Nachfolgend ein Beitrag vom 10.1.2018 von Kohte, jurisPR-ArbR 2/2018 Anm. 1

Leitsätze

1. Das Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine angemessene Vorkehrung i.S.v. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i i.V.m. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK.
2. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, innerhalb der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchzuführen.

A. Problemstellung

Der bisherige § 84 SGB IX – inzwischen seit dem 01.01.2018 § 167 SGB IX – ist vor allem durch das in Absatz 2 geregelte betriebliche Eingliederungsmanagement bekannt und Gegenstand zahlreicher Entscheidungen geworden. Dagegen ist die Konfliktprävention in § 84 Abs. 1 SGB IX bisher nur selten thematisiert worden. Der Sechste Senat des BAG hatte in zwei restriktiv gefassten Entscheidungen 2007 und 2008 diese Norm in den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses nicht zur Geltung gebracht (BAG, Urt. v. 28.06.2007 – 6 AZR 750/06 – NZA 2007, 1049; BAG, Urt. v. 24.01.2008 – 6 AZR 96/07 – NZA-RR 2008, 405). Dies ist in der Literatur teilweise kritisiert worden (dazu nur Deinert, JR 2007, 177 und NZA 2010, 969, 970; Gagel, jurisPR-ArbR 39/2007 Anm. 1). Im vorliegenden Fall bestätigt der Achte Senat des BAG diese Restriktion – allerdings mit wichtigen Modifizierungen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin ist eine Diplom-Ökonomin, die als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt ist. Zum 01.10.2012 war sie vom beklagten Land mit einer Probezeit von sechs Monaten als Leiterin einer Organisationseinheit beim Landesamt angestellt worden. Nach vier Monaten teilte der Präsident des Landesamtes der Hauptschwerbehindertenvertretung im Rahmen eines Gesprächs mit, dass die Klägerin seine Erwartungen bislang nicht erfüllt habe. In einem Personalgespräch informierte er sie über seine Absicht, das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der Probezeit zu beenden und hörte die zuständige Personalvertretung an. Ob auch die zuständige Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß angehört worden war, blieb im Verfahren offen. Auf jeden Fall erfolgte die fristgemäße ordentliche Kündigung zum 31.03.2013.
Die Klägerin erhob keine Kündigungsschutzklage, verlangte jedoch vom Beklagten einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land habe es unterlassen, das Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Damit sei von einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auszugehen. Das beklagte Land widersprach dieser Rechtsansicht; in den ersten sechs Monaten sei ein solches Verfahren nicht durchzuführen. In einem solchen Fall würde die Klägerin während der Probezeit bessergestellt als nichtbehinderte Arbeitnehmer. Das sei nicht zulässig.
Die Klägerin unterlag in allen Instanzen.
