Orientierungssatz zur Anmerkung
Eine sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG stellt nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Sie ist „an sich“ als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Ob die sexuelle Belästigung im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist abhängig von den konkreten Umständen, u.a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität.
A. Problemstellung
- Arbeitgeber stehen vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung stets vor der Frage, ob die arbeitsvertragliche Pflichtverletzung des Arbeitnehmers so gravierend ist, dass eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne vorherige Abmahnung wirksam ist. Geht es um eine mögliche sexuelle Belästigung, ist diese Entscheidung für den Arbeitgeber besonders schwierig. Der Arbeitgeber möchte sich vor allem nicht vorwerfen lassen, etwa nicht angemessen reagiert zu haben, wenn er nur eine Abmahnung ausspricht und es danach ggf. zu weiteren sexuellen Übergriffen kommt (vgl. hierzu BAG, Urt. v. 09.06.2011 – 2 AZR 323/10). Eine sexuelle Belästigung rechtfertigt aber nicht zwangsläufig eine außerordentliche Kündigung – so auch in dem vom LAG Köln entschiedenen Fall.
- B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
- Der Kläger ist seit 1993 für die Beklagte tätig, zuletzt als Teamleiter. Die Beklagte erfuhr am 25.01.2012 von einer Einsatzweigerung der Leiharbeitnehmerinnen G und H. Am 01.02.2012 schilderten G und H der Beklagten die Gründe. Die schriftliche Schilderung ging der Beklagten am 13.02.2012 zu. Sie wurde dem Kläger am selben Tag bei einer Anhörung zum Vorwurf der sexuellen Belästigung vorgelesen. Die Beklagte führte zur Aufklärung weitere Gespräche mit Mitarbeitern. Am 14.02.2012 gingen ihr E-Mails über die Befragung der Arbeitnehmerin M zu. Am 15.02.2012 hörte die Beklagte den Betriebsrat zur außerordentlichen Kündigung an. Dieser stimmte zu.Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis am 21.02.2012 fristlos mit sofortiger Wirkung. Nachdem am 04.04.2012 der vom Kläger genutzte Rechner untersucht worden war, hörte die Beklagte am 16.04.2012 den Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers wegen Verstoßes gegen die betriebsinternen EDV-Richtlinien an. Der Betriebsrat hatte keine Bedenken. Mit Schreiben vom 26.04.2012 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis vorsorglich zum 31.10.2012.Der Kläger hat eine sexuelle Belästigung abgestritten. Mit der Leiharbeitnehmerin G habe er bis Oktober 2011 ein intimes Verhältnis gehabt. Das habe er beendet, nachdem G gefordert habe, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Der vom Kläger genutzte PC sei für mehrere Nutzer zugänglich. Er habe nur Zugang zum Intranet, nicht zum Internet und habe keine Dateien oder Programme heruntergeladen. Die Beklagte hat die erste Kündigung als Tat- und Verdachtskündigung auf die sexuelle Belästigung von G und H gestützt. Der Verdacht sei erhärtet worden durch die Angaben von M, die ebenfalls vom Kläger sexuell belästigt worden sei. Erschwerend komme hinzu, dass der Kläger seine Teamleiterposition ausgenutzt habe, indem er den Leiharbeitnehmerinnen gedroht habe, sie abzubestellen, wenn sie ihm nicht gefügig seien. Die ordentliche Kündigung sei wegen des Missbrauchs der betrieblichen EDV gerechtfertigt. Der Kläger habe erhebliche Mengen an Daten unbefugt während der Arbeitszeit heruntergeladen und Programme installiert. Es seien u.a. 6,3 GB Musik abgelegt worden. Durch ein Datenrecovery hätten 6.000 Dateien wieder hergestellt werden können. Der E-Mail-Account habe zahlreiche private E-Mails enthalten, z.T. mit Signatur der Beklagten. Diese hätten vereinzelt pornografischen Inhalt gehabt. Der Kläger habe auf das Internet über den Internet-Zugang von Kollegen zugreifen können.Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage nach Vernehmung der Zeugin H abgewiesen. Der Kläger habe die Zeugin H sexuell belästigt, weil er sie gegen ihren Willen geküsst habe. Er habe versucht, sie festzuhalten, als sie sich habe entziehen wollen. Zudem habe er gedroht, sie abzubestellen, wenn sie ihm nicht gefügig sei. Einer vorherigen Abmahnung habe es angesichts der Schwere der Tat nicht bedurft. Der Kläger hat Berufung eingelegt.Das LArbG Köln hielt die Berufung des Klägers für begründet. Weder die Kündigung vom 21.02.2012 noch die Kündigung vom 26.04.2012 hätten das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet. Für die außerordentliche Kündigung fehle ein wichtiger