Nachfolgend ein Beitrag vom 15.2.2017 von Sixtus, jurisPR-ArbR 7/2017 Anm. 1

Leitsätze

1. Der Mindestlohnanspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG ist ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt.
2. Erfüllt ist der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn, wenn die für den Kalendermonat gezahlte Bruttovergütung den Betrag erreicht, der sich aus der Multiplikation der Anzahl der in diesem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mit dem gesetzlichen Mindestlohn ergibt. Erfüllung tritt mit Zahlung des Bruttoarbeitsentgelts ein. Auch verspätete Zahlungen können Erfüllungswirkung haben.

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn entsteht mit jeder geleisteten Arbeitsstunde. Dies erfordert die schlüssige Darlegung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden. Die Behauptung einer aus dem Durchschnitt eines Zeitraums ermittelten Stundenzahl ersetzt diesen Vortrag nicht.
2. Erreicht die vom Arbeitgeber tatsächlich gezahlte Vergütung den gesetzlichen Mindestlohn nicht, begründet dies von Gesetzes wegen einen Anspruch auf Differenzvergütung, wenn der Arbeitnehmer in der Abrechnungsperiode für die geleisteten Arbeitsstunden im Ergebnis nicht mindestens den in § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG vorgesehenen Bruttolohn erhält.
3. Bei einer Geldschuld wird die geschuldete Leistung mangels anderer Vereinbarung nur dann bewirkt, wenn der Gläubiger den Geldbetrag, den er beanspruchen kann, endgültig zur freien Verfügung übereignet oder überwiesen erhält. Darf er den Betrag nicht behalten, tritt der Leistungserfolg nicht ein. Der Arbeitgeber erfüllt den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen nur, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben.
4. Alle im Synallagma stehenden Geldleistungen des Arbeitgebers sind geeignet, den Mindestlohnanspruch des Arbeitnehmers zu erfüllen. Von den im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen des Arbeitgebers fehlt folglich nur solchen Zahlungen die Erfüllungswirkung, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen.
5. Die Arbeitsvertragsparteien können ihre vertraglichen Absprachen dahingehend gestalten, dass sie einer Abänderung durch betriebliche Normen unterliegen. Das kann ausdrücklich oder bei entsprechenden Begleitumständen konkludent erfolgen und ist nicht nur bei betrieblichen Einheitsregelungen und Gesamtzusagen möglich, sondern auch bei einzelvertraglichen Abreden. Eine konkludente Vereinbarung darf angenommen werden, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist und einen kollektiven Bezug hat.

A. Problemstellung

Das BAG hatte über die Auswirkungen des Mindestlohngesetzes auf arbeitsvertragliche Entgeltbestandteile und die hieraus resultierende Frage noch offener Vergütungsansprüche zu entscheiden.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin ist seit dem Jahr 1992 als Cafeteria-Mitarbeiterin bei der Beklagten beschäftigt. Ihr Arbeitsvertrag regelt eine monatliche Vergütung von brutto 2.347,92 DM „auf Basis eines Stundensatzes von 13,50 DM“. Für Überstunden, Sonn- und Feiertags- sowie Nachtarbeit sind arbeitsvertraglich prozentuale Zuschläge zu dem „vereinbarten Stundenlohn“ vorgesehen. Darüber hinaus sieht der Arbeitsvertrag die Zahlung jeweils eines halben Monatsgehaltes als Urlaubs- und als Weihnachtsgeld vor, fällig im Mai bzw. November eines Jahres. Die Sonderzuwendung verringert sich um ein Zwölftel für jeden Kalendermonat, in dem kein Arbeitsverhältnis bestanden hat oder für den keine Vergütung beansprucht wurde.
Im Dezember 2014 schloss die Beklagte eine Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat, nach der die arbeitsvertraglich vereinbarten Sonderzahlungen (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld) „i.H.v. 1/12 für jeden Kalendermonat zur betriebsüblichen Fälligkeit der Monatsvergütung zur Zahlung fällig“ sind. Ab Januar 2015 zahlte die Beklagte der Klägerin neben dem Bruttogehalt i.H.v. 1.391,36 Euro monatlich weitere jeweils 57,97 Euro brutto, die sie mit „Urlaubsgeld 1/12“ und „Sonderzuwendung 1/12“ abrechnete. Nacht-, Überstunden- , Sonn- und Feiertagszuschlägen legte sie den vertraglichen Stundenlohn i.H.v. 8,00 Euro brutto zugrunde. Angefallene Überstunden der Klägerin in den Monaten Februar, April und Juni 2015 vergütete sie ebenfalls auf Basis von 8,00 Euro brutto je Stunde. Die Klägerin meint, die Beklagte zahle den gesetzlichen Mindestlohn nicht in voller Höhe. Die Jahressonderzahlungen seien nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn anrechenbar. Alle Entgeltbestandteile seien auf der Grundlage des Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde zu berechnen, Überstunden mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten. Die ersten beiden Instanzen hatten die geltend gemachten Ansprüche der Klägerin auf Zahlung weiterer Vergütung und Sonderzahlung – jedenfalls im Wesentlichen – abgewiesen. Auch die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg.

