Nachfolgend ein Beitrag vom 5.12.2018 von Münder, jurisPR-ArbR 49/2018 Anm. 2

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Urlaubsantrag gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.
2. Kann das nationale Recht nicht im Einklang mit Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh ausgelegt werden, ist die nationale Regelung gemäß Art. 31 Abs. 2 GRCh in einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber unangewendet zu lassen.

A. Problemstellung

Das Urteil des EuGH setzt sich mit der Frage auseinander, ob der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub am Ende des Bezugszeitraums erlöschen darf, wenn der Arbeitnehmer keinen Urlaubsantrag gestellt hat. Der EuGH äußert sich außerdem erstmals zur unmittelbaren Horizontalwirkung des in Art. 31 Abs. 2 GRCh niedergelegten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das Urteil des EuGH erging auf ein Vorabentscheidungsersuchen des BAG (EuGH-Vorlage v. 13.12.2016 – 9 AZR 541/15 (A) – NZA 2017, 271). Im Ausgangsverfahren verlangte Herr Shimizu als ehemaliger Arbeitnehmer der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. (nachfolgend MPG) eine finanzielle Vergütung für den Jahresurlaub, den er vor Beendigung seines Arbeitsverhältnisses nicht genommen hatte. Er war bis zum 31.12.2013 bei der MPG beschäftigt und hatte noch Anspruch auf 53 Urlaubstage aus den Jahren 2012 und 2013. Nachdem die MPG Herrn Shimizu aufforderte, seinen Urlaub vor Ende des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, nahm er zwei Urlaubstage in Anspruch. Für die restlichen 51 Urlaubstage verlangte er eine Abgeltung. Das BAG legte dem EuGH zwei Fragen vor: (1.) Ist es richtlinienwidrig oder verstößt es gegen Art. 31 Abs. 2 GRCh, dass ein Arbeitnehmer den Urlaub beantragen muss, damit der Urlaub am Ende des Bezugszeitraums nicht ersatzlos untergeht, und der Arbeitgeber damit nicht verpflichtet ist, von sich aus und für den Arbeitnehmer verbindlich die zeitliche Lage des Urlaubs innerhalb des Bezugszeitraums festzulegen? Für den Fall, dass der EuGH eine Richtlinienwidrigkeit oder einen Charta-Verstoß annimmt, fragte das BAG (2.) danach, ob das auch gelte, wenn das Arbeitsverhältnis zwischen Privatpersonen bestand. Hintergrund der Frage ist, dass das BAG die MPG nicht dem Staat zurechnet, sondern als Privaten im Sinne des Unionsrechts einstuft, und der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung von Richtlinien ablehnt.
Auf die erste Frage des BAG hat der EuGH geantwortet, dass es richtlinienwidrig ist und gegen Art. 31 Abs. 2 GRCh verstößt, wenn ein Arbeitnehmer, der im Bezugszeitraum keinen Urlaubsantrag gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm zustehenden Urlaubstage und entsprechend bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses seinen Abgeltungsanspruch für nicht genommenen Urlaub automatisch verliert, ohne dass vorher geprüft wird, ob der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt hat, den Anspruch wahrzunehmen (Rn. 61).
Im Ausgangsverfahren stelle sich im Wesentlichen die Frage, ob Herr Shimizu im Beendigungszeitpunkt noch Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hatte. Dieser würde sich dann in eine finanzielle Vergütung umwandeln. Aus der bisherigen Rechtsprechung folge zwar nicht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub und der Abgeltungsanspruch völlig unabhängig von den Umständen erhalten bleiben müsse, die dazu geführt hätten, dass der Arbeitnehmer den bezahlten Jahresurlaub nicht genommen habe. Sogar der Verlust des Anspruchs am Ende eines Bezugs- oder Übertragungszeitraums sei zulässig – allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte, den Anspruch wahrzunehmen.
