Nachfolgend ein Beitrag vom 1.2.2017 von Kohte, jurisPR-ArbR 5/2017 Anm. 4

Leitsätze

1. Gerichtsvollzieher sind auch nach der Änderung der Gerichtsvollzieherordnung Beamte.
2. Jedem Beamten sind von seinem Dienstherrn, u.a. nach entsprechender ärztlicher Feststellung im Rahmen der arbeitsschutzrechtlichen Angebotsvorsorge, in erforderlichem Umfang spezielle Sehhilfen für die Arbeit an einem Bildschirmarbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.
3. Diese Verpflichtung findet ihre europarechtliche Grundlage in Art. 9 der RL 90/270/EWG.
4. Die arbeitsschutzrechtliche Angebotsvorsorge darf für den Beamten mit keiner finanziellen Belastung verbunden sein. Daher ist ein Verweis auf die Leistungen der Beihilfe oder einer privaten Krankenversicherung nicht zulässig.
5. Auch die Arbeit eines Gerichtsvollziehers findet regelmäßig in nicht unbeachtlichem Umfang an einem Bildschirmarbeitsplatz statt.
6. Die Besonderheiten des Dienstverhältnisses eines Gerichtsvollziehers im Vollzugsaußendienst führen bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nicht dazu, dass der Dienstherr eine Bildschirmarbeitsbrille weder zur Verfügung stellen noch deren Kosten zu tragen hat.
7. Die einem Gerichtsvollzieher gezahlte Vergütung zur Abgeltung der Büro- und Personalkosten lässt den Anspruch des Gerichtsvollziehers auf eine richtlinienkonforme Angebotsvorsorge durch den Dienstherrn nicht entfallen und gilt diesen auch nicht ab.

