Leitsätze
1. Die Unterscheidung zwischen einem Werkstattverhältnis (arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis) und einem Arbeitsverhältnis erfolgt nicht nach dem Maß der Weisungsgebundenheit, sondern danach, ob die wirtschaftlich verwertbare Leistung oder der Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX (Teilhabe am bzw. Eingliederung in das Arbeitsleben) im Vordergrund steht.
2. Im Regelfall werden in einer Werkstatt für schwerbehinderte Menschen diese im Rahmen eines Werkstattverhältnisses tätig.
3. In § 22 Abs. 1 MiLoG wird bezogen auf schwerbehinderte Menschen in entsprechenden Werkstätten der allgemeine Arbeitnehmerbegriff vorausgesetzt. Damit gilt der Mindestlohn nicht für im Rahmen eines Werkstattverhältnisses Tätige.
A. Problemstellung
Standen in der noch kurzen Geschichte der Rechtsprechung zum MiLoG bisher Fragen der Anrechnung von Zulagen auf den Mindestlohn im Vordergrund, zeigt die vorstehende Entscheidung, dass über die Praktikumsverhältnisse hinaus der persönliche Anwendungsbereich Fragen aufwirft. Das ArbG Kiel musste entscheiden, ob ein in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigter schwerbehinderter Mensch Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn hat.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten um die angemessene Vergütung für das Tätigwerden des Klägers bei der Beklagten, insbesondere für das Jahr 2015 um Mindestlohnansprüche. Der Kläger ist seit 1994 auf Grundlage eines Werkstattvertrags in der Werkstatt M., einer Einrichtung i.S.v. § 136 Abs. 1 SGB IX, des beklagten Hilfswerks tätig. Auf Grundlage eines Werkstattvertrags vom Januar 2014 erhielt der Kläger eine Vergütung nach Lohnstufe 9 der Entgeltordnung der Beklagten, die auf § 138 Abs. 2 SGB IX fußt. Danach bezieht er für eine Tätigkeit von 38,5 Stunden/Woche eine Nettovergütung von 216,75 Euro.
Der Kläger meint, er sei Arbeitnehmer. Die Vergütung in Höhe von 1,49 Euro pro Stunde sei sittenwidrig, der angemessene Stundensatz betrage auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten mindestens 6,00 Euro. Das ursprüngliche arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis habe sich aufgrund seiner Persönlichkeitsentwicklung in ein Arbeitnehmerverhältnis umgewandelt. Aus den Beurteilungen werde ersichtlich, dass er seine Leistungsfähigkeit und seine Persönlichkeit verbessert habe. Da er Arbeitnehmer sei, gelte für ihn das Mindestlohngesetz und damit ab Januar 2015 ein Stundensatz von 8,50 Euro. Die Beklagte sieht eine arbeitnehmerähnliche Rechtsbeziehung gegeben, zumal der Betreuer des Klägers diesen noch im Mai 2014 als förderungsbedürftig i.S.v. § 136 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eingestuft habe. Er könne seine Vergütung daher nur auf Grundlage der Entgeltordnung gem. § 138 Abs. 2 SGB IX beanspruchen.
Das ArbG Kiel hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger kein Arbeitnehmer sei. Ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt oder nicht, sei nicht in erster Linie danach zu entscheiden, ob der betreffende behinderte Mensch in die WfbM eingegliedert sei oder nicht. Vielmehr könne von einem Arbeitsverhältnis erst dann ausgegangen werden, wenn der schwerbehinderte Mensch wie ein Arbeitnehmer auch in quantitativer Hinsicht wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringt, also der Hauptzweck seiner Beschäftigung das Erbringen wirtschaftlich verwertbarer Leistung ist und nicht i.S.v. § 136 Abs. 1 SGB IX die Teilhabe am und die Eingliederung in das Arbeitsleben (LArbG Stuttgart, Urt. v. 26.01.2009 – 9 Sa 60/08 Rn. 49). Gegen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung spreche vorliegend neben der sozialversicherungsrechtlich festgestellten Erwerbsunfähigkeit auch der aktualisierte Entwicklungsbericht, wonach der Kläger der weiteren arbeitspädagogischen Begleitung und Förderung bedurft habe. Auf dieser Grundlage wurde eine Eingliederungshilfe gezahlt, deren es nicht bedurfte hätte, wenn der Kläger eine wirtschaftlich tragfähige Arbeitsleistung erbringen würde. Da der Kläger kein Arbeitnehmer sei, könne er ab 2015 auch nicht den Mindestlohn nach dem MiLoG beanspruchen. Dieses sei auf arbeitnehmerähnliche Personen nicht anwendbar (Franzen in: ErfKomm, 15. Aufl. § 22 MiLoG Rn. 1; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, § 22 Rn. 13; Hilgenstock, MiLoG, A II 1 a aa: „Einheitlicher Arbeitnehmerbegriff“; Lakies, MiLoG, § 22 Rn. 3: „Allgemeine Abgrenzungskriterien“). Auch aus systematischen Erwägungen gelte das MiLoG nicht für arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse i.S.d. § 138 Abs. 1 SGB IX. Die eigenständige Vergütungsregelung für WfbM in § 138 Abs. 2 SGB IX liefe leer, wenn derartige Werkstattverhältnisse unter § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG fielen. § 138 Abs. 2 SGB IX sei insoweit zumindest eine speziellere Regelung (lex specialis).
