Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen Beiträge und Kolumnen in Auszügen oder auch vollständig. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit oder aktuellen Beispielen aus Politik und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


Wenn Sie, verehrte Leser, das Wort „Rasen“ auf der Suchmaschine Google eingeben, erhalten Sie nützliche Tipps zur Rasenkantenpflege, zum Rollrasen für Ihre Finka sowie zu den schönsten Golfplätze dieser Welt. Wenn Sie „Rasen“ in Verbindung mit „Mord“ haben wollen, müssen Sie das Wort „Umgangssprache“ kennen. Es geht dabei um die Seele des Mannes. Das „Rasen“ ist nämlich dem männlichen Kraftfahrzeugführer, was das Saufen dem Sommelier und das Vögeln dem Charmeur ist. Jedenfalls behaupten das die unmännlichen Fahrzeugführer.

Weil das Wort aus unser aller Umgang mit uns selbst stammt, kennen wir sie ja auch alle, die Raser: Es sind die irren Drängler, die tiefergelegten Ampelhoppler, die verantwortungslosen Zone-Dreißig-Ignorierer, die wir pflichtgemäß verachten. Sie stehen entweder auf der Spur neben uns oder kommen von hinten angerast, meist „plötzlich“, „verantwortungslos“ oder „notorisch“. Jedes Mal, wenn wir gerade angesetzt haben, einen mit 120 km/h fahrenden Fernreisebus mit 125 zu überholen, oder wenn wir uns vier Kilometer vor einer auf der rechten Fahrspur befindlichen Baustelle auf den linken Fahrstreifen orientiert haben, kommt von hinten ein Raser angerast, wird kilometerlang zum tateinheitlichen Drängler und schließlich zum kriminellen Rechtsüberholer. Es gibt kaum jemanden, den wir hassen wie diesen: „Rotlichtsünder“ und Blitzer-Opfer sind wir selbst, in menschlich verständlicher Eile und unter dem Zwang der Hektik um uns her. Der Rechtsüberholer aber ist der Teufel. Denn er verachtet die Regeln, nach denen wir ihn besiegt haben. Da hilft nur sofortiges Vollgas, auf dass er hinter dem rechts fahrenden Lkw eingeklemmt wird und in die Eisen gehen muss.  Ach, wenn doch einer seinesgleichen beim Ausbremsen einmal rechts hinausschießen würde über die Grenze des Himmels in die Vorhölle des Totalschadens: Pech gehabt!

Praktisch unvermeidlich ist das Rasen aus Anlass von Straßenverkehrsunfällen: „Der kam plötzlich angerast“ ist die ultimative Kläger-, Beklagten-, Opfer-, Beifahrer- und vor allem Zeugenaussage. Die vorsichtige Erwägung der Frage, ob das „Plötzliche“ und das „Rasen“ möglicherweise irgendwie zusammenhängen könnten, stößt in der Regel auf Empörung. Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten dafür. Kognitiv: Wenn ich jemanden plötzlich sehe, besteht eine Vermutung, dass er schnell herangekommen ist. Oder Normativ: Verantwortlich muss der Unverantwortliche sein; und das sind wir selbst gewiss nicht. Mit anderen Worten: „Raser“ ist immer der oder die andere. Wir selbst sind Verkehrsteilnehmer.

Und dann ist da noch „die Unfallursache Nummer Eins: Zu hohe Geschwindigkeit“. Sie ist ein Wunder der Statistik. Unfallursache Nummer Eins bei Radfahrern ist übrigens: Verlust des Gleichgewichts; bei Badeunfällen: Wasser in der Lunge; bei Flugzeugabstürzen: Mangel an Auftrieb. Will sagen: Es liegt auf der Hand, dass ohne Geschwindigkeit überhaupt keine Kfz-Unfälle mit Personen- oder Sachschaden geschehen würden. Daher ist jeder Unfall eine Folge von Geschwindigkeit und zugleich ein Beweis für deren „Unangepasstheit“.