Kündigungsgrund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB.Das Landesarbeitsgericht war nach erneuter Vernehmung der Zeugin H nicht davon überzeugt, dass hinreichende Verdachtsmomente vorlägen, die eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen könnten. Eine sexuelle Belästigung i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG sei „an sich“ als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Ob die sexuelle Belästigung im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtige, sei abhängig von den konkreten Umständen, u.a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität. Auch hier sei aber regelmäßig eine vorherige Abmahnung erforderlich, es sei denn, dass bereits ex ante erkennbar sei, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten sei oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handele, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen sei (BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13). Auch der Verdacht einer schwerwiegenden arbeitsvertraglichen Verfehlung könne zum Ausspruch einer Kündigung genügen, wobei der Verdacht sich auf konkrete Tatsachen gründen und dringend sein müsse. An Darlegung und Qualität der schwerwiegenden Verdachtsmomente seien besonders strenge Anforderungen zu stellen, weil bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr bestehe, dass ein „Unschuldiger“ betroffen sei (BAG, Urt. v. 29.11.2007 – 2 AZR 724/06). Es müsse eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Verdacht zutreffe. Bloße auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichten zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG, Urt. v. 24.05.2012 – 2 AZR 206/11). Auch als ordentliche Kündigung sei eine Verdachtskündigung sozial nur gerechtfertigt, wenn Tatsachen vorlägen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten. Für beide Kündigungsarten müsse der Verdacht gleichermaßen erdrückend sein (BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 2 AZR 797/11). Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers sei Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung. Der Arbeitnehmer müsse die Möglichkeit haben, bestimmte, zeitlich und räumlich eingegrenzte Tatsachen zu bestreiten oder den Verdacht entkräftende Tatsachen aufzuzeigen und so zur Aufklärung der Geschehnisse beizutragen (BAG, Urt. v. 24.05.2012 – 2 AZR 206/11).Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liege kein Sachverhalt sexueller Belästigung vor, der ohne vorherige Abmahnung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertige. Die Zeugin H habe zwar glaubhaft bekundet, dass der Kläger sie überraschend gegen ihren Willen auf dem Mund geküsst habe. Das Landesarbeitsgericht ging jedoch davon aus, dass dieser Übergriff auch aufgrund nicht eindeutiger Verhaltensweise der Zeugin hervorgerufen worden sei. Zwar vermochte sie sich nicht mehr an den Inhalt des Flirts vor dem Kuss zu erinnern. Sie habe aber auf ihre schriftliche vorprozessuale Erklärung verwiesen, in der sie angegeben hatte, dass der Kläger direkt drauflos geflirtet habe. Sie habe sich auch nicht gänzlich abgeneigt gezeigt, sondern habe dem Kläger einen Kuss auf die Wange geben wollen, der nur dadurch zu einem Mundkuss geworden sei, weil der Kläger plötzlich seinen Kopf gedreht habe. Ein Zusammenhang zwischen dem Kuss und der Ausnutzung der Stellung als Teamleiter sei nicht feststellbar gewesen. Die Zeugin habe sich nicht daran erinnern können, ob der Kläger ihr zuvor gesagt habe, sie sei ihm etwas schuldig. Auch an die schwerwiegende Drohung, sie werde abbestellt, wenn sie ihm nicht gefügig sei, habe sich die Zeugin nicht erinnern können. Der Kläger habe auch weder den Kuss mit körperlicher Gewalt erzwungen noch habe er im Nachgang versucht, mit körperlicher Gewalt weitere Küsse zu erlangen. Die Zeugin habe zwar bekundet, dass der Kläger sie nach dem Kuss am Handgelenk gefasst habe, als sie habe gehen wollen, jedoch vermochte sie sich nicht daran zu erinnern, dass sie erhebliche körperliche Kraft habe anwenden müssen, um sich „loszureißen“. Der Vorfall habe die Zeugin auch nicht erheblich belastet. Sie habe sich nicht von sich aus über das Verhalten des Klägers beschwert, sei stattdessen nach dem Vorfall ihrer Arbeit nachgegangen. Die Initiative sei vielmehr von ihrem Arbeitgeber ausgegangen, der von dem Kuss über Dritte erfahren hatte. Frau H habe sich zwar überrumpelt gefühlt, aber es sei nur ein Kuss gewesen, das Thema sei für sie erledigt gewesen. Zudem habe sie ihre Arbeitsbeziehung zum Kläger als freundschaftlich