Diese Grenze werde verkannt, wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub automatisch erlösche, ohne dass vorher geprüft werde, ob der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, den Anspruch wahrzunehmen. Der Arbeitnehmer sei nämlich die schwächere Partei des Arbeitsvertrags. Er könne daher abgeschreckt sein, seine Rechte ausdrücklich geltend zu machen, da der Arbeitgeber darauf mit nachteiligen Maßnahmen reagieren könnte. Mit den Zielen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub – u.a., dass der Arbeitnehmer über eine tatsächliche Ruhezeit verfüge, um seine Sicherheit und Gesundheit wirksam zu schützen – sei es unvereinbar, Anreize zu schaffen, auf den Urlaub zu verzichten oder den Arbeitnehmer dazu anzuhalten, darauf zu verzichten. Daher müsse es vermieden werden, die Aufgabe, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, vollständig auf den Arbeitnehmer zu verlagern, während sich der Arbeitgeber seinen Pflichten entziehen könne, indem er auf den fehlenden Urlaubsantrag verweise. Die Pflicht des Arbeitgebers aus Art. 7 RL 2003/88/EG gehe zwar nicht so weit, dass er seinen Arbeitnehmer zwingen müsse, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen. Er müsse den Arbeitnehmer jedoch in die Lage versetzen, den Anspruch wahrzunehmen. Dazu sei der Arbeitgeber verpflichtet, „konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm […] klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird“ (Rn. 45).
Die Beweislast trage insoweit der Arbeitgeber. Könne er „nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen“, sei es richtlinienwidrig, dass der Urlaubsanspruch am Ende des Bezugs- oder Übertragungszeitraums erlösche und die Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausbleibe (Rn. 46). Könne der Arbeitgeber den Beweis hingegen erbringen, sodass sich zeige, „dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen“, verstoße es nicht gegen die Richtlinie, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlösche oder der Abgeltungsanspruch entfalle (Rn. 47).
In Bezug auf Art. 31 Abs. 2 GRCh weist der EuGH zunächst darauf hin, dass das Recht auf bezahlten Jahresurlaub nur unter den strengen Bedingungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh und insbesondere nur beschränkt werden könne, wenn sein Wesensgehalt geachtet werde. Daher könnten die Mitgliedstaaten nicht von dem sich aus Art. 7 RL 2003/88/EG i.V.m. Art. 31 Abs. 2 GRCh ergebenden Grundsatz abweichen, wonach ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugs- und/oder eines Übertragungszeitraums nicht erlösche, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen. Auch gemäß Art. 31 Abs. 2 GRCh dürfe ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub und damit der Abgeltungsanspruch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht automatisch entfallen, wenn der Arbeitnehmer keinen Urlaubsantrag gestellt habe, ohne dass zuvor geprüft wurde, ob der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen. Habe der Arbeitnehmer dagegen aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Konsequenzen seinen Urlaub nicht genommen, nachdem er in die Lage versetzt wurde, seinen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen, stehe Art. 31 Abs. 2 GRCh dem Verlust des Anspruchs oder des Abgeltungsanspruchs nicht entgegen.
Auf die zweite Frage des BAG antwortet der EuGH, dass ein nationales Gericht, wenn es das nationale Recht nicht im Einklang mit Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh auslegen könne, die nationale Regelung gemäß Art. 31 Abs. 2 GRCh auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen habe. Zwar wirkten Richtlinien unmittelbar, wenn eine Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sei sowie die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt sei. Jedoch könne sich der Einzelne nur gegenüber dem Staat unmittelbar auf die Richtlinie berufen. Ob die MPG dem Staat zuzurechnen sei, müsse das vorlegende Gericht prüfen. Eine unmittelbare Wirkung von Art. 7 RL 2003/88/EG gegenüber Privaten sei jedoch ausgeschlossen. Dagegen seien gemäß Art. 31 Abs. 2 GRCh nationale Regelungen, die dieser Norm entgegenstehen, auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unangewendet zu lassen. Der EuGH hebt hervor, dass die zwingende Formulierung in Art. 31 Abs. 2 GRCh des „Rechts“ „auf bezahlten Jahresurlaub“ anders als etwa Art. 27 GRCh nicht auf Voraussetzungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweise. Das Bestehen des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub sei daher zwingend und nicht von Bedingungen abhängig. Das Unionsrecht und das nationale Recht legten nur die genaue Dauer des Jahresurlaubs sowie ggf. Voraussetzungen fest, wie das Recht wahrzunehmen sei. Art. 31 Abs. 2 GRCh verleihe daher „für sich allein“ schon den Arbeitnehmern ein Recht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren Arbeitgeber geltend machen könnten. Nationale Gerichte hätten somit Regelungen unangewendet zu lassen, die Art. 31 Abs. 2 GRCh in der zuvor vom EuGH vorgenommenen Auslegung widersprächen. Dem stehe Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht entgegen. Danach gelte die Charta „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Damit werde nicht geregelt, ob Privatpersonen ggf. unmittelbar verpflichtet sein könnten, einzelne Bestimmungen der Charta einzuhalten, sodass das nicht kategorisch ausgeschlossen sei. Schon seinem Wesen nach gehe das Recht auf bezahlten Jahresurlaub mit einer Pflicht des Arbeitgebers einher, bezahlten Jahresurlaub zu gewähren oder nicht genommenen Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten.

