noch eintreten, kommt es darauf an: Entweder das bisher schon zur Taterfüllung Unternommene reicht – sicher oder möglicherweise – aus, um den Erfolg herbeizuführen (Beispiel: Das Tatopfer ist zwar noch nicht tot, als der Täter weggeht, wird aber an den Verletzungen sterben). Oder das Getane reicht noch nicht aus (Beispiel: Der erste Schuss ging daneben. Man müsste und kann – sonst „Fehlschlag“ – also nochmals schießen). Das erste nennt man „beendeten Versuch“, das zweite „unbeendeten Versuch“; beide Varianten sind geregelt in Paragraf 24 Abs. 1 Satz 1 Strafgesetzbuch.

Nicht der „Tatplan“ ist entscheidend

Schon aus der dortigen Formulierung ergibt sich, aus welcher Perspektive die Sache zu beurteilen ist: Aus Sicht des Täters. Wenn er meint, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, ist der Versuch aus seiner Sicht „unbeendet“. Denkt er dagegen, das Getane reiche für den Taterfolg aus, ist der Versuch „beendet“. Je nachdem also, was der Täter denkt, unterscheidet Paragraf 24 Abs.1 Satz 1 die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch: Bei „unbeendetem Versuch“ muss der Täter einfach bloß aufhören, weiter zu handeln; beim „beendeten Versuch“ muss er aktive Anstrengungen zur Rettung des (von ihm) angegriffenen Rechtsguts entfalten (Hilfe holen, dem Opfer helfen und so weiter).

Wichtig in jedem Fall: Das Risiko der Rettung trägt (ganz allein) der Täter. Wenn also entgegen seiner Erwartung der Erfolg doch noch eintritt, kann er sich nicht auf einen „unbeendeten Versuch“ hinausreden, denn ein „Versuch“ liegt ja gar nicht mehr vor. Anders gesagt: Die Grenze jedes „Rücktritts vom Versuch“ ist die des Versuchs selbst. Wenn und sobald es zur Vollendung des Tatbestands kommt, nützt dem Täter die schönste Rücktrittsbemühung nichts mehr.

Früher (bis vor 40 Jahren) dachte man: Für die Beurteilung, ob ein beendeter oder ein unbeendeter Versuch vorliegt, kommt es auf den „ursprünglichen Tatplan“ an, also auf „die Vorstellung von der Tat“, die der Täter bei Versuchsbeginn hatte (Paragraf 22 StGB).

Heute sieht man das anders: Nicht der „Tatplan“ ist entscheidend, sondern die Vorstellung des Täters unmittelbar nach der (jeweils) letzten auf Vollendung gerichteten Ausführungshandlung. Das ist es, was man „Rücktrittshorizont“ nennt: Die Sicht des Versuchstäters auf den Stand der von ihm begonnenen, nicht aber abgeschlossenen Tat(-vollendung). Angelegt wird also ein rein subjektiver Maßstab. Es kommt nicht darauf an, was ein „objektiver Dritter“ (oder ein „allwissender Beobachter“) denkt oder was sich im Nachhinein als richtig herausstellt.

Genau derselbe Maßstab gilt für die Abgrenzung von „Fehlschlag“ und „unbeendetem“ Versuch: Es kommt darauf an, ob die Tat nach der Vorstellung des Täters noch vollendet werden kann. (Beispiel: A hat 2 Kugeln im Magazin, denkt aber, er habe nur eine. Er schießt mit Tötungsvorsatz auf B und verfehlt ihn. Ergebnis: Fehlschlag, denn A ist im Glauben, er habe keine Chance mehr, die Tat zu vollenden, also volle Strafbarkeit. Weiß A hingegen, dass er noch eine zweite Kugel hat: unbeendeter Versuch. A kann in diesem Fall durch bloßes Aufhören von dem Versuch zurücktreten; dann wird er straffrei. Und wenn A mit dem ersten Schuss den B schwer verletzt hat und denkt, B werde daran sterben: beendeter Versuch; um Strafbefreiung zu erlangen, müsste A nun erfolgreich Hilfe leisten oder holen.

