Nachfolgend ein Beitrag vom 19.10.2016 von Boigs, jurisPR-ArbR 42/2016 Anm. 6
Leitsatz
Das Recht, sich auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit dem Betriebsveräußerer zu berufen, verwirkt, wenn vier Jahre nach dem Betriebsübergang und der Akzeptanz dieses Betriebsübergangs in einem rechtskräftigen Kündigungsschutzverfahren mit dem Betriebserwerber erstmals der Betriebsübergang angezweifelt wird.
A. Problemstellung
Die vorliegende Entscheidung ist in zweierlei Hinsicht von Interesse: Zum einen behandelt sie die Problematik „Betriebsübergang und Betriebsführungsvertrag“. Zum anderen geht es um das Vorliegen des Umstandsmoments im Rahmen einer zu prüfenden Verwirkung.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin – die W. GmbH & Co. KG (W.) – begehrt die Feststellung, dass zwischen ihr und dem Beklagten über den 31.03.2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis nicht bestanden hat und nicht besteht.
Die Klägerin stellte in drei Standorten Industrieprodukte (insbesondere Holz- und Kunststoffprodukte) her. Im Produktionsstandort Berlin, in dem der Beklagte beschäftigt war, produzierte sie Fassaden- und Balkonprofile. Dort bestand eine eigene Werksleitung; ein Betriebsrat war gebildet.
Im Oktober 2010 vereinbarten die Klägerin und der bei ihr gebildete Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich, der die Übernahme aller Arbeitnehmer durch eine neu zu gründende Gesellschaft zum Gegenstand hatte. Mit Schreiben vom 01.03.2011 informierte die Klägerin den Beklagten, dass sein Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 01.04.2011 auf die Industriewerke W. GmbH & Co. KG (I.W.) übergehe.
Grundlage war eine zwischen der Klägerin und der I.W. geschlossene „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsfortführung“. Danach sollte die I.W. die komplette Produktion der W.-Produkte an allen drei Standorten ab dem 01.04.2011 in Lohnfertigung weiterführen. Im Übrigen sollte sie die Betriebsführung des gesamten Geschäftsbetriebes nach den Vorgaben der Klägerin übernehmen. Bei der Klägerin verblieben das Immobilien-, Anlage-, und Umlaufvermögen sowie die Patente und Lizenzverträge. Diese Vermögenswerte sollten der I.W. unentgeltlich zur Nutzung zur Verfügung gestellt werden.
Der Beklagte setzte seine Tätigkeit unter der Leitung der I.W., die später zur FHK GmbH & Co. KG (FHK) umfirmierte, widerspruchslos unverändert fort. Die FHK führte auf Arbeitgeberseite die Arbeitsverhältnisse der am Berliner Standort beschäftigten Arbeitnehmer fort und rechnete diese ab. Außerdem übte sie Arbeitgeberfunktionen gegenüber den Trägern der gesetzlichen Sozialversicherung und sonstigen Stellen im Rahmen des Arbeitsschutzes, der Arbeitssicherheit und der Arbeitsförderung aus. Schließlich trat die FHK mit dem Berliner Betrieb in den zuständigen Arbeitgeberverband ein. Dagegen erfolgte der Marktauftritt zum Vertrieb der W.-Produkte im Internet weiterhin über die Klägerin.
Der Berliner Betrieb geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die FHK und der Betriebsrat bewirkten bei den Tarifvertragsparteien die Verschiebung der zuletzt vereinbarten Tariferhöhungen. Im September 2011 schlossen sie eine Betriebsvereinbarung über die Einführung von Kurzarbeit. Im Jahr 2012 vereinbarten sie einen Interessenausgleich (und Sozialplan), der Produktionseinschränkungen/-stillstände und Einsätze der Beschäftigten an den anderen Standorten vorsah. Letztlich vereinbarten sie im Januar 2014 einen Interessenausgleich und Sozialplan zur Schließung des Standortes Berlin zum 30.09.2014.
Die FHK kündigte im März 2014 das Arbeitsverhältnis des Beklagten wegen der Betriebsstilllegung. Die gegen die FHK gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten wurde mit rechtskräftigem Urteil abgewiesen. In dem Kündigungsschutzverfahren hatte der Beklagte zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, dass ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB auf die seinerzeitige I.W. nicht stattgefunden hätte.
Mit Schreiben vom 08.06.2015 machte der Beklagte gegenüber der Klägerin geltend, dass über den 31.03.2011 hinaus ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis bestehe. Er bot seine Arbeitskraft an, verlangte vertragsgemäße Beschäftigung und forderte eine etwaige Differenzvergütung seit dem 01.04.2011.