C. Kontext der Entscheidung

Zunächst soll kurz die bestehende Rechtslage skizziert werden, die das BAG veranlasst hat, das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten (I.). Anschließend wird überlegt, wie das deutsche Recht in Einklang mit der Auslegung des Art. 7 RL 2003/88/EG und des Art. 31 Abs. 2 GRCh durch den EuGH zu bringen ist (II.). Schließlich wird die vom EuGH angenommene unmittelbare Horizontalwirkung von Art. 31 Abs. 2 GRCh eingeordnet (III.).
I. Bisherige Rechtslage in Deutschland
Ein Arbeitnehmer muss seinen Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt bekommen und nehmen, § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG. Danach erlischt der Urlaubsanspruch grundsätzlich (Gallner in: ErfKomm, 18. Aufl. 2018, § 7 BUrlG Rn. 34). Ins nächste Jahr wird der Anspruch nur übertragen, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG. In Fall der Übertragung muss der Urlaub dann in den ersten drei Monaten des Folgejahres gewährt und genommen werden, § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Danach erlischt der Urlaubsanspruch. Ist der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG erloschen, entsteht mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch kein Abgeltungsanspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG.
Hat der Arbeitnehmer rechtzeitig vor Jahresende verlangt, dass sein Arbeitgeber ihm Urlaub gewährt, ohne dass der Arbeitgeber den Urlaub tatsächlich gewährt hat, verliert der Arbeitnehmer zwar gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. An die Stelle tritt jedoch ein Schadensersatzanspruch gemäß den §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 BGB. Rechtsfolge dieses Schadensersatzanspruchs ist es, dass der Arbeitgeber im Wege der Naturalrestitution verpflichtet ist, Ersatzurlaub zu gewähren, der mit Ausnahme des Fristenregimes den Modalitäten des BUrlG folgt (BAG, Urt. v. 16.05.2017 – 9 AZR 572/16 Rn. 13 – NZA 2017, 1056). Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist der Anspruch auf Schadensersatz in Geld gerichtet.
Beantragt der Arbeitnehmer keinen Urlaub und verfällt der Urlaub in der Folge, steht dem Arbeitnehmer nach bisheriger Rechtsprechung jedoch kein Anspruch auf Ersatzurlaub zu, da der Arbeitgeber nach Auffassung des BAG nicht verpflichtet ist, von sich aus einseitig Urlaub zu gewähren (BAG, Urt. v. 15.09.2011 – 8 AZR 846/09 Rn. 66 – NZA 2012, 377; a.A. LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 12.06.2014 – 21 Sa 221/14 Rn. 36 f.). Da der Arbeitgeber, ohne dass der Arbeitnehmer einen Urlaubsantrag stellt, keine Pflicht verletzt, entsteht auch kein Schadensersatzanspruch.
II. Umsetzung ins deutsche Recht
Diese Rechtslage verstößt nach der zuvor dargestellten Entscheidung des EuGH sowohl gegen Art. 7 RL 2003/88/EG als auch gegen Art. 31 Abs. 2 GRCh. Es ist daher zu überlegen, wie deutsche Gerichte sicherstellen können, dass das deutsche Urlaubsrecht künftig richtlinien- und chartakonform ist. Der EuGH weist in seiner Entscheidung bereits auf die Pflicht zur „unionsrechtskonformen Auslegung“ hin (Rn. 57 ff.). Dazu gehöre auch, ggf. eine gefestigte Rechtsprechung abzuändern (Rn. 60).