Alles klar? Ist nicht schwierig, verwirrt aber manche Studenten bis zur Pensionierung. Zugegeben: Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 des Paragrafen 24 verkomplizieren die Sache ein bisschen, sind aber ebenfalls kein Buch mit sieben Siegeln.

Arme Menschen

Arme Menschen! Arme Ziegenficker! Arme Türken! Arme Satiriker! Arme Bundeskanzler! Arme Redakteure! Arme Künstler!

Liebes Tagebuch! Der dies hier schreibt, ist nicht arm dran, denn er ist unschuldig und hat weder Böses getan noch führt er solches im Schilde. Er ist kein Leugner des Völkermords an Armeniern und weder Verteidiger noch Verächter der Ehre des Türkentums oder des Dönersäbelns in Offenbach und Köln und kein nach vorne gefickter Spaßvogel aus Youtubistan. Er würde es sich allerdings zu eigen machen, wenn der derzeitige Präsident der Türkei als problematische Persönlichkeit mit einer empörenden Tendenz zur Verwechslung von Amt und Person bezeichnet würde.

Es scheint, als seien hier überhaupt nur noch zwei Menschen unterwegs, die nicht arm dran sind: Der Kolumnist und Herr E. aus dem fernen A. Dem „deutschen Star-Satiriker“ J. B. zum Beispiel geht es – wie soll man sagen: Man weiß es nicht. Erst schrieb er tränentreibende Hilferufe an alle, die er nicht kannte, dann erklärte er genau dies wieder zur Metaebene seiner Kunst: von China bis Baden-Baden. Nichts scheint unmöglich. Wer mit Kunst so umgeht, hält, befürchte ich, allein sich selbst für Kunst und die anderen für nützliche Narren.

Bei „Böhmermann“ sprechen wir über Versuche von Verbrechen

Die Kanzlerin des sechst-ermächtigtsten Staates im Universum, des Spitzenreiters im Verlieren von Weltkriegen, jenes mehr als alle anderen bei Halbfinalen gescheiterten Landstrichs, einer Region, die globale Führungsfiguren gebiert wie andere lokale Überschwemmungen: Sie ist gewiss als solche nicht arm dran, muss aber bisweilen klein beigeben können, denn das Kleinbeigeben ist die Größe der Zwerge. So wie der Rhombus das Symbol der Unterwerfung ist.

Armer Erdoğan! Selbstverständlich wird er scheitern. Sein als Ponderosa geträumtes Land kann er durch „Religion“ nicht überwältigen, sondern allenfalls durch eine neue Militär- und Polizeidiktatur. Auch sie wird viel Leid verursachen und dann untergehen.

Horizonte II

Rechtsunterworfene! Wissen Sie, was die „Korrektur eines Rücktrittshorizonts“ ist? Dass der Horizont „gerade“ sei, ist eine geschickte Lüge der Schnippschnapp-Kameratechnik. Er ist gekrümmt, wie jeder weiß, der einmal auf das Meer hinausgeschaut hat. Der Mensch hat aber gern einen waagrechten Horizont, denn sonst spielt sein Innenohr ihm Streiche, was zu Übelkeit und Erbrechen führt: Seekrankheit, Orientierungsverlust, Weimarer Republik.

Will sagen: Horizonte können gelegentlich kippen, sich wölben, tonnenförmige oder sternförmige Gestalt annehmen. Sie können die Seite wechseln und die Höhe, die Tiefe und die Präzision. Jeder Strafrichter weiß das, auf dessen Anklagebank einmal ein Assistenzarzt saß oder ein Herzchirurg oder gar ein Chefarzt für Innere Medizin, also praktisch ein Verwaltungsrichter des Inneren. Ein Vertreter des Berufs, dessen Ausübung die Kompetenzhorizonte für Steuerrecht, Korruptionsbekämpfung, Immobilienwirtschaft und Kapitalanlagerecht seiner Natur nach mitumfasst.