bezeichnet. Angst vor ihm habe sie keine gehabt. Sie habe auch nicht den weiteren Einsatz im Betrieb der Beklagten abgelehnt. Zusammenfassend lasse sich daher nur feststellen, dass der Kläger zwar eine Flirtsituation „überschießend“ ausgenutzt habe. Es könne aber nicht davon ausgegangen werden, dass er seine betriebliche Position ausgenutzt habe, um eine Leiharbeitskraft sexuell in erheblichem Umfang zu nötigen oder er erhebliche körperliche Gewalt zum Zwecke der Erzwingung weiter Küsse eingesetzt habe. Eine erhebliche Belastung der Arbeitsbeziehungen sei nicht eingetreten. Im Hinblick auf diesen Hergang liege nach Art, Intensität und Auswirkung der Handlung kein so schwerwiegendes Fehlverhalten vor, das eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen würde.Die ordentliche Kündigung sei ebenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt. Als kündigungsrelevante Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten komme die unbefugte private Nutzung des Internets oder des Dienst-PCs grundsätzlich in Betracht. Nur im Fall einer exzessiven Nutzung des Mediums, die eine schwere Vertragspflichtverletzung darstellen würde, könne – ohne dass der Arbeitgeber vorher Beschränkungen angeordnet habe – davon ausgegangen werden, dass allein die Verletzung der arbeitsvertraglichen Leistungspflichten ohne Abmahnung zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen könne (BAG, Urt. v. 31.05.2007 – 2 AZR 200/06). Der von der Beklagten dargelegte Missbrauch der betrieblichen EDV sei, selbst wenn man das Vorbingen als richtig unterstelle, nicht so schwerwiegend, dass er ohne vorherige Abmahnung die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen könne. Zwar sei davon auszugehen, dass der Kläger in erheblichem Umfang Daten und Programme heruntergeladen und die E-Mail-Signatur der Beklagten auch zu privaten Zwecken eingesetzt habe. Jedoch sei nicht erkennbar, dass eine Vireninfizierung oder sonstige Beeinträchtigung des betrieblichen Systems drohte. Der Inhalt der privaten E-Mails sei auch nicht strafbewehrt. Worin der pornografische Inhalt der privaten E-Mails des Klägers bestanden haben solle, bleibe offen. Auch der zeitliche Umfang der Verletzung der Arbeitspflicht sei nicht ersichtlich.
- C. Kontext der Entscheidung
- Erst kürzlich hat sich der Zweite Senat des BAG (Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13) zu der Frage geäußert, ob eine sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen kann. Eine sexuelle Belästigung liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Bereits eine einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweise kann den Tatbestand erfüllen. Das BAG hatte angemerkt, dass der bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Kündigung zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch durch § 12 Abs. 3 AGG konkretisiert werde. Danach hat der Arbeitgeber bei Verstößen gegen das Verbot sexueller Belästigungen im Einzelfall die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen – wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung – zu ergreifen. Welche Maßnahmen der Arbeitgeber als verhältnismäßig ansehen dürfe, hänge von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Geeignet seien nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen dürfe, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellten, das heißt eine Wiederholung ausschlössen. Entscheidet sich der Arbeitgeber für eine Maßnahme, die einen Wiederholungsfall im konkreten Einzelfall offensichtlich gerade nicht ausschließt, bewegt er sich außerhalb seines Beurteilungsspielraums und kann ggf. nach § 15 AGG haften, wenn es zu weiteren sexuellen Belästigungen kommt. Wie im vorliegenden Falls des LArbG Köln war auch im Fall des BAG übrigens eine Leiharbeitnehmerin von der sexuellen Belästigung betroffen.
- D. Auswirkungen für die Praxis
- Sowohl aus der bereits erwähnten Entscheidung des BAG (Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13) als auch aus der vorliegenden Entscheidung des LArbG Köln folgt, dass die genaue Bewertung des Einzelfalls erforderlich ist, um zu einer angemessenen Reaktion des Arbeitgebers auf eine sexuelle Belästigung zu gelangen. Selbst bei einer so schwerwiegenden Pflichtverletzung wie sexueller Belästigung handelt es sich nicht um einen absoluten Kündigungsgrund. Die Verhältnismäßigkeit der Kündigung im Einzelfall muss geprüft werden. Das beginnt mit einer sorgfältigen Aufklärung des Sachverhalts durch den Arbeitgeber, die auch § 626 Abs. 2 BGB zulässt.