Nachfolgend ein Beitrag vom 26.9.2018 von Linoh, jurisPR-StrafR 19/2018 Anm. 2
Orientierungssatz zur Anmerkung
Die Vorschrift des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO erfasst auch richterliche Vernehmungen des Beschuldigten im Zusammenhang mit der Eröffnung eines Haftbefehls.
A. Problemstellung
Die Entscheidung betrifft die Frage der Beiordnung eines Rechtsanwaltes als notwendiger Verteidiger im Rahmen des Termins zur Haftbefehlseröffnung, wenn der an sich bestellte bzw. zu bestellende Pflichtverteidiger zu diesem Termin verhindert ist. Aufgeworfen wird vor allem die Frage, ob der Anwendungsbereich des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO den Termin zur Haftbefehlseröffnung erfasst.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegen den Betroffenen erließ das AG Halle Haftbefehl wegen des Verdachtes des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen von Schusswaffen (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG). Mit Schriftsatz vom 29.01.2018 beantragte Rechtsanwalt A seine Beiordnung als Verteidiger. Am selben Tag fand der Termin zur Haftbefehlsverkündung vor dem Amtsgericht statt. Zu diesem Termin erschien Rechtsanwalt B für den abwesenden Rechtsanwalt A und beantragte seine Beiordnung gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO. Das AG Halle hat mit Beschluss vom selben Tage Rechtsanwalt A als notwendigen Verteidiger beigeordnet, den Antrag des Rechtsanwalts B dagegen abgelehnt. Dessen Beiordnung sei, so das Amtsgericht, nicht von der genannten Vorschrift erfasst, diese diene vielmehr nur der Wahrung des Konfrontationsrechts des bei der Vernehmung eines Belastungszeugen nicht anwesenden Angeklagten.
Hiergegen legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 14.02.2018 Beschwerde ein und führte dabei unter anderem aus, dass es sich um eine schwierige Rechtslage – insbesondere hinsichtlich der Frage von Vorsatz und Fahrlässigkeit – handle und der Betroffene noch unter offener Bewährung stehe. Die StA Halle beantragte, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Das AG Halle half der Beschwerde mit Verfügung vom 05.03.2018 nicht ab und legte die Sache der zuständigen Beschwerdekammer des LG Halle zur Entscheidung vor.
Das Landgericht hob mit Beschluss vom 26.03.2018 den Beschluss des Amtsgerichts vom 29.01.2018 auf und ordnete den betroffenen Rechtsanwalt B für die Dauer des Haftbefehlsverkündungstermins am 29.01.2018 als notwendigen Verteidiger bei. Das Landgericht führt dazu aus, dass die Vorschrift des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO entgegen der Ansicht des Amtsgerichts auch richterliche Vernehmungen des Beschuldigten im Rahmen einer Haftvorführung erfasse. Dies ergebe sich daraus, dass der Wortlaut der Vorschrift keine Einschränkungen enthält, sondern allgemein von richterlichen Vernehmungen spreche. Die Entstehungsgeschichte der Norm stütze dieses Ergebnis; denn sie sei Ausprägung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016. Deren Art. 4 Abs. 4 Buchst. a erfasse explizit auch die Vorführung zur Entscheidung über eine Haft. Schließlich gebiete auch die Bedeutung der Vernehmung eine Beiordnung. Dies sei einerseits durch das betroffene Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründet. Andererseits dadurch, dass die richterliche Vernehmung des Beschuldigten für das weitere Verfahren von erheblicher Bedeutung sei. Es könnten doch Erklärungen des Angeklagten, die in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, zur Beweisaufnahme über ein Geständnis gemäß § 254 StPO verlesen werden oder der Richter könnte als Zeuge hierzu gehört werden. Damit sei eine (vorübergehende) Beiordnung eines Rechtsanwaltes – hier des B – zur Wahrung der Rechte des Betroffenen notwendig. Diese beschränke sich aber auf den Termin der Haftbefehlsverkündung.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung betrifft einen Teil des § 141 StPO, der mit Wirkung vom 24.08.2017 durch Gesetz vom 17.08.2017 (BGBl I 2017, 3202) in die Norm eingefügt wurde. Soweit ersichtlich steht die hier vorgestellte Entscheidung in einer Reihe mit einer Entscheidung des AG Stuttgart (AG Stuttgart, Beschl. v. 27.11.2017 – 26 Gs 8396/17 – StraFo 2018, 114) und der herrschenden Ansicht in der Literatur (ausführlich dazu Schlothauer, StV 2017, 557; aus der Kommentarliteratur Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 141 Rn. 5a ff.; Beulke in: SSW-StPO, 3. Aufl. 2018, § 141 Rn. 19).