Der Achte Senat des BAG nutzte diese Gelegenheit zu rechtsgrundsätzlichen Ausführungen. Zunächst griff er die Aussage der Klägerin auf, dass ein solches Präventionsverfahren eine „angemessene Vorkehrung“ sei, wie sie in Art. 5 der RL 2000/78/EG verlangt würde. Das Unterlassen einer solchen Vorkehrung sei – so die Klägerin – eine Benachteiligung. Diesem Ausgangspunkt stimmte der Senat zu. In Übereinstimmung mit der Systematik der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der RL 2000/78/EG stellte er fest, dass auch im Unterlassen einer angemessenen Vorkehrung eine Benachteiligung nach den §§ 1, 7 AGG liege. Dies ist eine wichtige Aussage, die für künftige Verfahren – vor allem zu § 164 Abs. 4 SGB IX – von großer Bedeutung sein wird. Sie entspricht der neueren Diskussion und rechtfertigt sich auch aus einer völkerrechtskonformen Auslegung, da in der UN-BRK dieser Grundsatz normiert ist.
Für das Verfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX lehnt der Senat allerdings eine solche Einstufung als angemessene Vorkehrung ab, da es sich bei dem Verfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX nicht um einen individuellen Nachteilsausgleich handle. Dies ist nachvollziehbar und entspricht auch der neueren Literatur (vgl. Porsche, Bedeutung, Auslegung und Realisierung des Konzepts der positiven Maßnahmen nach § 5 AGG im unionsrechtlichen Kontext, 2016, S. 600; Rabe-Rosendahl, Angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen im Arbeitsrecht – Die Umsetzung des Artikels 5 Richtlinie 2000/78/EG in Deutschland und Großbritannien, 2017, S. 413).
Weiter geht der Senat auf die Frage ein, ob § 84 Abs. 1 SGB IX eine positive Maßnahme darstelle. Dies ist eine für das Verfahren entscheidende Fragestellung, denn der 5. Senat des BVerwG hatte bereits in mehreren Verfahren 2011 entschieden, dass auch im Unterlassen einer positiven Maßnahme, die für schwerbehinderte Menschen vorgeschrieben ist, eine Diskriminierung liegen könne (BVerwG, Urt. v. 03.03.2011 – 5 C 16/10 – NJW 2011, 2452). Das ist ein wichtiger Ausgangspunkt; das beklagte Land hatte ihn unfreiwillig markiert, als es eine Auslegung für unzulässig erklärte, mit der die Klägerin bessergestellt würde. Dies ist aber gerade der Zweck positiver Maßnahmen, mit denen schwerbehinderte Menschen eine bessere Ausgangsposition am Arbeitsmarkt erhalten sollen.
Der Achte Senat des BAG ließ diese Frage jedoch offen, da aus seiner Sicht das Verfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX in den ersten sechs Monaten nicht durchzuführen sei. Es ziele auf einen kündigungsrechtlichen Bestandsschutz, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Verfügung stehe. Im Übrigen sei ein solches Verfahren für diesen Zeitpunkt zu aufwendig. Folgerichtig lehnte der Senat eine Benachteiligung der Klägerin ab, so dass kein Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG bestehe.

