Nachfolgend ein Beitrag vom 28.3.2017 von Viefhues, jurisPR-FamR 6/2017 Anm. 3

Orientierungssätze

1. Der gegenüber einem minderjährigen Kind Unterhaltspflichtige ist verpflichtet, seine Arbeitskraft so gut wie möglich auszunutzen, um so das Existenzminimum des Kindes sicherstellen zu können. Ihn trifft die Darlegungslast, dieser gesteigerten Erwerbsobliegenheit genügt zu haben.
2. Fehlt es bei den Bemühungen um eine besser bezahlte Arbeitsstelle an der zu fordernden Nachhaltigkeit, da der Unterhaltspflichtige über einen Zeitraum von Anfang Januar bis 24.06.2016 keine Bewerbungsbemühungen entfaltet hat (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 23.12.2015 – 2 UF 213/15) und genügen die vorgelegten Bewerbungen, bei denen es sich ersichtlich um sogenannte „Blindbewerbungen“ handelt, auch in qualitativer Hinsicht den im Hinblick auf die nachzuweisende Ernsthaftigkeit der Bemühungen zu stellenden Anforderungen nicht, wurde der Unterhaltspflichtige seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht gerecht.

A. Problemstellung

Die konkreten Umstände der Obliegenheiten eines unterhaltspflichtigen Elternteils, an deren Verletzung die Anrechnung eines fiktiven Erwerbseinkommens geknüpft werden kann, haben in der Praxis eine große Bedeutung. Das OLG Hamm zeigt hier eine Reihe von Details auf.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsgegner ist gelernter Maurer, hat in diesem Beruf jedoch bereits seit längerem nicht mehr gearbeitet. Er ist seit Juni 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt, im Schichtdienst tätig und arbeitet regelmäßig mindestens acht Stunden pro Arbeitstag und erzielt daraus ein Nettoeinkommen von rund 1.260 Euro monatlich. Er zahlt bisher monatlich Unterhalt an sein minderjähriges Kind unterhalb des Mindestunterhaltes. Im Abänderungsverfahren wird die Heraufsetzung auf den Mindestunterhalt begehrt. Das Familiengericht hatte dem Antragsgegner Verfahrenskostenhilfe verweigert.
Seine Beschwerde blieb erfolglos. Das OLG Hamm hat die sofortige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts zurückgewiesen.
Der Antragsgegner sei gegenüber dem minderjährigen Antragsteller in gesteigertem Maße unterhaltspflichtig (§ 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB). Für ihn bestehe insbesondere die Pflicht, seine Arbeitskraft so gut wie möglich auszunutzen, um so das Existenzminimum seines Sohnes sicherstellen zu können. Seine Leistungsfähigkeit werde nicht allein durch seine tatsächlichen Einkünfte bestimmt, sondern auch dadurch, welches Einkommen er realistischer Weise erzielen könnte, wenn er sich im gebotenen Maße um eine besser bezahlte Arbeitsstelle bemüht hätte. Der gesteigert unterhaltspflichtige Elternteil müsse sich ernsthaft und intensiv um eine zumutbare Arbeitsstelle bemühen. Ihn treffe die Darlegungslast, dass er dieser gesteigerten Erwerbsobliegenheit genügt habe.
Diesen Anforderungen genügten seine nachgewiesenen Bewerbungsbemühungen nicht.
Das OLG Hamm hat beanstandet, dass die Bewerbungsbemühungen bereits von ihrem Umfang her nicht ausreichend seien. Für das Jahr 2014 seien nur insgesamt elf datierte Bewerbungsschreiben vorgelegt worden. Für das gesamte Jahr 2015 seien lediglich 44 Bewerbungen nachgewiesen, also noch nicht einmal eine Bewerbung pro Woche. Für das Jahr 2016 habe der Antragsgegner zwar bisher 44 Bewerbungen vorgelegt, diese jedoch sämtlich erst für die Zeit ab 25.06.2016. Er habe nicht dargelegt, warum er im Zeitraum in der ersten Jahreshälfte keine Bewerbungsbemühungen entfaltet habe. Daher fehle es seinen Bemühungen bereits aus diesem Grund an der zu fordernden Nachhaltigkeit (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 23.12.2015 – 2 UF 213/15 Rn. 19).
Auch in qualitativer Hinsicht genügten die vorgelegten Bewerbungen nicht den im Hinblick auf die nachzuweisende Ernsthaftigkeit der Bemühungen zu stellenden Anforderungen. Die Bewerbungsschreiben seien im Wortlaut weitgehend identisch, je nachdem, ob der Antragsgegner sich um eine Arbeitsstelle als Maurer oder als Produktionsmitarbeiter beworben habe. Es fehle jeglicher individuelle Zuschnitt auf das angeschriebene Unternehmen.
Zu den Rechtschreibfehlern in den Bewerbungsschreiben habe der Antragsgegner auf seine Legasthenie verwiesen. Gerade bei einem immer wieder verwendeten Standardtext dürfte es auch einem Legastheniker, dem seine Rechtschreibschwäche bekannt sei, möglich sein, den Text durch eine dritte Person auf derartige Fehler überprüfen zu lassen.