Das Rennen

„Rennen mit Kraftfahrzeugen sind verboten“, ordnet Paragraf 29 der Straßenverkehrsordnung (StVO) an. Wer dagegen verstößt, begeht eine Ordnungswidrigkeit (OWi) nach Paragraf 49 Abs. 2 Nr. 5 StVO, die mit einer Geldbuße geahndet wird (Bußgeldkatalog: 400 € Geldbuße, 2 Punkte, ein Monat Fahrverbot). Diese Regelung ist in der vergangenen Woche in allen Medien oft genannt worden. Der Tenor der Berichterstattung war stets: Unglaublich, dass die Ahndung so milde ist!

Das ist allerdings nicht unbedingt gesichert. Zum einen ist der Bußgeldkatalog keine starre Regelung. Die Geldbuße kann abweichend davon festgesetzt werden, wenn der Einzelfall das nahelegt; sie beträgt dann bis zu 1.000 €. Zum zweiten können Gegenstände, die der Täter zur Tat verwendet hat, eingezogen werden (Paragraf 22 StVO). Zum dritten kann die Verwaltungsbehörde die generelle Fahreignung eines Rennteilnehmers prüfen, ein medizinisch-psychologisches Gutachten anfordern und die Fahrerlaubnis entziehen.

Überdies wird selten ein illegales Rennen veranstaltet, bei dem sich die Beteiligten an alle Regeln außer an Paragraf 29 StVO halten. Was einem da sonst noch einfällt: Geschwindigkeitsübertretungen, zu schnelles Fahren an übersichtlichen Stellen, Kurvenschneiden, dichtes Auffahren, Schneiden und Abdrängen, Rotlichtverstöße und mancherlei anderes. Bei 160 km/h innerhalb geschlossener Ortschaft (diese Geschwindigkeit sollen die beiden Täter von Berlin erreicht haben) beträgt die Geldbuße 680 €, das Fahrverbot drei Monate. Ein „normaler“ Rotlichtverstoß mit Gefährdung ohne Sachschaden bringt 200 € und einen Monat Fahrverbot. In Berlin sollen insgesamt zehn rote Ampeln (vorsätzlich) überfahren worden sein.

Verbotene Straßenrennen sollen zur Straftat werden

Damit kommen wir zu der interessanten Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen OWis zueinander stehen. Juristen nennen dieses Verhältnis „Konkurrenz“. Das OWi-Gesetz sagt dazu in Paragraf 19 (Tateinheit):

„(1) Verletzt dieselbe Handlung mehrere Gesetze, nach denen sie als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, oder ein solches Gesetz mehrmals, so wird nur eine einzige Geldbuße festgesetzt.
(2) Sind mehrere Gesetze verletzt, so wird die Geldbuße nach dem Gesetz bestimmt, das die höchste Geldbuße androht (…);“

und in Paragraf 20 (Tatmehrheit):

„Sind mehrere Geldbußen verwirkt, so wird jede gesondert festgesetzt.“

Es kommt also darauf an, ob das Renn-Geschehen als eine oder als mehrere Handlungen anzusehen ist. Bezogen auf vorsätzliche Rotlichtverstöße ist das nicht unstreitig. Jede Lichtzeichenanlage regelt ja ein gesondertes und nur an diesem Ort geltendes Verbot, dessen Schutzzweck sich auch nur auf den jeweiligen Standort bezieht. Wer nacheinander vorsätzlich mehrere auf „Rot“ stehende Lichtzeichen überfährt, muss sich daher an jeder Anlage neu und gesondert überlegen, ob er das Verbot übertreten will. Es spricht viel für die Annahme derjenigen (Ober-)Gerichte, die hier keine „natürliche Handlungseinheit“ (Paragraf 19), sondern Tatmehrheit (Paragraf 20) sehen. Weil im OWi-Recht das sogenannte „Kumulationsprinzip“ gilt und nicht das „Asperationsprinzip“ wie im Strafrecht, wären die Einzelbußen zu addieren.

Anders wäre es, wenn die eigentlich selbstständigen Rotlichtverstöße durch das (einheitliche) Fahren mit zu hoher Geschwindigkeit, das ja auch eine OWi ist, zu einer einzigen Tat „verklammert“ würden. Auch das ist umstritten. Richtig erscheint mir, dass keine Verklammerung, sondern gesonderte Taten des Paragrafen 37 OWiG vorliegen, jeweils in Tateinheit mit dem Dauer-Delikt (Rennen; Geschwindigkeitsübertretung).