Zunächst ist hervorzuheben, dass der EuGH anders als vom BAG angefragt nicht davon ausgeht, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Urlaub auch ohne einen Urlaubsantrag des Arbeitnehmers zu gewähren. Anstatt eine positive Pflicht des Arbeitgebers zu statuieren, auch „ungefragt“ Urlaub zu gewähren, antwortet der EuGH in doppelter Verneinung: Der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers darf nicht erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht „z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt“ hat, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen (Rn. 61). Dieser Pflicht kann der Arbeitgeber nachkommen, indem er seinen Arbeitnehmer auffordert, den Urlaub zu nehmen, und ihm „klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines […] Übertragungszeitraums verfallen wird“ (Rn. 45).
1. Keine richtlinienkonforme Auslegung oder Fortbildung von § 7 Abs. 3 BUrlG
Erster denkbarer Anknüpfungspunkt, um die Rechtsprechung des EuGH umzusetzen, ist § 7 Abs. 3 BUrlG, der das Erlöschen des Urlaubsanspruchs regelt. Den Vorgaben der Richtlinie und Charta würde es entsprechen, wenn der Urlaubsanspruch nur erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt hat, den Anspruch wahrzunehmen. Ein solches Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG liegt jenseits der Wortlautgrenze, anhand derer die Rechtsprechung Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander abgrenzt (BAG, Urt. v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 Rn. 28 – NZA 2010, 1020). Auch eine richtlinienkonforme Fortbildung des § 7 Abs. 3 BUrlG in Form einer richtlinienkonformen teleologischen Reduktion muss jedoch ausscheiden. Zwar werden verschiedene Auffassungen zur Frage vertreten, wann die Unvollständigkeit einer Norm planwidrig ist (vgl. etwa die Übersicht bei Höpfner in: Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 76 ff.). Doch sind die Auffassungen entweder abzulehnen oder § 7 Abs. 3 BUrlG ist, wenn man sie zugrunde legt, nicht planwidrig unvollständig.
Teilweise wird das deutsche Recht bereits als planwidrig unvollständig angesehen, wenn es einer Richtlinie widerspricht (Canaris in: FS Bydlinski, 2002, S. 85 ff.). Es besteht dann ein Automatismus zwischen der Richtlinienwidrigkeit einer Norm und ihrer Anpassung im Wege der Rechtsfortbildung. Dieser Automatismus ist abzulehnen, da das deutsche Recht damit zu einer bloßen Hülle würde, die durch die jeweilige Rechtsprechung des EuGH ausgefüllt würde. Rechtstaatliche Gebote wie das der Normenklarheit oder der Normenbestimmtheit würden aufgegeben.
Auch wenn man wie der BGH auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers abstellt (BGH, Urt. v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05 Rn. 23 ff. – BGHZ 179, 27), ist § 7 Abs. 3 BUrlG nicht planwidrig unvollständig, da der Gesetzgeber § 7 Abs. 3 BUrlG seit 1963 nicht verändert hat und die erste Urlaubsrichtlinie 1993 erlassen wurde. Es wäre daher eine offenkundige Fiktion, auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers abzustellen, da er einen derartigen Willen zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses ohne das entsprechende Sekundärrecht nicht bilden konnte.
Sieht man den gesetzgeberischen Willen zur konkreten Regelung als vorrangig gegenüber dem (generellen oder konkreten) Willen an, die Richtlinie umzusetzen (etwa BAG, Urt. v. 17.11.2009 – 9 AZR 844/08 Rn. 24 ff. – NZA 2010, 1020), scheidet eine Planwidrigkeit ebenfalls aus. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, im Jahr 1963 Voraussetzungen in § 7 Abs. 3 BUrlG zu regeln, zu denen sich der EuGH nun im Jahr 2018 geäußert hat.
2. Nebenpflicht des Arbeitgebers nach richtlinienkonformer Auslegung des § 241 Abs. 2 BGB
Bevor § 7 Abs. 3 BUrlG wegen Verstoßes gegen Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh für unanwendbar erklärt wird, ist zu überlegen, ob ein richtlinienkonformer Zustand auch in einer das nationale Recht schonenderen Weise hergestellt werden kann – also ohne Rückgriff auf den Vorrang des Unionsrechts. Möglicherweise kann die Aufforderungs- und Informationspflicht des Arbeitgebers nämlich als Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB eingeordnet werden. Eine Verletzung dieser Pflicht würde einen Schadensersatzanspruch gemäß den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB nach sich ziehen, der auf Gewährung von Ersatzurlaub gerichtet ist.