C. Kontext der Entscheidung

Mit der Entscheidung werden die wichtigen Kategorien der angemessenen Vorkehrungen und der positiven Maßnahmen aufgegriffen, die im Recht der Benachteiligung wegen Behinderung eine zentrale Rolle spielen. Der Ausgangspunkt des Achten Senats, dass im Unterlassen angemessener Vorkehrungen eine Benachteiligung liegt, dass aber hier keine angemessene Vorkehrung vorliegt, ist nachvollziehbar. Aus meiner Sicht ist aber den weiteren Ausführungen des Senats nachhaltig zu widersprechen.
1. Der Senat nimmt eine teleologische Reduktion des bisherigen § 84 Abs. 1 SGB IX vor, indem das Verfahren auf die Voraussetzungen des Kündigungsschutzgesetzes beschränkt wird (dazu bereits Kohte in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 84 SGB IX Rn. 9 und Gagel, jurisPR-ArbR 39/2007 Anm. 1). Dies ist bereits mit dem Wortlaut der Norm schwer vereinbar. Im Gesetz werden eben gerade keine kündigungsrechtlichen Termini verwandt, sondern das Verfahren soll bereits bei Schwierigkeiten einsetzen, die zur Gefährdung eines Beschäftigungsverhältnisses führen können. Dies ist eindeutig dem Kündigungsschutzgesetz vorgelagert; Schwierigkeiten und Gefährdung sind kein Kündigungsgrund (Düwell in: LPK, 4. Aufl., § 84 SGB IX Rn. 15).
Während im Zustimmungsverfahren nach den §§ 168 ff. SGB IX nur selten der Bestand des Beschäftigungsverhältnisses gesichert werden kann, wie sich aus allen Statistiken aller Integrationsämter ergibt, ist das präventive Verfahren der Konfliktprävention eher chancenreich, weil zum vorgelagerten Zeitpunkt die Unterstützungsleistungen des Integrationsamtes abgeklärt und realisiert werden können (Kohte in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, § 84 SGB IX Rn. 5; Porsche, Bedeutung, Auslegung und Realisierung des Konzepts der positiven Maßnahmen nach § 5 AGG im unionsrechtlichen Kontext, S. 601). Daraus ergibt sich auch die zwingende Beteiligung des Integrationsamtes in § 167 Abs. 1 SGB IX, die nicht vom Willen der Beschäftigten abhängt. Das Integrationsamt ist in diesem Verfahren von Amts wegen verpflichtet, mögliche Unterstützungen zu prüfen. Dies entspricht den Vorgaben in Art. 27 UN-BRK und dem Normzweck, mit Hilfe der rechtlich vorgesehenen Unterstützungsleistungen Beschäftigungsverhältnisse zu sichern (so auch BGH, Urt. v. 20.12.2006 – RiZ (R) 2/06 – NVwZ-RR 2007, 328). In der Literatur wird daraus abgeleitet, dass das Verfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX als positive Maßnahme zu qualifizieren ist (Porsche, Bedeutung, Auslegung und Realisierung des Konzepts der positiven Maßnahmen nach § 5 AGG im unionsrechtlichen Kontext, S. 601), so dass im Anschluss an das BVerwG der Weg zu den §§ 15, 22 AGG eröffnet ist.
2. Der Weg zu § 22 AGG kann auch ohne die Rechtsfigur der positiven Maßnahme beschritten werden. Das Präventionsverfahren soll auch ermitteln, ob und wie der Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 SGB IX gestärkt werden kann (Rabe-Rosendahl, Angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen im Arbeitsrecht – Die Umsetzung des Artikels 5 Richtlinie 2000/78/EG in Deutschland und Großbritannien, S. 413). Dieser Anspruch besteht bereits in den ersten sechs Monaten des Beschäftigungsverhältnisses, so dass insoweit auch das Präventionsverfahren zu diesem Zeitpunkt eingreifen muss (Wietfeld, SAE 2017, 22, 29 f.; zustimmend Schmitt, BB 2017, 2293, 2298). Somit ist die Verletzung der Präventionspflicht ein geeignetes Indiz nach § 22 AGG, das allerdings vom Arbeitgeber gerade in den ersten sechs Monaten ausgeräumt werden kann. Dies entspricht der zutreffenden Judikatur des Neunten Senats des BAG, wonach die Verletzung von § 84 Abs. 1 SGB IX Konsequenzen für die Darlegungs- und Beweislast haben muss (BAG, Urt. v. 04.10.2005 – 9 AZR 632/04 – NZA 2006, 442, 445 m. zust. Anm. Kohte, jurisPR-ArbR 27/2006 Anm. 2; ebenso ArbG Berlin, Teilurt. v. 27.01.2017 – 28 Ca 9818/16: „Auch prozessual treffen den Arbeitgeber vielmehr erhöhte Anforderungen. Insbesondere kann dieser sich im Streit vor Gericht nicht kurzerhand auf den Einwand beschränken, ihm sei eine ‚leidensgerechte’ Beschäftigung des Anspruchstellers nicht möglich oder nicht zumutbar (s. BAG, Urt. v. 10.05.2005 – 9 AZR 230/04 Rn. 42 u. 47). Er hat stattdessen im Einzelnen darzulegen, warum die vom Anspruchsteller aufgezeigte Beschäftigungsmöglichkeit tatsächlich nicht zur Verfügung stehe (BAG, Urt. v. 10.05.2005 – 9 AZR 230/04). Etwaige Grenzen der Zumutbarkeit lassen sich in aller Regel auch nicht ohne Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX mit Erfolg geltend machen (s. BAG, Urt. v. 04.10.2005 – 9 AZR 632/04 Rn. 30)“.).