In allen genannten Fällen sind aber nur Ordnungswidrigkeiten gegeben, die kein „kriminelles“ Unrecht darstellen und nur mit Geldbußen zu ahnden sind. Anders wäre es, wenn das Verhalten eine Verkehrsstraftat nach dem StGB darstellen würde. Hier kommt insbesondere Paragraf 315c Abs. 2 StGB in Betracht (vorsätzliche oder fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs) bei „grob verkehrswidrigem und rücksichtslosem“ Verhalten, wenn dadurch eine konkrete Gefahr für Personen oder Sachen von bedeutendem Wert verursacht wird. Die Strafdrohung reicht bis zu Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Wenn Verhaltensweisen im Rahmen eines Rennens sich als „gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ darstellen (Paragraf 315b StGB) und eine schwere Gesundheitsschädigung eines Menschen (fahrlässig) verursacht wird, kann Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren verhängt werden (Paragrafen 315b Abs. 3, 315 Abs. 3). Nach der Rechtsprechung des BGH setzt ein „Eingriff“ voraus, dass das Kfz „verkehrsfremd“, also nicht mit dem Hauptziel der Fortbewegung, sondern praktisch wie eine Waffe eingesetzt wird. Dass dies bei „Rennverhalten“ praktisch nie der Fall sei, wie behauptet wird, erscheint mir zweifelhaft.

Der Bundesrat hat kürzlich einen Gesetzentwurf eingebracht (Bundestags-Drucksache Nr. 18/10145), wonach verbotene Straßenrennen Straftaten werden sollen. Der vorgeschlagene Paragraf 315d StGB soll lauten:

„(1) Wer im Straßenverkehr
1. ein nicht genehmigtes Kraftfahrzeugrennen veranstaltet oder
2. als Kraftfahrzeugführer an einem nicht genehmigten Kraftfahrzeugrennen teilnimmt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 2 handelt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 2 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(4) Verursacht der Täter in den Fällen des Absatzes 2 oder 3 durch die Tat den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder eine Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“

Das Bundesministerium der Justiz hat einen ähnlichen Entwurf (mit Änderung des Straßenverkehrsgesetzes) in die sogenannte Ressortabstimmung gegeben. Das Ergebnis ist offen; es ist aber wohl zu erwarten, dass das Gesetzgebungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode zu Ende geführt wird. Auch nach den vorgeschlagenen neuen Regelungen wird aber selbstverständlich nicht etwa jede Teilnahme an einem Rennen mit langjährigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung geahndet werden.

Das Morden

Ein ganz anderes Kaliber ist das Morden. Das Morden ist ein übles Geschäft. Terroristen schneiden unschuldigen Menschen die Köpfe ab vor laufender Kamera. Pädophile Sadisten erwürgen Kinder. Soldaten erledigen besiegt am Boden liegende Feinde mittels Kopfschuss. Gequälte Ehefrauen erschlagen Familientyrannen im Schlaf mit Zimmermannshämmern. Gedemütigte nehmen Rache an ihren Peinigern. Gläubige fahren Lastkraftwagen in Ansammlungen von Ungläubigen.

„Fahrlässigen Mord“ gibt es nicht

Mord trägt im Strafgesetzbuchs die Paragrafennummer 211. Juristen-Dogmatiker streiten sich seit drei Generationen, ob der Mord etwas ganz und gar anderes sei als die ganz normale Tötung (genannt „Totschlag“), oder doch irgendwie dasselbe, angereichert mit ein paar „Merkmalen der Qualifikation“, also etwas Unrechts-Steigerndem. Den meisten Bürgern ist das egal, denn sie verstehen die feinziselierten Gründe und Folgen nicht, die das eine und das andere hat. Und, was viel schlimmer ist: Sie sollen sie wohl auch gar nicht verstehen. So lange die Rechtsdogmatiker und die Höchstrichter das Geheimnis verwalten, bleibt genug Spielraum für Emotion, Schauer, Furcht, Empörung.