Nebenpflichten können sich, wenn sie sich nicht ausdrücklich im Gesetz oder der Parteivereinbarung festgelegt sind, aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses ergeben, § 241 Abs. 2 BGB. Das wird teilweise dahingehend verstanden, dass sich Inhalt und Umfang der Nebenpflichten nach den vertraglichen Abreden der Parteien sowie den konkreten Umständen des Einzelfalls richten (Sutschet in: BeckOK-BGB, Stand: 01.08.2018, § 241 Rn. 44). Das legt es nahe, durch (ggf. ergänzende) Vertragsauslegung zu ermitteln, ob der Arbeitgeber zur Aufforderung und Information verpflichtet ist. Ohne nähere Anhaltspunkte wird sich eine solche Pflicht dem Arbeitsvertrag jedoch nicht durch Auslegung entnehmen lassen. Auch kommt es nicht in Betracht, eine solche Pflicht im Wege der richtlinienkonformen (ergänzenden) Vertragsauslegung in den Arbeitsvertrag „hineinzulesen“, da Arbeitsverträge nicht richtlinienkonform auszulegen sind (a.A. Singer in: Staudinger, BGB, 2017, § 133 BGB Rn. 61). Eine richtlinienkonforme Arbeitsvertragsauslegung hätte zur Folge, dass Richtlinien für Private entgegen Art. 288 Abs. 3 AEUV Verbindlichkeit entfalten würden. Auch nach Auffassung des EuGH dürfen Richtlinien Bürgern aber keine Verpflichtungen auferlegen, sodass es ihnen gegenüber nicht möglich ist, sich auf eine Richtlinie zu berufen (st. Rspr., vgl. Besprechungsurteil Rn. 66).
Ein enges Verständnis des § 241 Abs. 2 BGB überzeugt jedoch nicht. „Inhalt des Schuldverhältnisses“ bedeutet vielmehr, dass sich der Umfang der Nebenpflichten auch nach der Art des Schuldverhältnisses bestimmen kann (Krebs in: Dauner-Lieb/Langen, BGB, 3. Aufl. 2016, § 241 Rn. 22). Ansonsten wäre es entgegen der gesetzgeberischen Vorstellung kaum möglich, dass in einem vorvertraglichen Schuldverhältnis gemäß § 311 Abs. 2 BGB Nebenpflichten bestehen (Krebs in: Dauner-Lieb/Langen, BGB, § 241 Rn. 22). Für diese Sichtweise spricht auch die Begründung des Regierungsentwurfs zur Schuldrechtsmodernisierung, im Zuge derer § 241 Abs. 2 BGB eingeführt wurde. Danach „meint die Bezugnahme auf den ‚Inhalt‘ vor allem das konkret Geregelte“ (BT-Drs. 14/6040, S. 126, Hervorhebung durch Verfasser), nicht aber ausschließlich das konkret von den Parteien Vereinbarte. Es sei bewusst nicht geregelt, ob das die Schutzpflichten erzeugende Schuldverhältnis in jedem Fall auf Gesetz beruhe oder auch auf einem wirksamen Rechtsgeschäft beruhen könne (BT-Drs. 14/6040, S. 126). Muss die Nebenpflicht nicht zwingend vertraglich vereinbart sein, kann sie sich auch aus § 241 Abs. 2 BGB ergeben.