3. Noch weniger geeignet zur Rechtfertigung der teleologischen Reduktion des § 167 Abs. 1 SGB IX ist die „praktische“ Überlegung, dass ein Präventionsverfahren in den ersten sechs Monaten zu aufwendig sei. Da das Verfahren – wie oben gezeigt – dem Zweck der Norm entspricht, Wege zu einer behinderungsgerechten Beschäftigung zu klären, kann eine im Wortlaut nicht vorgeschriebene Restriktion so nicht begründet werden (dazu aus der früheren Rechtsprechung zu § 102 BetrVG: BAG, Urt. v. 29.03.1984 – 2 AZR 429/83 – NZA 1984, 159 im Anschluss an LArbG Hamm, Urt. v. 05.05.1983 – 8 Sa 255/83 – ZIP 1983, 1502). Im Übrigen ist in den ersten sechs Monaten ein solches Verfahren weniger aufwendig, denn es geht nicht um Bestandsschutz, sondern um die Klärung möglicher Unterstützungsmaßnahmen mit Hilfe des Integrationsamts.
4. Durch die neuere Rechtsentwicklung wird dieser Gesichtspunkt verdeutlicht. Bereits Anfang 2016 war für solche Fälle in § 95 Abs. 2 SGB IX vorgeschrieben, dass die zuständige Schwerbehindertenvertretung unterrichtet und angehört werden muss. Dies wurde in der Praxis nicht immer strikt beachtet, wie sich aus Umfragen und empirischen Erhebungen ergab (Düwell in: FS Kohte, 2016, S. 47, 67 Fn. 51 – auch im vorliegenden Fall war die Beteiligung der zuständigen Schwerbehindertenvertretung unklar geblieben). Seit dem 30.12.2016 ist in § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX – inzwischen § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX – eingefügt, dass eine Kündigung ohne vorherige ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam ist. Dieser Grundsatz gilt für sämtliche Kündigungen, da eine solche Ausnahme für die ersten sechs Monate wie in § 173 SGB IX hier nicht vorgenommen worden ist (so die allgemeine Meinung, vgl. Bayreuther, NZA 2017, 87, 88). Da die Schwerbehindertenvertretung zugleich als Verbindungsperson zum Integrationsamt fungiert (jetzt § 182 SGB IX), ist spätestens im Anhörungsverfahren nach § 178 SGB IX die Frage der Unterstützungsmöglichkeiten zu klären. Präventive Verfahren sind aber grundsätzlich frühzeitig durchzuführen, sobald die Störungen erkennbar sind. Zumindest seit dem 30.12.2016 ist daher kein Raum mehr für die „pragmatische“ Reduktion des § 167 Abs. 1 SGB IX. Eine Überprüfung der BAG-Judikatur zur Konfliktprävention ist daher geboten.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die BAG-Entscheidung ist geeignet, die Aufmerksamkeit auf das bisher vernachlässigte Verfahren der Konfliktprävention nach § 167 Abs. 1 SGB IX zu lenken. Es handelt sich um ein präventives Verfahren, mit dem rechtzeitig zusammen mit dem Integrationsamt geklärt werden soll, welche der zahlreichen Hilfen aus dem Schwerbehindertenrecht eingesetzt werden können. Eine solche Prävention entspricht auch der aktuellen Inklusionspolitik, mit der gerade junge Schwerbehinderte in den Arbeitsmarkt – und nicht nur in die Werkstätten – einbezogen werden sollen. Dem dient ab dem 01.01.2018 das Budget für Arbeit nach § 61 SGB IX 2018. In dieser Konstellation sind zumindest am Anfang der Beschäftigung Probleme nicht unwahrscheinlich; eine Beratung und eine Unterstützung junger Behinderter sind daher geboten. Das Verfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX vermittelt dazu den geeigneten Rahmen. Es ist systemwidrig, dieses Verfahren erst nach sechs Monaten einsetzen zu lassen.

Keine Entschädigung wegen Diskriminierung bei unterlassenem Präventionsverfahren in ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses
Thomas HansenRechtsanwalt
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