Das Fühlen

Eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Berlin hat am 27. Februar 2017 zwei Teilnehmer eines illegalen Autorennens wegen (mittäterschaftlichen) Mordes verurteilt, weil einer von ihnen bei einem Wettrennen auf dem Kurfürstendamm an einer Kreuzung einen vorfahrtberechtigten Pkw gerammt hat, dessen Fahrer dadurch getötet wurde. Zwei Männer aus der „Fast & Furious“-Szene des sogenannten „Street-Racing“ haben im Februar 2016 inmitten der sozialen Welt, die sie hervorgebracht hat, einen öffentlichen Kampf veranstaltet, dessen Folgen einen unschuldigen Menschen das Leben gekostet haben und andere hätten kosten können. Sie sollen auf der 3 Kilometer langen Strecke bis zu 160 km/h (statt 50) schnell gefahren sein und zahlreiche rote Ampeln überfahren haben. Die Tat war nicht einmalig. Schon häufig sind Personen – Unbeteiligte und Beteiligte – bei illegalen Rennen im Straßenverkehr getötet oder schwer verletzt worden.

Die öffentlichen Reaktionen und Meinungsäußerungen auf die Berichterstattungen über den Fall, die Anklage und das Urteil waren zahllos, fast einhellig und dezidiert: Der Sachverhalt sei spektakulär und extrem, die Anklage „mutig“, das Urteil „richtungweisend“. „Der Rechtsstaat muss ein Zeichen setzen“, formulierte Martin Klingst in der ZEIT vom 2. März. Die Justiz muss nur wollen, heißt die Botschaft.

Auffällig, wenngleich nicht überraschend ist, dass die freudige Bejahung des Schuldspruchs „Mord“ in der öffentlichen Diskussion kaum je mit rechts-„dogmatischen“ Erwägungen – seien sie auch laienhaft – verknüpft ist, sondern überwiegend emotional-vergeltend begründet wird: „So etwas muss Mord sein!“ Da schwingt eine Menge vom „Tätertyp“ mit, über den uns die Urheber der Formulierung von 1943 unter der Hand informieren wollten: Nicht auf Tatbestands-Merkmale kommt es danach an, sondern auf den Charakter, den „Typ“ des Verbrechers.

Nun muss man, wie immer man den Einzelfall sehen und beurteilen mag, zum „Typ“ noch etwas erwähnen, was sich mit bloßer Betroffenheit und Empörung nicht wegdiskutieren lässt: Die „Raser“ vom Ku’damm und auf den sonstigen nächtlichen Rennstrecken sind den braven Bürgern wesentlich näher, als es diesen lieb ist.

Das beginnt bei der Beschreibung der Autos, mit denen sie unterwegs waren. Diese sind nicht, wie die vorgetäuscht entsetzten Beschreibungen in der Presse suggerierten, exzessiver Ausdruck verrückter Allmachtsfantasien weit jenseits des Normalen. Es handelte sich vielmehr um Serien-Pkw, die von ihren Herstellern mit genau den Eigenschaften beworben werden, welche das Gefühl von Allmacht begründen (sollen): Kraft ohne Ende, Souveränität in jeder Lage, Überlegenheit in der Performance. Sie kriegen das, liebe Leser, bekanntlich auch schon für weniger Geld, aber mit denselben Sprüchen, Bildern und Träumen. Wem jemals ein lichthupender Škoda Oktavia bei 210 km/h formatfüllend im Nacken saß, weiß, dass nach unten alle Grenzen offen sind.

Kennen Sie, liebe Leser, die beliebte Vorabendserie „Alarm für Cobra 11“? Keine Folge ohne Rennen, keine Festnahme ohne Crash. Natürlich nur im Auftrag des Guten! So wie Gene Hackman in „The Frech Connection Car Chase“, Hundertausende Male auf YouTube. Oder Franka Potente mit Matt Damon im Mini in „Bourne Identität“ („The Paris Chase“; kriegen Sie auch als Soundtrack-Mix)! Und all die Hunderte von Outlaws, die durch die Filmbilder unseres Lebens dahin rasten, auf achtspurigen Highways gegen die Fahrtrichtung; all die Tausenden von geschrotteten Polizeiautos, gelenkt von uniformierten Trotteln beim ultimativen  Rennen mit dem stoppelbärtigen Helden, der alle Regeln missachtet und gerade deshalb durchkommt! Die grandiosen Bankräuber, die Bonnies & Clydes, die Laurels & Hardys. Auch Frauen dürfen das: Thelma und Louise! Von Holly Hunter in Cronenbergs  „Crash“ ganz zu schweigen.  Hören und schauen Sie auf Youtube den Millionen-Seller „Maschin“ der Band „Bilderbuch“ an – ungefähr so laut, wie es ihre Kinder tun.