Geht man von der bislang gängigen Dogmatik zu Aufklärungspflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB aus, fällt es jedoch schwer, eine Rücksichtnahmepflicht anzunehmen, die den Vorstellungen des EuGH entspricht: Damit eine Aufklärungspflicht besteht, muss der Arbeitgeber nicht nur wissen, dass der Urlaubsanspruch mit Ende des Bezugs- oder Übertragungszeitraums verfällt, sondern er muss auch wissen, dass diese Information dem Arbeitnehmer unbekannt ist (vgl. Bachmann in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 241 Rn. 122 f.). Bereits letzteres ist zweifelhaft. Eine Aufklärungspflicht besteht aber bereits deshalb nicht, weil der Arbeitnehmer ohne weiteres selbst feststellen kann, dass sein Urlaubsanspruch verfällt, wenn er seine eigenen Interessen in erwartbarer Weise wahrt oder sich in zu erwartender Weise fachkundig beraten lässt (Bachmann in: MünchKomm BGB, § 241 Rn. 122a). Der Wortlaut des § 241 Abs. 2 BGB ist jedoch so weit gefasst, dass sich die Aufforderungs- und Informationspflicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung als Nebenpflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB einordnen lässt, die Arbeitsverträgen innewohnt.
Besteht eine Nebenpflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer aufzufordern, seinen Urlaub zu nehmen, und über die Konsequenzen eines unterbleibenden Urlaubsantrags zu informieren, kann der Arbeitnehmer Schadensersatz gemäß den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB in Form eines Ersatzurlaubsanspruchs verlangen, wenn der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nachkommt und der Urlaub in der Folge erlischt. Somit kann im Wege der richtlinienkonformen Auslegung ein richtlinienkonformer Zustand geschaffen werden. Es ist entbehrlich, auf das scharfe Schwert der Unanwendbarkeit nationalen Rechts – hier von § 7 Abs. 3 BUrlG – zurückzugreifen.
III. Unmittelbare Horizontalwirkung von Art. 31 Abs. 2 GRCh – „Konstitutionalisierung“ des Urlaubsrechts
Es war lange Zeit umstritten, welchen Charakter Art. 31 Abs. 2 GRCh hat und wie er wirkt. In der Rechtssache Fenoll konnte der EuGH die Frage noch offenlassen, da der zeitliche Anwendungsbereich der Charta nicht eröffnet war (EuGH, Urt. v. 26.03.2015 – C-316/13 Rn. 45 – NZA 2015, 1444 „ Fenoll“). Im deutschen Schrifttum wurde eine Vielzahl an Auffassungen vertreten: Art. 31 Abs. 2 GRCh sei zwar ein Grundrecht, allerdings ohne ausreichend bestimmten Schutzbereich (z.B. Seifert, EuZA 2015, 500, 506). Art. 31 Abs. 2 GRCh sei zwar ein Grundrecht, binde aber Private nicht (z.B. Schubert in: Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 31 GRCh Rn. 2a). Art. 31 Abs. 2 GRCh entfalte unmittelbare Horizontalwirkung (Heuschmid/Lörcher in: NK-Gesamtes Arbeitsrecht 2016, Art. 31 GRCh Rn. 25, 33).
Der EuGH hat sich nunmehr der letzten Auffassung angeschlossen. Art. 31 Abs. 2 GRCh ist nicht lediglich ein Grundsatz, sondern ein Grundrecht, das unmittelbar zwischen Privaten wirkt. Entgegenstehendes nationales Recht ist daher auch im Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen. Das vermag die RL 2003/88/EG nicht zu leisten, da der EuGH in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Horizontalwirkung von Richtlinien ablehnt (vgl. Rn. 66 f.).
Die Begründung des EuGH, warum Art. 31 Abs. 2 GRCh unmittelbar in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten wirkt, stützt sich, wie von Generalanwalt Bot vorgeschlagen (vgl. die ausführliche Herleitung und Begründung in EuGH, Schlussanträge v. 29.05.2018 – C-569/16 Rn. 72 ff. „Bauer/Wilmeroth“), auf die Entscheidung in der Rechtssache „Association de médiation sociale“ (EuGH, Urt. v. 15.01.2014 – C-176/12 Rn. 45 ff. – NZA 2014, 193): Art. 31 Abs. 2 GRCh ist, was sein Bestehen anbelangt, (1.) zwingend und (2.) nicht von Bedingungen abhängig, d.h. er muss nicht durch unionsrechtliche oder nationale Bestimmungen konkretisiert werden (Rn. 74). Mit einem deutschen Grundrechtsverständnis ist es nur schwer vereinbar, unter diesen Voraussetzungen eine unmittelbare Horizontalwirkung oder nach der deutschen Sprachregelung eine unmittelbare Drittwirkung anzunehmen. Jedoch überrascht das Ergebnis nicht, wenn man die Rechtsprechung des EuGH zugrunde legt. In der „Egenberger“-Entscheidung erkennt der EuGH etwa Art. 21 und Art. 47 GRCh unmittelbare Horizontalwirkung zu (EuGH, Urt. v. 17.04.2018 – C-414/16 Rn. 76 ff. – NZA 2018, 569).
