Nachfolgend ein Beitrag vom 7.7.2017 von Itzel, jurisPR-BGHZivilR 13/2017 Anm. 4

Leitsatz

Wer eine besondere Berufs- oder Organisationspflicht, die dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dient, grob vernachlässigt hat, kann nach Treu und Glauben die Folgen der Ungewissheit, ob der Schaden abwendbar war, nicht dem Geschädigten aufbürden. In derartigen Fällen ist die regelmäßige Beweislastverteilung dem Geschädigten nicht zuzumuten. Der seine Pflichten grob Vernachlässigende muss daher die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen (Bestätigung und Fortführung von BGH, Urt. v. 13.03.1962 – VI ZR 142/61 – NJW 1962, 959 f. und BGH, Urt. v. 10.11.1970 – VI ZR 83/69 – NJW 1971, 241, 243).

A. Problemstellung

Folgen auf Pflichtverletzungen (bei ärztlicher Tätigkeit, Schwimmbadaufsicht, Hausnotrufzentrale usw.) körperliche Schäden (hier Schlaganfall), so hängt in dem meisten Fällen der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens von der Beweislastverteilung ab. Besteht die Pflichtwidrigkeit in einem Unterlassen (der korrekten, rechtzeitigen Pflichtenwahrnehmung), so tritt Ersatzpflicht grundsätzlich nur ein, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Schaden bei korrektem Verhalten ausgeblieben wäre. Anderes gilt im Arzthaftungsrecht. Hier führt ein grober Behandlungsfehler regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem Gesundheitsschaden; d.h. der Arzt muss darlegen und beweisen, dass der tatsächlich eingetretene Schaden in gleicher Weise auch bei pflichtgemäßem Handeln sich realisiert hätte. Die letztgenannten Beweiserleichterungen hat nun der BGH auch in einem Fall nichtärztlichen Handelns angewandt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der (inzwischen verstorbene) Kläger bzw. seine Erbinnen nehmen die Beklagte wegen Verletzung eines Hausnotrufvertrages auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Der schwerkranke Kläger betätigte den Notruf zur Zentrale der Beklagten. Ihm war eine Artikulation nicht möglich. Die Mitarbeiter der Beklagten vernahmen lediglich ein Stöhnen. Nachdem auch mehrere Versuche scheiterten, den Kläger telefonisch zu erreichen, begaben sich Mitarbeiter der Beklagten zur Wohnung des Klägers. Diesen gelang es, den auf dem Boden liegenden Kläger auf die Couch zu setzen; eine weitere Versorgung, Betreuung wurde nicht veranlasst. Zwei Tage später wurde der in der Wohnung liegende Kläger vom Pflegedienst aufgefunden und wegen Halbseitenlähmung und Aphasie in eine Klinik eingeliefert, wo ein wenige Tage zurückliegender Schlaganfall festgestellt wurde.
Der Kläger behauptet, dass er kurz vor Auslösen des Hausnotrufs den Schlaganfall erlitten habe. Dessen gravierende Folgen wären vermieden worden, wenn die Notrufzentrale und deren Mitarbeiter pflichtgemäß reagiert hätten, er in einer Klinik zeitnah erfolgversprechend behandelt worden wäre. Landgericht und KG Berlin haben die Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen. So sei eine zurechenbare Pflichtverletzung nicht nachgewiesen und zudem unklar und vom Kläger nicht bewiesen, dass der Schlaganfall tatsächlich im zeitlichen Zusammenhang mit dem getätigten Hausnotruf eingetreten sei.
Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Auf Grundlage zahlreicher Indizien (u.a. Vorerkrankungen, nur Stöhnen am Notruf wahrnehmebar) mussten die Mitarbeiter der Beklagten von einem medizinischen Notfall ausgehen und, da Leben und Gesundheit auf dem Spiel standen, den sichersten Weg gehen. Der BGH stellt damit eine schuldhafte Verletzung der Pflichten aus dem Dienstvertrag (Hausnotrufvertrag) fest. Er kommt dann für den vorliegenden Fall zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten (Klägers), soweit es um die (Kausalitäts-)Frage geht, ob die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten wären. Unter Bezugnahme auf die Beweislastverteilung bei groben Behandlungsfehlern im Arzthaftungsrecht, ältere Rechtsprechung zu Beweisgrundsätzen bei grober Verletzung von sonstigen Berufs- und Organisationspflichten, legt der BGH dar, dass er diese für den Geschädigten günstige Beweislastverteilung wegen Vergleichbarkeit der Interessenlage hier anwendet. Die Voraussetzungen legt er wie folgt fest:

• die (vertraglichen) Pflichten müssen dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen, diesen Schutz gerade bezwecken;
• grobe Vernachlässigung der (vertraglichen) Pflichten;
• generelle Eignung der Pflichtverletzung zur Herbeiführung der tatsächlich eingetretenen Schäden.