Das Strafen

Mord ist qualifizierter Totschlag. Totschlag ist das Vorsätzliche Töten eines Menschen. Bevor man über Qualifikationen (Schärfungen) des Totschlags nachdenkt, muss man daher über den Vorsatz nachdenken. „Fahrlässigen Mord“ gibt es nicht.

Vorsatz gibt es nach allgemeiner Ansicht in drei „Formen“: Absicht, Direkter Vorsatz, Bedingter Vorsatz. Absicht ist gegeben, wenn der Erfolg einer Tatbestandsverwirklichung das Motiv des Täters ist: A schießt auf B, weil er ihn hasst und töten will. Direkter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter als sicher annimmt, dass seine Handlung zu dem Taterfolg führen wird, auch wenn ihm dieser Erfolg nicht wichtig ist oder er ihn sogar bedauert: A zündet ein Wohnhaus an, um die Versicherung zu betrügen; dass der Mieter B ums Leben kommt, tut ihm leid, ist aber „nicht zu vermeiden“.

Kompliziert ist der „bedingte Vorsatz“: Die Rechtsdogmatik trennt zwischen „kognitivem Element (Täter weiß, dass der Erfolg eintreten kann) und „voluntativem Element“ (Täter nimmt den Erfolg „billigend in Kauf“).

Ein kleiner Schritt darunter liegt die sogenannte Bewusste Fahrlässigkeit: Täter weiß, dass der Erfolg eintreten kann, hofft aber, dass er nicht eintritt, und billigt ihn auch nicht. Am untersten Ende schließlich die „Unbewusste Fahrlässigkeit“: Täter weiß nicht, dass der Erfolg eintreten kann. Auf die jeweiligen Gründe kommt es nicht an.

Versuchen Sie, sich diese Abstufung einmal klarzumachen. Nehmen Sie ein Beispiel: Sie stehen im 10. Stockwerk eines Hochhauses am offenen Fenster und haben einen Ziegelstein in der Hand. Absicht: Unten geht Ihr Feind F. vorbei. Sie zielen auf ihn und werfen den Stein. Direkter Vorsatz: Sie werfen den Stein aus dem Fenster und denken: (Schade, aber) Irgendjemanden da unten wird er treffen. Bedingter Vorsatz: Sie werfen den Stein aus dem Fenster und denken: Mal schauen, wie das Schicksal entscheidet. Es kann daneben gehen. Wenn nicht, ist es mir auch egal. Bewusste Fahrlässigkeit: Sie werfen den Stein und denken: Der wird schon niemanden treffen. Unbewusste Fahrlässigkeit: Sie wollen den Stein aufs Fensterbrett legen, dabei rutscht er Ihnen ab und fällt.

Strafrechts-Wissenschaftler sind sich uneinig

Die Grenze zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist besonders schwierig. Manche Strafrechts-Wissenschaftler bestreiten, dass es sie überhaupt gebe dürfe. Ihre Feststellung ist oft unsicher. Denn wer weiß schon ganz genau, was jemand in einem bestimmten Moment gedacht, gewollt, „gebilligt“ hat? Die Feststellungen sind nicht selten auch normativ unterfüttert: Wer sagt, er habe jemandem in die Brust geschossen, seinen Tod aber nicht gebilligt, dem glauben wir in der Regel einfach nicht.