Der Entscheidung des LG Halle ist vollumfänglich zuzustimmen. Das AG Halle irrt, wenn es davon ausgeht, dass § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO lediglich das Konfrontationsrecht des nicht anwesenden Angeklagten sichern soll. Dies findet – wie das Landgericht richtig ausführt – keine Stütze im Wortlaut der Norm. Vielmehr spricht diese allein von „richterlichen Vernehmungen“ und enthält keine Einschränkung der Art der Vernehmung (Schlothauer, StV 2017, 557, 558; Beulke in: SSW-StPO, 3. Aufl. 2018, § 141 Rn. 19). Zudem spricht auch der historische Zusammenhang dafür, dass auch die Haftbefehlseröffnung von der Norm erfasst ist. Der Gesetzgeber hatte erkannt, dass § 141 Abs. 2 und 3 StPO a.F. dem Beschuldigten nicht hinreichend Zugang zu einem Verteidiger gewährt, wenn der Antrag auf Beiordnung nur durch die Staatsanwaltschaft gestellt werden kann (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 09.09.2015 – 3 BGs 134/15 – NJW 2015, 3383, 3384 mit abl. Anm. Müller-Jacobsen). Denn es seien Fälle denkbar, in denen die Frage der Erforderlichkeit der Pflichtverteidigerbestellung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft divergierend beurteilt wird. Deshalb solle nun eine Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen erfolgen können, damit das Gericht selbst – ohne auf die Staatsanwaltschaft angewiesen zu sein – seiner Schutzpflicht gegenüber den Rechten des Beschuldigten nachkommen könne (BT-Drs. 18/11277, S. 29). Schon aus diesen Überlegungen heraus ist es schwer nachvollziehbar, warum nicht auch Haftbefehlseröffnungen erfasst sein sollen. Dass die Gesetzesbegründung vor allem auf den Fall des Konfrontationsrechts bei der Vernehmung von Belastungszeugen abstellt, widerspricht der dargelegten Ansicht nicht, weil dieser ausdrücklich als exemplarischer Fall aufgeführt ist.
Auch die systematische Analyse stützt dieses Ergebnis. Denn sowohl der innere Normzusammenhang als auch die Betrachtung externer Normen sprechen für eine Einbeziehung der Entscheidung über die Haft in den Anwendungsbereich des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO. § 141 Abs. 3 Satz 5 StPO bezieht sich nämlich auf die Vollstreckung des Haftbefehls und ordnet hierfür die unverzügliche Bestellung eines Verteidigers an. Über den Zeitraum vor Beginn der Vollstreckung wird indes keine Aussage getroffen. Der Schluss e contrario – nämlich, dass dieser Abschnitt ungeregelt bleiben sollte – ist wenig plausibel, wenn der Gesetzgeber die Rechte des Beschuldigten wahren wollte und eine frühzeitige Verteidigerbestellung für bedeutend hält (BT-Drs. 18/11277, S. 28). Richtig ist vielmehr, dass § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO gerade die richterlichen Vernehmungen – auch des Beschuldigten – vor der Vollstreckung der Haft erfasst und ab Beginn der Vollstreckung § 141 Abs. 3 Satz 5 StPO einschlägig ist (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 141 Rn. 5c; Schlothauer, StV 2017, 557, 558). Unter Zugrundelegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, deren Umsetzung hier letztlich materiell vorweggenommen wird (Schlothauer, StV 2017, 557, 558), wird eine Ansicht, die Haftbefehlseröffnungen aus dem Anwendungsbereich des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO ausschließen will, kaum mehr vertretbar. Denn Art. 4 Abs. 4 Satz 2 Buchst. a der RL (EU) 2016/1919 bestimmt, dass die materiellen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe im Strafverfahren – was im nationalen Recht der Beiordnung als notwendiger Verteidiger entspricht – jedenfalls dann erfüllt sind, wenn „ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person in jeder Phase des Verfahrens … einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird“. Der Wortlaut könnte hier kaum eindeutiger sein.