Gravierender wiegen allerdings die zahlreich festzustellenden Fehler bei der Bezeichnung des angeschriebenen Unternehmens in der Anschrift. Insgesamt erwecken diese Fehler – auch aus Sicht der angeschriebenen Unternehmen – den Eindruck, dass wenig Sorgfalt auf die Auswahl des angeschriebenen Unternehmens und die Abfassung der Bewerbungsschreiben verwendet worden sei. Dies wiederum lege es nahe, dass es den Bewerbungsbemühungen des Antragsgegners an der notwendigen Ernsthaftigkeit fehle.
Die Bewerbungen seien zudem als „Blindbewerbungen“ zu bewerten, was sowohl aus dem Text der Bewerbungsschreiben („habe die Initiative ergriffen“) als auch aus dem Fehlen einer Bezugnahme auf ein konkretes Stellenangebot des jeweiligen Unternehmens gefolgert werden müsse. Allein durch derartige Blindbewerbungen, also durch Bewerbungen, die abgegeben werden ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Arbeitgeber überhaupt eine Arbeitskraft suche, werde der Unterhaltspflichtige seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht gerecht (OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.03.2011 – 9 UF 89/10 Rn. 20; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2011 – 10 UF 106/10 Rn. 23; KG Berlin, Urt. v. 01.10.2010 – 13 UF 91/10 Rn. 19; Viefhues in: jurisPK-BGB, 8. Aufl., § 1603 Rn. 459 f.).
Derartige Blindbewerbungen kämen lediglich ergänzend zu den Bewerbungen auf konkrete Stellenangebote in Betracht. Vom Unterhaltspflichtigen sei zu verlangen, dass er die Stellenangebote in den örtlichen und regionalen Zeitungen und Anzeigenblättern sowie einschlägigen Internetportalen auf für ihn in Betracht kommende Anzeigen sorgfältig prüfe. Dass der Antragsgegner sich seit Mai 2014 in keinem einzigen Fall auf ein konkretes Stellenangebot beworben habe, sondern sich vielmehr auf Blindbewerbungen beschränkt habe, bestätigten ebenfalls die erheblichen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen. Derartige berechtigte Zweifel gingen aber zulasten des Unterhaltspflichtigen, der sich auf eine mangelnde Leistungsfähigkeit berufe.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung des OLG Hamm bewegt sich im Rahmen der üblichen strengen Anforderungen an die Bewerbungsbemühungen eines gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB verschärft haftenden Elternteils (ausführlich Büte, FuR 2016, 550 und FUR 2016, 624).
Dabei geht es hier nicht um die Bewerbungsbemühungen eines erwerbslosen Unterhaltspflichtigen, sondern um die Obliegenheit, eine besser bezahlte Arbeitsstelle zu suchen, da der Mindestunterhalt aufgrund des tatsächlich erzielten Einkommens nicht gezahlt werden kann (dazu Viefhues in: jurisPK-BGB, 8. Aufl., § 1603 BGB Rn. 673 ff.).
Allein der Umstand, dass er seit rund 17 Jahren nicht als Maurer gearbeitet hat, bedeutet nicht, dass er nicht doch eine Anstellung im Baugewerbe erlangen kann.
Fiktive Einkünfte aus einer Nebentätigkeit konnten dem Unterhaltspflichtigen nicht entgegengehalten werden, da er wegen seines Schichtdienstes keine Genehmigung für die Ausübung einer Nebentätigkeit seitens seines Arbeitgebers erhält (zu diesem Gesichtspunkt bei der unterhaltsrechtlichen Nebentätigkeitsobliegenheit vgl. Viefhues in: jurisPK-BGB, 8. Aufl., § 1603 BGB Rn. 812 ff. m.w.N.).

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die anwaltliche Praxis besonders interessant sind die zahlreichen Details, aus denen das OLG Hamm die nicht ausreichenden Bewerbungsbemühungen herleitet. Im gerichtlichen Verfahren muss der Unterhaltspflichtige, der sich auf eine mangelnde Leistungsfähigkeit beruft, hierzu ausreichenden Sachvortrag bringen und jeden Zweifel entkräften.
Das OLG Hamm hat weiterhin klargestellt, dass der Unterhaltspflichtige gehalten ist, seine beruflichen Möglichkeiten zu verbessern und eventuell vorhandene Defizite abzubauen, um seine berufliche Einsatzfähigkeit zu steigern (vgl. Viefhues in: jurisPK-BGB, 8. Aufl., § 1603 BGB Rn. 509 ff. m.w.N.). Da er über einen Motorroller verfügt, ist er somit auch unabhängig vom öffentlichen Nahverkehr mobil. Sollte ein Führerschein tatsächlich Voraussetzung für die Erlangung einer besser bezahlten Arbeitsstelle im Handwerksbereich sein, wäre er gehalten gewesen, sich um den Erwerb einer Fahrerlaubnis zu bemühen.