Überraschend ist hingegen, mit welch dürren Worten der EuGH begründet, welchen Inhalt der sachliche Schutzbereich des Art. 31 Abs. 2 GRCh hat. Generalanwalt Bot hatte noch darauf hingewiesen, dass der Befund, dass Art. 31 Abs. 2 GRCh unmittelbare Horizontalwirkung entfaltet, „die Frage nach der Feststellung des normativen Inhalts dieser Bestimmung nicht erschöpfend beantwortet“ (EuGH, Schlussanträge v. 29.05.2018 – C-569/16 Rn. 86 „Bauer/Wilmeroth“). Er stützt sich in seinen Ausführungen dann insbesondere auf die Erläuterungen zu Art. 31 GRCh, wonach sich Art. 31 Abs. 2 GRCh u.a. auf die Vorgängerrichtlinie 93/104/EG stützt. Selbst auf diese wenig überzeugende Begründung für ein Schutzgut, das im Wesentlichen dem durch Art. 7 RL 2003/88/EG vermittelten Schutz entspricht (kritisch ebenso Schubert in: Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, Art. 31 GRCh Rn. 25), verzichtet der EuGH. Nach Ansicht des EuGH verlangt Art. 31 Abs. 2 GRCh, dass ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub oder seinen Abgeltungsanspruch nicht verlieren darf, wenn „der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um ihn tatsächlich in die Lage zu versetzen, den […] bezahlten Jahresurlaub zu nehmen“ (Rn. 81). Dass ein Grundrecht solch detaillierte Vorgaben macht, während die Charta lediglich formuliert „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht […] auf bezahlten Jahresurlaub“, darf bezweifelt werden.
Der EuGH hebt mit seiner Entscheidung Art. 31 Abs. 2 GRCh also in den Rang eines Grundrechts, das unmittelbar in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten anwendbar ist. Außerdem stellt er einen weitreichenden Gleichlauf der Richtlinie mit dem Schutzbereich des Art. 31 Abs. 2 GRCh her. Damit wird das europäische Urlaubsrecht „konstitutionalisiert“ und das Sekundärrecht faktisch in den Rang des Primärrechts erhoben.

D. Auswirkungen für die Praxis

Das Urteil des EuGH wird erhebliche Auswirkungen auf die betriebliche Praxis haben. Möchte ein Arbeitgeber sicherstellen, dass nicht genommener Jahresurlaub zum Jahresende oder im Falle einer Übertragung zum Ende des Übertragungszeitraums verfällt, muss er den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen. Das kann er erreichen, indem er seine Arbeitnehmer auffordert, den Jahresurlaub zu nehmen, und darüber informiert, dass der Urlaub zum Ende des Bezugs- oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt. Diese Aufforderung und Information müssen rechtzeitig erfolgen. Wann sie „rechtzeitig“ erfolgen, ist offen. Jedenfalls ist es notwendig, dass die Aufforderung und Information zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem der restliche Jahresurlaub noch genommen werden kann. Außerdem steht fest, dass Arbeitgeber ihre Aufforderung und Information dokumentieren sollten, da sie die Beweislast dafür tragen, dass sie den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt haben, den Urlaub zu nehmen. Der EuGH spricht davon, dass die Aufforderung und Information „erforderlichenfalls förmlich“ zu erfolgen hätten.
Arbeitnehmer können nun im laufenden Arbeitsverhältnis prüfen, ob ihnen nicht noch bezahlter Jahresurlaub aus den Vorjahren zusteht, der verfallen ist, da sie keinen Urlaubsantrag gestellt haben. Wird das Arbeitsverhältnis beendet, ist die neue Rechtsprechung des EuGH bei der Berechnung des Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub zu berücksichtigen.

Kein automatischer Verfall des Urlaubsanspruchs wegen nicht gestellten Urlaubsantrags
Danuta EisenhardtRechtsanwältin
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