Auch in der materiellen Beurteilung ist dem Landgericht zuzustimmen. Die Bedeutung einer Haftbefehlseröffnung erfüllt die materiellen Voraussetzungen des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO. Dies folgt einerseits – wie ausgeführt – bereits aus Art. 4 Abs. 4 Satz 2 Buchst. a RL (EU) 2016/1919 und andererseits aus dem tatsächlichen Stellenwert dieser richterlichen Vernehmung. Diese vermag nämlich über die Vollstreckung oder Aufhebung des Haftbefehls zu entscheiden und betrifft damit – wie das Landgericht zu Recht ausführt – das Grundrecht auf Freiheit der Person (so auch bereits AG Stuttgart, Beschl. v. 27.11.2017 – 26 Gs 8396/17 – StraFo 2018,114, 115, vgl. auch Schlothauer, StV 2017, 557, 558). Auch der Hinweis auf § 254 StPO ist berechtigt und zeigt, wie wichtig die anwaltliche Beratung und Vertretung des Beschuldigten bei richterlichen Vernehmungen ist. Damit sind aber auch kaum richterliche Vernehmungen denkbar, die nicht die Voraussetzungen des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO erfüllen.
Dies hat im vorliegenden Fall zur Konsequenz, dass dem Beschuldigten Rechtsanwalt B beizuordnen war. Grundsätzlich gilt zwar, dass eine Beiordnung mehrerer Verteidiger nicht zulässig ist, wenn dies allein aus dem Grund erfolgt, dass sich diese gegenseitig vertreten sollen (OLG Hamm, Beschl. v. 26.10.2010 – 5 Ws 374/10 – NStZ 2011, 235, 236; Beulke in: SSW-StPO, 3. Aufl. 2018, § 141 Rn. 4). Das OLG Hamm führte dazu aus: „Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers nur für die Verhandlungstage, an denen der erste Pflichtverteidiger verhindert ist, ist demnach aus Rechtsgründen nicht möglich.“ (OLG Hamm, Beschl. v. 26.10.2010 – 5 Ws 374/10 – NStZ 2011, 235, 236). Eben dieser Fall ist aber nicht gegeben. Zum einen handelt es sich hier nur um eine temporäre Bestellung für den Termin der Haftbefehlseröffnung, während die Entscheidung des OLG Hamm die Vertretung in der Hauptverhandlung betrifft. Zudem muss auch berücksichtigt werden, dass der Beschuldigte in dieser Sache aufgrund der Verhinderung seines Verteidigers (Rechtsanwalt A) ohne die temporäre Beiordnung des zweiten Verteidigers (Rechtsanwalt B) so stehen würde, wie das Gesetz es gerade verhindern will: beistandslos. Damit ist die zeitweilige Beiordnung für den Termin der Haftbefehlseröffnung auch neben einem verhinderten Verteidiger von Rechts wegen geboten.
D. Auswirkungen für die Praxis
Unter dem Eindruck dieser Entscheidung sowie der zugrunde liegenden rechtlichen Wertungen und Aspekte liegt es nicht fern, von der Haftbefehlseröffnung als einem „Regelbeispiel“ für eine Beiordnung eines notwendigen Verteidigers i.S.d. § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO zu sprechen. Während die Rechtsfolgen eines Verstoßes bekanntermaßen umstritten sind, neigt der BGH hier wohl einer Abwägung zu, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt und der Beschuldigte in besonderem Maße des Schutzes durch den Verteidiger bedurfte (BGH, Urt. v. 22.11.2001 – 1 StR 220/01 – BGHSt 47, 172, 179 f. zu § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO a.F. unter Berufung auf BGH, Urt. v. 21.05.1996 – 1 StR 154/96 – BGHSt 42, 170, 174; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 142 Rn. 11; dagegen für ein Beweisverwertungsverbot Sowada, NStZ 2005, 1, 6 f.). Es bleibt allerdings fraglich, wie man dem Verstoß gegen § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO die Schwere und die besondere Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten absprechen könnte, wenn gleichzeitig gerade aufgrund der Bedeutung der Vernehmung für die Rechte des Betroffenen ein Verteidiger bestellt werden muss.
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