A. Problemstellung

Streitigkeiten um die Überlassung von Bildschirmbrillen und um Fragen der Kostenerstattung waren nach 1996 vor allem im öffentlichen Dienst zu verzeichnen. Mit dem Urteil des BVerwG vom 27.02.2003 (2 C 2/02 – ZTR 2003, 422) war eine gewisse Klärung eingetreten, weil die Behörden, denen dieses Urteil bekannt war, sich daran orientierten. Gleichwohl sind bis heute noch konkrete Auseinandersetzungen zu beobachten, in denen Arbeitgeber des Öffentlichen Dienstes ihre Kostenpflicht vermeiden bzw. verringern wollen (zuletzt ArbG Berlin v. 30.05.2016 – 58 Ca 5912/16).
Die vorliegende Entscheidung betrifft einen Gerichtsvollzieher, so dass sich sowohl der Status dieser Personengruppe als auch deren spezifische Arbeitsweise als Herausforderung stellten und stellen. Auch wenn es sich hierbei um eine traditionelle Berufsgruppe handelt, erweist sie sich unter dem Gesichtspunkt der Bildschirmarbeit als besonders „moderne“ Gruppe, weil sie inzwischen sowohl im Büro im Gericht als auch im Home Office zu Hause sowie schließlich im mobilen Einsatz bei der Vollstreckung fest installierte bzw. tragbare Bildschirmgeräte anwenden. Daher ist dieses Urteil auch geeignet, einen ersten Überblick über die neuen Kategorien der im Dezember 2016 in Kraft getretenen Arbeitsstättenverordnung (BGBl I, 2681) zu geben.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Obergerichtsvollzieher an einem Amtsgericht in Rheinland-Pfalz. Am 17.11.2015 wurde ihm durch seinen Augenarzt eine Bildschirmarbeitsbrille mit Kunststoffarbeitsgläsern und Entspiegelung verordnet. Er beantragte daher beim Direktor des Amtsgerichts im Dezember 2015 die Genehmigung der Beschaffung einer Bildschirmarbeitsbrille und die Erstattung der Aufwendungen. Der Direktor lehnte den Antrag ab, nachdem das zuständige Justizministerium die Rechtsauffassung vertreten hatte, dass Arbeitsmittel des Gerichtsvollziehers mit der Vergütung nach der Gerichtsvollziehervergütungsordnung abgegolten seien.
Der Obergerichtsvollzieher legte Widerspruch ein und berief sich zur Begründung unter anderem auf § 6 Abs. 2 der Bildschirmarbeitsverordnung. Der Präsident des zuständigen Oberlandesgerichts Zweibrücken wies den Widerspruch zurück und machte sich die Rechtsauffassung des Ministeriums zu eigen. Einen Blick in die juris-Datenbank hatte er offenkundig unterlassen, denn die Norm, auf die sich der Widerspruchsführer bezogen hatte, war bereits 2008 aufgehoben worden.
Der Kläger erhob rechtzeitig Klage. Er hielt an seinem Antrag fest und berief sich weiter unverdrossen auf § 6 Abs. 2 der Bildschirmarbeitsverordnung; zusätzlich brachte er noch § 1 Abs. 2 der PSA-BV ins Spiel. Der beklagte Präsident hielt an seinem Bescheid fest und berief sich weiter auf den besonderen Status der Gerichtsvollzieher.
Das VG Neustadt konnte unproblematisch die Zulässigkeit der Klage nach § 126 Abs. 1 BRRG, § 54 Abs. 1 BeamtStG i.V.m. § 40 Abs. 2 Satz 2 VwGO feststellen, da nach allgemeiner Ansicht Gerichtsvollzieher als Beamte zu qualifizieren sind. Damit war für die Begründetheit eindeutig, dass der Kläger als Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG einzustufen ist, so dass die maßgeblichen arbeitsschutzrechtlichen Normen zu prüfen waren. Zutreffend erkannte das Verwaltungsgericht, dass hier als Anspruchsgrundlage seit 2008 der Anhang Teil 4 Abs. 2 Nr. 2 der ArbMedVV in Betracht kommt, der den allgemeinen Anspruch aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG konkretisiert. Danach sind spezielle Sehhilfen für die Arbeit an Bildschirmgeräten zur Verfügung zu stellen, wenn im Ergebnis einer Angebotsvorsorge eine solche Notwendigkeit augenärztlich festgestellt worden ist. Die entsprechende ärztliche Bescheinigung lag vor und wurde nicht in Frage gestellt.
Das Verwaltungsgericht stufte bereits den Büroarbeitsplatz des Klägers im Home Office als Bildschirmarbeitsplatz im Sinne des zum Entscheidungszeitpunkt geltenden § 2 Abs. 2 BildscharbV ein, so dass insoweit ein entsprechender Anspruch auf arbeitsmedizinische Angebotsvorsorge bestand. Diesen Anspruch sah das Gericht spezieller als die weiter ins Spiel gebrachte PSA-BV an. Besonderheiten des Dienstverhältnisses von Gerichtsvollziehern waren aus Sicht des Verwaltungsgerichts nicht von Bedeutung, da bereits auf der praktischen Ebene deutlich war, dass bei einer realitätsnahen Bemessung der Sach- und Personalkosten von Gerichtsvollziehern die Kosten augenärztlicher Untersuchungen in den Pauschalen nicht einkalkuliert sind. Maßgeblich war aber aus der Sicht des Gerichts vor allem die unionsrechtliche Situation, denn dieser Anspruch auf spezielle Sehhilfen und Kostenersatz ergibt sich bereits aus Art. 9 der RL 90/270/EWG, die in Deutschland bis 2016 durch die BildschArbV umgesetzt worden war. Von diesen unionsrechtlichen Vorgaben kann jedoch weder der Präsident des Oberlandesgerichts noch das Justizministerium abweichen. Die Überwälzung der Kosten für Untersuchung und Brille verstoße im Übrigen auch gegen § 3 Abs. 3 ArbSchG, so dass die 2003 vom BVerwG entschiedenen Grundsätze auch für Gerichtsvollzieher gelten. Ministerielle Rundschreiben können unionsrechtliche und bundesgesetzliche Vorgaben nicht überwinden, so dass der Klage unproblematisch stattzugeben war.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung demonstriert schulbuchmäßig die Anwendung des heutigen Arbeitsschutzrechts, das im Wesentlichen auf unionsrechtlichen Grundlagen basiert. Sowohl nach den maßgeblichen Richtlinien der Union als auch nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG sind auch Beamte Beschäftigte, so dass als konkrete Anspruchsgrundlage Anhang 4 der ArbMedVV in Betracht kam. Dies war im November 2016 auch einfach aufzufinden, da § 6 BildscharbV auf diese Grundlage verwiesen hatte. Die frühere Anspruchsgrundlage in § 6 Abs. 2 BildscharbV war bereits 2008 aufgehoben worden, um die Folgen arbeitsmedizinischer Vorsorge einheitlich in einer Verordnung – der ArbMedVV – bündeln zu können.
Inzwischen ist die Rechtslage etwas unübersichtlicher geworden, weil die Neufassung der ArbstättV vom 30.11.2016 zusätzliche Differenzierungen ins Spiel gebracht hat. Der klagende Gerichtsvollzieher gehört zu den besonders „modernen“ Beschäftigten, der verschiedene Varianten in seiner Beschäftigung praktiziert. In der Regel fehlt ein gerichtlicher Büroarbeitsplatz, der als Bildschirmarbeitsplatz i.S.d. § 2 Abs. 5 ArbStättV n.F. einzustufen ist, weil er sich in „Arbeitsräumen“ befindet. Regelmäßig arbeitet er in einem Home Office; dies ist ein Telearbeitsplatz i.S.d. § 2 Abs. 7 ArbStättV n.F., für den die neue ArbStättV nur eingeschränkt nach Maßgabe von § 1 Abs. 3 ArbStättV gilt. Im Außendiensteinsatz leistet er mobile Arbeit, für die arbeitsstättenbezogene Vorschriften der neuen ArbStättV nicht gelten sollen (BR-Drs. 506/16 (B), S. 36; Wiebauer, NZA 2016, 1430, 1432). Dies bedeutet allerdings nicht, dass mobile Arbeit damit völlig außerhalb des Arbeitsschutzrechts steht (dazu schon Calle Lambach/Prümper, RdA 2014, 345). Bereits vor 2016 war anerkannt, dass für Arbeitsplätze in mobiler Arbeit vor allem auf die Generalklausel des § 3 ArbSchG zurückzugreifen ist (dazu Feldhoff in: HK-ArbSchR, BildschArbV Rn. 70 ff.). Für die in unserem Fall maßgebliche Anspruchsgrundlage in der ArbMedVV ist diese Differenzierung ohne Bedeutung, weil die Angebotsvorsorge für alle Beschäftigten gilt, die „Tätigkeiten an Bildschirmgeräten“ ausüben. Es geht also nicht um den restriktiven Begriff des Bildschirmarbeitsplatzes oder des Telearbeitsplatzes. Die Tätigkeit an Bildschirmgeräten ist in § 2 Abs. 6 ArbStättV neu definiert; sie umfasst jegliche Tätigkeiten an Bildschirmgeräten, also auch die mobile IT-gestützte Arbeit. Für den Gerichtsvollzieher gilt daher die Anspruchsgrundlage aus dem Anhang der ArbMedVV in jeglicher Dimension seiner Tätigkeit.
Zutreffend ist vor allem der Hinweis des Gerichts auf die grundlegende Norm des § 3 Abs. 3 ArbSchG (zu ihr zuletzt Kohte, ArbuR 2016, 404), wonach die Kosten des Arbeitsschutzes in keinem Fall auf die Beschäftigten abgewälzt werden dürfen. Die früher geltende Norm des § 6 Abs. 2 BildschArbV war daher schon vor 20 Jahren als Konkretisierung von § 3 Abs. 3 ArbSchG qualifiziert worden (BR-Drs. 656/96, S. 33; Wlotzke, NJW 1997, 1469, 1474). Durch die Umsetzung in den Anhang der ArbMedVV hat sich dieser Zusammenhang nicht geändert.