Diese Regeln und Veranschaulichungen wenden wir jetzt einmal auf den „Raser“-Fall an: Der Strafrechtslehrer Tonio Walter aus Regensburg hat in einem Gastbeitrag vom 28. Februar auf ZEIT ONLINE den (vom Landgericht Berlin angenommenen) bedingten Tötungsvorsatz bezweifelt: „Es dürfte juristisch der ehrlichere Weg sein, den Vorsatz zu verneinen.“ Walter meint, es sei unmöglich, zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz zu unterscheiden. Trotzdem (oder deshalb?) schlägt er dann aber vor, bei bedingtem Vorsatz die Höchststrafe („lebenslang“) abzuschaffen. Dann, so meint er, „wäre es einfacher, den bedingten Vorsatz klar zu definieren“. Das ist schwer verständlich, denn der bedingte Vorsatz soll ja nicht klarer, sondern anders definiert werden: Bloße Kenntnis der Möglichkeit des Erfolgseintritts soll genügen. Da habe ich allerdings erhebliche Zweifel: Damit hätte man die (bewusste) Fahrlässigkeit gleich ganz abgeschafft. Genau dies ist eine heute in der Wissenschaft vertretene Position: Kein Unterschied zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz – Kenntnis des Risikos reicht aus, um sich eines vorsätzlichen Verbrechens schuldig zu machen. Kann man so sehen. Würde vieles ändern. Ein paar Millionen Bürger pro Jahr würden sich ziemlich wundern, dass sie nun Vorsatz-Verbrecher sind und nicht mehr Hoffende auf den guten Ausgang. Eine interessante Denkfigur für Banker, Betrüger, Risiko-Zocker!

Aber zurück zum Fall. Wir haben den Berliner Fall hier nicht individuell zu entscheiden. Niemand kennt ja bisher die Urteilsgründe des Landgerichts, niemand weiß, was das Gericht im Einzelnen festgestellt hat und warum; und rechtskräftig ist das Urteil erst Recht nicht. Also verbietet sich jede Begeisterung, Verdammung oder Beurteilung schon von vornherein. Mir geht es hier nicht um Kritik eines Urteils, das ich gar nicht kenne, sondern um das grundsätzliche Problem.

Stellen Sie sich vor, Sie möchten ein (illegales) Straßenrennen bestreiten. Was „denken“ Sie, falls Sie etwas denken? Was „fühlen“ Sie? Was wollen Sie? Und vor allem: Welche „subjektive Vorstellung“ haben Sie im Hinblick auf die Schädigung der Rechtsgüter Unbeteiligter (hier: das Leben Dritter)? Konkret: Ist es Ihnen „egal“, ob Sie einen anderen rammen und töten“, oder hoffen Sie, dass das nicht passiert, obwohl es sein könnte? Das ist die entscheidende Frage!

Für beide Möglichkeiten gibt es Anhaltspunkte und Argumente. Für „Egal“ spricht eine gewisse Grund-Blödheit, vereint mit einer von Medienkonsum vernebelten Birne und der Überzeugung eigener Unverwundbarkeit. In Kreisen von beschränkten Vollgas-Fetischisten gelten selbst armselige Opfer selbstverschuldeter Risiken noch als Helden.

Gegen „Egal“ spricht: Erstens das schöne Auto! Ist es dem Rennteilnehmer, der sein halbes Leben in sein Coupé und 250 Überstunden in die Edelstahl-Auspuffanlage investiert hat, tatsächlich „egal“, ob er beides verschrottet? Zweitens die eigenen Knochen: Bei aller Liebe zum Hells Angel und zum Renn-Märtyrertum: Ist es dem Raser tatsächlich „egal“, ob er den Rest seines Lebens in Windeln und ohne Beine verbringt? Drittens die Freundin: Denkt er tatsächlich, es sei ihm ganz egal, ob die Superfrau stirbt?

Das Denken

Und dann noch, viertens, ganz am Rande: Sind die Verbrecher unter uns tatsächlich vollständig schlecht und ohne das geringste Mitgefühl mit Allen und Allem? Denkt, verehrte Leserinnen und Leser, Ihr 22-jähriger Sohn, wenn er samstags mit der vom Papa geliehenen E-Klasse durch Ostwestfalen oder die Lausitz heizt, tatsächlich: Ist mir doch egal, ob ich ein oder zwei Kinder totfahre? Das sollte sich ein jeder (zu Recht!) empörte Bürger einmal etwas genauer überlegen.