In diese letzte Voraussetzung für die Annahme einer Umkehr der Beweislast fügt der BGH nun noch den Gedanken (und die weitere Voraussetzung?) ein, dass durch die Pflichtverletzung „erhebliche Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen“ wurden, die Beweissituation sich für den Geschädigten erheblich verschlechtert hat und es aus Zumutbarkeits- und Billigkeitsgesichtspunkten angezeigt ist, dem Beklagten die Beweislast dafür aufzuerlegen, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach dem Schlaganfall auch bei rechtzeitiger Alarmierung des Rettungsdienstes eingetreten wären.

C. Kontext der Entscheidung

Der BGH nimmt mit dieser Entscheidung einige Ansätze der Rechtsprechung für eine „gerechte, billige“ Beweislastverteilung auf und bringt diese dann für den vorliegenden Fall der Verletzung vertraglicher Pflichten zur Anwendung. Vermutet, befürchtet man auf den ersten Blick eine erstaunliche Erweiterung der Beweislastumkehr bei jedwedem grob fahrlässigen Verhalten, der groben Vernachlässigung vertraglicher oder sonstiger (Schutz-)Pflichten, so relativiert sich das unter Beachtung der weiteren vom BGH aufgestellten Voraussetzungen und Hürden. Danach muss nicht nur grob fahrlässiges Verhalten und die generelle Eignung der Pflichtverletzung zur Herbeiführung des Schadens vorliegen; sondern es muss gerade durch dieses Verhalten zu einer Verschlechterung der Beweissituation des Geschädigten gekommen sein. Letzteres Kriterium hat der BGH nun aber schon mehrfach und auch jüngst zur Begründung einer Beweislastumkehr herangezogen (vgl. nur BGH, Urt. v. 14.07.2016 – III ZR 265/15; hierzu Itzel, jurisPR-BGHZivilR 16/2016 Anm. 4). Der BGH sieht diese (grob) pflichtwidrig verursachte Beweisverschlechterung wohl als (mit-)entscheidend an. Dem ist wohl zuzustimmen.
Demgegenüber sollten die gleichfalls herangezogenen Gesichtspunkte der „Billigkeit“ sowie „Unzumutbarkeit“ schon aus dogmatischen Gründen nicht als Kompensations- und Sanktionsgesichtspunkte für den groben Pflichtenverstoß des Schädigers als tragende Begründungselemente der Beweislastumkehr verwendet werden.

D. Auswirkungen für die Praxis

Prozessbevollmächtige von Geschädigten werden nun vermehrt darauf hinweisen, dass die jeweilige Pflichtverletzung grob, nicht mehr verständlich war und eine Beweislastumkehr reklamieren. Dies dürfte auch für jedwede Verkehrssicherungspflichten, die im Regelfall Leib und Leben schützen sollen, zutreffen. Insoweit wird es im Amtshaftungsbereich, wie schon von einigen Kanzleien in der jüngeren Vergangenheit praktiziert, zu einem neuen Streitpunkt, -feld kommen können. Hierbei wird dann zu beachten sein, dass es anders als im Arzthaftungsbereich keine derart feststehenden Standards (Leit-, Richtlinien) gibt, die Einstufung als „grob pflichtwidrig“ damit stark wertungsorientiert ist und in diesem ohnehin (einzel-)fallorientierten Haftungsbereich (Amts- und Staatshaftung) auf der Ebene der Darlegungs- und Beweislast dann ein weiteres Billigkeitselement hinzugefügt wird. Umso mehr muss dann dem Gesichtspunkt einer tatsächlich eingetretenen Beweisverschlechterung entscheidende Bedeutung zugemessen werden.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Beachtenswert ist noch die am Ende der BGH-Entscheidung anzutreffende Festlegung, dass gegen eine Geschäftsgebühr von 1,8 (bei Regelgebühr 1,3 – Anm. zu Nr. 2300 VV RVG) bei der Bearbeitung schwieriger dogmatischer Fragen – hier: überdurchschnittlich schwierige Fragen zur Beweislastverteilung bei groben Pflichtverstößen – keine Bedenken bestehen. Diese Festlegung wird sicherlich zeitnah Auswirkungen auch im Instanzenzug zeigen. Nicht nur eine tatsächliche, fachliche Komplexität (z.B. mit zahlreichen Gutachten und tatsächlichen Streitpunkten), sondern auch anspruchsvolle Rechtsfragen können mithin zur erhöhten Geschäftsgebühr führen.