C. Kontext der Entscheidung
Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Werden behinderte Menschen in anerkannten Werkstätten nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses tätig, sondern im Rahmen einer sonstigen Rechtsbeziehung beschäftigt, dann handelt es sich kraft Gesetzes (§ 138 Abs. 1 SGB IX) um ein arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis, dessen Einzelheiten im Rahmen eines Werkstattvertrags (§ 138 Abs. 3 SGB IX) geregelt werden sollen und für dessen Vergütung § 138 Abs. 2 SGB IX maßgeblich ist. Wie bei sonstigen arbeitnehmerähnlichen Personen (dazu Hromadka, NZA 1997, 1249, 1254; Preis in: ErfKomm, § 611 BGB Rn. 113; vgl. auch BAG, Urt. v. 08.05.2007 – 9 AZR 777/06 Rn. 13) findet auf die Rechtsbeziehung grundsätzlich kein Arbeitsrecht Anwendung (Pahlen in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 12. Aufl. 2010, § 138 Rn. 20). Die auf die Begründung zur entsprechenden Änderung des § 54b Abs. 2 SchwbG als Vorgängerregelung (Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 13/3904 S. 48 f.) gestützte Auffassung, dass auf arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse arbeitsrechtliche Vorschriften und Grundsätze entsprechend anwendbar sind, z.B. über Arbeitszeit, Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Entgeltzahlungen an Feiertagen, Erziehungsurlaub und Mutterschutz sowie über den Persönlichkeitsschutz und die Haftungsbeschränkung (Kossens in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 4. Aufl. 2015, § 138 Rn. 3; Jabben in: BeckOK-SozR, § 138 SGB IX Rn. 6; Rühle, DB 2001, 1364, 1365), verkennt das Wesen der arbeitnehmerähnlichen Rechtsbeziehung. Mangels Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses besteht auch kein Anspruch auf den Mindestlohn (Schmitz-Witte, AuA 2015, 136, 137). Für die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt, kommt es entgegen der etwas missverständlichen Formulierung des ArbG Kiel (Rn. 24) nicht darauf an, ob der behinderte Mensch auch in quantitativer Hinsicht wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringt (so auch LArbG Stuttgart, Urt. v. 26.01.2009 – 9 Sa 60/08 Rn. 49). Ein Arbeitnehmer, der keine quantitativ verwertbaren Leistungen erbringt, bleibt gleichwohl Arbeitnehmer und mutiert nicht zu einem tertium. Ein Arbeitsverhältnis liegt vor, wenn die Vergütung versprochen wird, weil der behinderte Mensch die Erbringung der Arbeitsleistung verspricht. Erfolgt die Beschäftigung hingegen, um dem behinderten Menschen die Beschäftigung zu ermöglichen (§ 136 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB IX), insbesondere um ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln (§ 136 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB IX), dann fehlt es an dem für das Arbeitsverhältnis typischen Austauschverhältnis. Dies gilt auch dann, wenn als Nebenleistung Geldzahlungen gewährt werden.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung schafft in rechtlicher Hinsicht für die Träger von WfbM Rechtssicherheit. Voraussetzung für die Vergütung auf Grundlage von § 138 Abs. 2 SGB IX und den Ausschluss des Anspruchs auf den Mindestlohn ist allerdings, dass die Beschäftigung nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erfolgt. Ob aus § 138 Abs. 1 SGB IX gefolgert werden kann, dass die Beschäftigung im Arbeitsbereich einer WfbM im Zweifel nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, sondern aufgrund arbeitnehmerähnlicher Rechtsbeziehung erfolgt (so auch LArbG Stuttgart, Urt. v. 26.01.2009 – 9 Sa 60/08 Rn. 50), erscheint zweifelhaft. In der Praxis werden die abgeschlossenen Verträge (Arbeits- oder Werkstattvertrag) regelmäßig Auskunft geben, was gewollt ist. Behauptet ein behinderter, in einer WfbM beschäftigter Mensch, dass abweichend von der getroffenen Werkstattvereinbarung ein Arbeitsverhältnis vorliegt, trägt er hierfür nach allgemeinen Voraussetzungen die Darlegungs- und Beweislast. Zu der Frage, ob sich ein arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis nach § 138 Abs. 1 SGB IX automatisch in ein Arbeitsverhältnis umwandeln kann, wenn der behinderte Mensch für Teilhabe an und Eingliederung in das Arbeitsleben nicht mehr hierauf angewiesen ist, musste sich das ArbG Kiel nicht mehr positionieren. Dogmatisch könnte eine solche „Umwandlung“ damit gerechtfertigt werden, dass mit einer Fortführung des Rechtsverhältnisses über den Zeitpunkt hinaus, in dem der behinderte Mensch auf diese Beschäftigung angewiesen ist, zum Ausdruck gebracht wird, dass die Beschäftigung als entgeltliche Rechtsbeziehung im Rahmen eines Austauschverhältnisses fortgeführt werden soll. Mindestvoraussetzung hierfür ist aber nicht nur, dass der behinderte Mensch trotz seiner Behinderung wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden kann, sondern dass der Beschäftigungsgeber dies auch weiß. Die Träger der WfbM sollten daher regelmäßig überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Beschäftigung zum Zwecke der Teilhabe am und Eingliederung in das Arbeitsleben noch vorliegen.