Strafrecht

Im Strafrecht gilt: Der Horizont des „Rücktritts vom Versuch“ ist eine durch und durch subjektive Perspektive: Die Sicht des Täters auf sein Werk, eingefroren und beurteilt zum Zeitpunkt, da er – wann, wie und warum auch immer – aufhört, weiter auf den bösen „Erfolg“ hinzuwirken.

Bei Böhmermann sprechen wir über Versuche von Verbrechen. Verbrechen sind „Taten“. Taten sind „Verwirklichungen von Tatbeständen“. Versuche sind das „Ansetzen zur Tat nach der Vorstellung des Täters“. Sie sind strafbar wie die Vollendungen selbst und können (müssen aber nicht!) im Strafmaß gemildert werden.

Dass „Kunst alles darf“ oder „Satire alles darf“, ist Unsinn. Es wird behauptet von Anhängern eines „qualitativen“ Kunstbegriffs, der zwischen „guter“ und „schlechter“ Kunst unterscheidet. Genau das ist aber, was Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz ausschließen will. Es geht nicht um gute oder schlechte Kunst, gute oder verbotene Satire. Das mag zwar noch „herrschende Meinung“ sein bei den Freunden und Konsumenten der „guten“ Kunst. Aber es entspricht nicht der Erkenntnislage des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs.

Dass die „Auseinandersetzung über Kunst“ nicht in den Gerichtssaal gehöre, aber entstammt einem etwas aus der Zeit gefallenen Kunstbegriff: Was „Kunst“ sei, sei frei, strafbar sei „Schund“. So ging man früher mit der Pornografie um, mit Fröschen und „Happenings“.

Heute, liebe Leser und Leserinnen, meinen wir (und weiß die Strafrechtswissenschaft): Kunst und Strafbarkeit, Satire und Strafbarkeit schließen einander nicht aus. Vielmehr sind sie Begriffe auf unterschiedlichen Bedeutungs- und Wertungsebenen. Auch strafbare Pornografie kann Kunst sein. Und Kunst kann strafbar sein. Die „Freiheit“ der Kunst besteht nicht in ihrer inhaltlichen Unbeschränktheit, sondern im immanenten Begriff ihrer selbst. Was Kunst ist, bestimmt nicht das Strafrecht, sondern allein die Kunst. Wenn das (Straf-) Recht etwas als „verboten“ ansehen möchte, muss es die Verantwortung dafür schon selbst übernehmen und nicht der „schlechten“ Kunst in die Schuhe schieben.

Freiheitsapostel fordern freilich „strenge Grenzen“

Das ist – bis heute – leider nicht unbestritten. Der „Kommentar zum Strafgesetzbuch“, den der Kolumnist seit 1999 (49. Auflage) schreibt und herausgibt, vertrat bis 1997 (48. Auflage) eine ganz entgegengesetzte Ansicht, die auch heute noch populär ist.

Was hier vertreten wird, ist eine „offene“, freie, individualistische Konzeption. Sie wird, wenn’s drauf ankommt, bei uns im Alltag nur von einer Minderheit gutgeheißen. „Frei“ ist die Kunst (und damit die Satire) nach der im Bürgertum noch immer herrschenden Meinung nämlich nur dann, wenn sie entweder die eigene Ansicht repräsentiert oder sich im säuselnd-humorvoll Diffusen hält (Das ist die „Ach-ja“-Fraktion).

Dieselben Freiheitsapostel fordern freilich „strenge Grenzen“ und (mindestens) Schadensersatz, wenn es an ihre eigene Ehre, ihren Geldbeutel, ihre Reputation oder ihre „Grenzen des guten Geschmacks“ geht. Modewerbung durch Elendsfotografie: geht gar nicht!