D. Auswirkungen für die Praxis

Als eine erste Konsequenz für die Praxis ist diese Angebotsvorsorge allen Beschäftigten anzubieten. Zuständig ist dafür nach § 5 ArbMedVV der Arbeitgeber/Dienstherr, der dies nicht nur gegenüber Angestellten, sondern auch Beamten, Gerichtsvollziehern, Richtern und Staatsanwälten zu realisieren hat (an unserer Hochschule erfolgt ein solches Angebot auch gegenüber Professorinnen und Professoren). Ergibt sich aus der Untersuchung die Notwendigkeit einer speziellen Sehhilfe, so ist diese zu gewährleisten bzw. sind deren Kosten zu erstatten.
Unter arbeitsschutzrechtlicher Sicht ist zu beachten, dass solche Sehhilfen immer nur einen sekundären Schutz darstellen (Kohte/Habich, CR 2000, 667, zu ArbG Neumünster, Urt. v. 20.01.2000 – 4 Ca 1034 b/99). Vorrangig ist der primäre Schutz, indem Geräte zur Verfügung gestellt werden, die den Anforderungen des Anhangs 6 der ArbStättV gerecht werden, also z.B. flimmerfrei sind, hinreichende Kontraste und Zeichengrößen aufweisen und mit der erforderlichen Softwareergonomie versehen sind. Dies ist im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festzustellen; auch für Telearbeitsplätze im Home Office ist beim erstmaligen Einsatz eine solche Gefährdungsbeurteilung vorzunehmen. Für die mobile Arbeit greift hier neben Anhang 6.2. der ArbStättV § 5 BetrSichV ein. Gesunde Arbeitsmittel, die wiederum flimmerfrei und mit der entsprechenden Zeichengröße versehen sind, werden nach der BetrSichV für jede betriebliche Tätigkeit – also auch für den Einsatz in mobiler Arbeit – geschuldet. Dies gilt nach § 5 Abs. 4 BetrSichV auch dann, wenn Beschäftigte für ihre betriebliche Tätigkeit ein eigenes Gerät nutzen (dazu Kohte, NZA 2015, 1417, 1421; vgl. Wiebauer, NZA 2016, 1430, 1432). Die Digitalisierung der Justiz kann somit nicht jenseits des Arbeitsschutzrechts erfolgen. Wer die elektronische Akte einführen will, wird die klassischen Aufgaben der Gefährdungsbeurteilung, der Unterweisung und der Überlassung geeigneter Hard- und Software für alle Beschäftigten und für sämtliche Modalitäten der Tätigkeiten an Bildschirmgeräten zu beachten haben.