C. Kontext der Entscheidung

Das BAG stellte fest, dass die Beklagte die Ansprüche der Klägerin auf den gesetzlichen Mindestlohn erfüllt habe. Dies sei der Fall, wenn die für einen Kalendermonat gezahlte Bruttovergütung den Betrag erreiche, der sich aus der Multiplikation der Anzahl der in diesem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mit 8,50 Euro ergibt. Angesichts des zugrunde zu legenden „umfassenden Entgeltbegriffs“ seien alle im Synallagma stehenden Geldleistungen des Arbeitgebers geeignet, den Mindestlohnanspruch des Arbeitnehmers zu erfüllen. Damit komme auch den vorbehaltlos und unwiderruflich in jedem Monat geleisteten 1/12 Jahressonderzahlung Erfüllungswirkung zu, so dass deren Leistung im Rahmen des Mindestlohnes zu berücksichtigen war. Die Klägerin könne auch keine höheren, als die arbeitsvertraglich vereinbarten Zuschläge für Überstunden-, Sonn-, und Feiertagsarbeit verlangen. Denn die Zuschlagspflicht ergebe sich allein aus der vertraglichen Regelung und knüpfe insoweit an den „vereinbarten Stundenlohn“ an. Diese Vergütungsvereinbarung bleibe von dem Mindestlohngesetz unberührt.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung des BAG ist zu begrüßen. Sie stellt klar, dass der gesetzliche Mindestlohn als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen tritt, diese jedoch nicht verändert. Es ist somit unschädlich, wenn allein der vertraglich vereinbarte Stundenlohn (noch) dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht. Im Rahmen der Erfüllung des Mindestlohnanspruchs sind vielmehr alle im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen des Arbeitgebers zu berücksichtigen, die mit Blick auf tatsächliche Arbeitsleistung erbracht werden – also auch Leistungsprovisionen, oder wie vorliegend, Sonderzahlungen mit Entgeltcharakter. Wird so hinsichtlich der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden eines Monats der gesetzliche Mindestlohn je Stunde erreicht, ist der Mindestlohnanspruch erfüllt. Nur wenn Zahlungen ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht werden (so im Fall einer reinen „Treueprämie“) oder auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen (z.B. Zuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG), ist eine Anrechnung ausgeschlossen.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Die Klägerin hatte zudem die Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung gerügt. Auch dem folgte das BAG nicht. Hinsichtlich der formellen Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung sah das BAG bereits die gesetzlichen Anforderungen an die durch die Klägerin erhobenen Rügen als nicht erfüllt an. Materiell-rechtlich erachtete es die Betriebsvereinbarung für wirksam. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG greife insoweit nicht, da es sich um eine Angelegenheit der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrates handele (§ 87 Abs. 1 BetrVG).