Geschenkt, liebe 70 Künstler! Sie und Ihre Agenturen sind die ersten, die mit einstweiligen Verfügungen um sich werfen gegen die „satirische“ Behauptung, Sie seien cracksüchtig, pädophil oder notorische Ziegenficker, oder hätten ihre letzte Rolle nur gekriegt, weil Sie dem Abteilungsleiter Unterhaltung zu Willen gewesen seien, was dieser auf seinem Handy aufgezeichnet habe… Freie Satire umso mehr, als die „Gib’s-mir!“-Schreie eindeutig als die Ihren zu identifizieren sind…

Rücktritte

Fragen wir uns am Ende dieses Streifzugs entlang der Horizonte:

Wer hat was versucht?
Wer hat was vollendet?
Wessen Versuch ist fehlgeschlagen, unbeendet, beendet?
Wer ist zurückgetreten oder hat dies versucht?

Und natürlich fragen wir und andere uns: Was soll’s? Wir meinen das nicht wirklich strafrechtlich, nehmen aber einmal die Terminologie und die über 200 Jahre entwickelte Dogmatik dieses Fachs, das von Alleswissern des Paragrafen 242 BGB und Abwägungsheiligen des VwVfG so sehr verachtet wird:

Böhmermann wollte Erdogan beleidigen.

Nachdem er bemerkt hatte, dass der Erfolg eingetreten war, behauptete er, er wolle jetzt vom Versuch zurücktreten.
Die Bundeskanzlerin redete Unverbindliches daher, was ersichtlich den Eindruck erwecken sollte, sie sehe Böhmermanns Versuch als Vollendung an. Das hatte viel für sich, erwies sich aber alsbald als inopportun, weil unser Didi (Hallervorden) und 70 weitere berühmte Künstler behaupteten, die Kunst sei frei. In ihrem eigenen Wirken war das allerdings bisher nicht aufgefallen. Manche merkten sogar ausdrücklich an, falls der schlechte Künstler Til Schweiger sich ebenfalls solidarisiere, träten sie zurück. Dies wiederum zeigt mit einem (untauglichen) Vorbehalt des Rücktritts vom Rücktritt, wes Geistes Kind uns hier die Freiheit erklärt.
Ganz schlechte Umfragewerte! Also versuchte die unbeirrbare Kanzlerin von ihrem Versuch der Entschuldigung wiederum zurückzutreten, indem sie behaupten ließ, entweder gebe es gar nichts zu entschuldigen oder sie habe es nicht so gemeint oder es sei ein Fehler gewesen oder die Kunst sei frei. Wie immer: Nichts Genaues weiß man nicht. Oder wie die FAS von heute (22. Mai 2016) sie zitiert: „Ich denke und arbeite nicht so“.
Das fanden zwei Millionen Kunstfreunde falsch zurückgetreten, weil man erst gar keinen Versuch der Entschuldigung habe unternehmen dürfen. Dies ist ja aber nun, ihr Joseph Beuysens von Augsburg, Neuruppin und Heidenau, auch wieder Unsinn. Denn die deutsche Bundeskanzlerin kann sich entschuldigen, für was sie will: Sogar für euch! Und zwar mit Recht.

An dieser Stelle: Ein ausdrückliches Lob der Qualitätspresse! In einer deutschen Sonntagszeitung las ich heute in einem Text von Friederike Haupt: Wer keine Ahnung habe von dem einen Thema,

„darf annehmen, dass er vielleicht auch über andere … Themen nicht alles weiß. Ist ja auch nicht schlimm. Nur halt nicht die beste Voraussetzung, um anderen zu sagen, dass sie keine Ahnung haben. Das gilt auch und leider besonders für Journalisten. Dieser Beruf zieht in stärkerem Maße als andere Berufe Menschen an, die in kurzer Zeit zu beeindruckenden Ergebnissen kommen wollen…“.

Ja! Wie wahr, wie richtig, wie wohltuend, wie tröstlich, wie antipegidistisch! Jetzt müssen wir nur noch aus der Kunst den nach vorne gefickten Rassismus extrahieren und aus Herrn Böhmermann den Ziegenbock.