Und dann noch etwas: „Mord“ ist das Ganze ja nur deshalb, weil der „Taterfolg“ eingetreten ist. Aber wann genau wird da eigentlich der „bedingte Vorsatz“ gefasst? Doch nicht in der Zwanzigstel-Sekunde, da der Rentner oder das Kind von rechts auftauchen. Also am Anfang.

Lesen Sie einmal die Paragrafen 22 und 23 StGB. Sie handeln vom Versuch. Ich sage Ihnen: Wenn das Rammen eines als „Hindernis“ erscheinenden Menschen bei einem illegalen Rennen ein (vorsätzlicher) Mord ist, muss schon das Losfahren (!) ganz ohne jede Schädigung ein „Versuchter Mord“ sein. Die Strafe ist lebenslange Freiheitsstrafe; sie kann (!) auf 15 Jahre gemildert werden.

Gern würde ich diese Erwägungen Ihrer kriminologischen Fantasie anheimgeben. Sagen wir: Beim Autofahren mit 2,4 Promille Blutalkohol im Innenstadtbereich; Mobiltelefonieren bei 197 km/h im „verdichteten Verkehr“. Einen Burger fressen und nach einem Lappen für die fettigen Finger suchen bei 120 km/h im Baustellenbereich; Hochfahren eines Reaktors trotz ungeklärter Haarrisse im Druckmantel; Geschlechtsverkehr ohne Kondom trotz HIV-Infektion. Kurz gesagt: Beim Hantieren mit Ziegelsteinen an offenen Fenstern im zehnten Stockwerk. Wenn es „Mord“ (mit bedingtem Vorsatz) ist, mit 160 km/h über eine rote Ampel zu rasen, dann kann die Feststellung des bedingten Vorsatzes doch wohl nur darauf beruhen, dass man dem Täter vorhält, jeder wisse, dass er bei dieser Geschwindigkeit keinerlei Chance habe zu bremsen oder auszuweichen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Dann ist aber das Passieren der Ampel ohne Unfall „versuchter Mord“. Und das Passieren von zehn Ampeln sind dann vielleicht (anders aber der 4. Strafsenat des BGH) zehn Fälle des versuchten Mords.

Der Ausblick

Und was ist dann eigentlich mit den zehntausend Kraftfahrzeugführern, die jeden Tag in verkehrsberuhigten 30er-Zonen mit 60 an geparkten Autos vorbeifahren? Jeder von ihnen weiß doch exakt dasselbe wie der Ku’damm-Raser: Dass er bei dieser Geschwindigkeit keine Chance hat zu bremsen, wenn 15 Meter vor ihm ein Kind auf die Straße läuft. Und so geschieht es denn ja auch, in jedem Jahr ein paar Dutzend Mal. Das müsste dann doch wohl ebenfalls „Mord“ sein. Und das Fahren in der 30er Zone mit 60 km/h ohne Unfall ist dann versuchter Mord. Viel zu tun für die Schwurgerichte!

Bevor Sie jetzt in eine Raserei des Strafens geraten, verehrte Leser: Ganz zum Schluss könnten wir uns noch über zwei interessante Fragen unterhalten. Erstens über die sogenannten „Mordmerkmale“: „Gemeingefährliches Mittel“? „Niedrige Beweggründe“? Zweitens über „Mittäterschaft“. Sind wirklich alle Rennteilnehmer täterschaftliche Mörder, wenn einer von ihnen einen Unbeteiligten tödlich verletzt? Und was ist eigentlich mit den Teilnehmern selbst: Stehen sie etwa nicht unter dem Schutz des Paragrafen 211 StGB? Und wenn ja: Ist dann das Losfahren für alle Teilnehmer „versuchter Mord“? Und wenn das wahr wäre: Warum sind dann die beiden Täter von Berlin nicht auch jeweils wegen tateinheitlich versuchten Mordes (am jeweiligen Konkurrenten) verurteilt worden?

Darüber könnte man mancherlei sagen, so oder so. Aber diese Kolumne ist schon lang genug.