Die 2. Kammer des LArbG Berlin-Brandenburg hat dem Antrag der Klägerin entsprochen und festgestellt, dass zwischen den Parteien über den 31.03.2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis weder bestanden hat noch besteht. Zur Begründung stützt sich die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts auf zwei Argumente.
I. Die 2. Kammer nimmt einen Betriebsübergang gemäß § 613a BGB an und bejaht damit den Übergang des Arbeitsverhältnisses des Beklagten von der Klägerin auf die I.W. Die I.W. habe den Berliner Produktionsbetrieb als wirtschaftliche Einheit übernommen und den eigenständigen wirtschaftlichen Betriebszweck, nämlich die Herstellung von Fassaden- und Balkonprofilen, mit sämtlichen dort beschäftigten Arbeitnehmern tatsächlich fortgeführt. Ihr hätten die Nutzungsrechte und damit die Verfügungsgewalt über die materiellen und immateriellen Produktionsmittel auf der Grundlage der geschlossenen Vereinbarung über die Lohnfertigung zugestanden. Auf die Eigentümerstellung über die Produktionsmittel komme es dabei nicht an, denn die eigenwirtschaftliche Nutzung der Betriebsmittel sei keine Voraussetzung eines Betriebsübergangs.
Auch habe die I.W./FHK als neue Betriebsinhaberin die tatsächliche Leitung der Produktion als dem wesentlichen Betriebszweck übernommen und sei gegenüber den Arbeitnehmern, dem Betriebsrat, den Tarifvertragsparteien, den Sozialversicherungsträgern und öffentlich-rechtlichen Institutionen im eigenen Namen aufgetreten.
Dagegen habe die Klägerin ihre wirtschaftliche Tätigkeit im Bereich der Produktion eingestellt. Ihre wirtschaftliche Einflussnahme habe sich vielmehr auf die Veräußerung der Produkte am Markt und auf die Betriebsführung im Übrigen erstreckt.
Insofern handele es sich bei der „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsfortführung“ um einen unechten Betriebsführungsvertrag. Dieser habe zu einem Betriebsinhaberwechsel gemäß § 613a BGB geführt. Entscheidend sei, wer im Außenverhältnis gegenüber dem Personal die originären Arbeitgeberrechte und -pflichten übernehme (vgl. EuGH, Urt. v. 06.03.2014 – C-458/12 – NZA 2014, 423 Rn. 29 „Amatori“).
II. Des Weiteren stellt die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts fest, dass auch dann, wenn ein Betriebsinhaberwechsel verneint werde, der Beklagte gegenüber der Klägerin keine Rechte mehr aus einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis habe geltend machen können, da diesbezügliche Rechte verwirkt seien.
Das für die Verwirkung erforderliche Zeitmoment sei erfüllt, da der Beklagte über vier Jahre zugewartet habe, bevor er etwaige Ansprüche aus einem vermeintlich noch bestehenden Arbeitsverhältnis gegenüber der Klägerin erhoben habe.
Aber auch das Umstandsmoment liege vor. Nach dem gesamten Verhalten des Beklagten habe die Klägerin annehmen dürfen, dass dieser ein entsprechendes Recht nicht mehr geltend machen werde, so dass ihr deshalb die Befriedigung eines solchen Rechts nicht mehr zuzumuten sei. Der Beklagte habe (während der vier Jahre) nicht erkennen lassen, dass er von einem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin ausgehe.
Er habe auf das Schreiben der Klägerin vom 01.03.2011, in dem diese über den von ihr angenommenen Betriebsübergang ausführlich gemäß § 613a Abs. 5 BGB informiert habe, ebenso wenig reagiert wie im September 2011 auf die von der Betriebserwerberin (I.W./FHK) mit dem Betriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarung über die Einführung von Kurzarbeit. Auch nach Abschluss des Interessenausgleichs über Produktionseinschränkungen und Einsätzen der Beschäftigten an den anderen Standorten im Jahre 2012 sowie nach Vereinbarung des Interessenausgleichs über die Stilllegung des Betriebs im Januar 2014 habe er sich nicht an die Klägerin gewandt. Selbst in dem Kündigungsschutzverfahren wegen der betriebsbedingten Kündigung aus dem März 2014 habe der Beklagte zu keinem Zeitpunkt die Arbeitgeberstellung (und damit die Kündigungsberechtigung) der FHK infrage gestellt und etwa geltend gemacht, dass ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB auf die seinerzeitige I.W. nicht stattgefunden habe. Erst über zwölf Monate nach der Kündigung, im Juni 2015, hat sich der Beklagte an die Klägerin gewandt.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung der 2. Kammer des LArbG Berlin-Brandenburg ist in folgendem Zusammenhang zu sehen:
I. Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB in Verbindung mit der Richtlinie 2001/23/EG liegt vor, wenn eine bestehende wirtschaftliche Einheit von einem bisherigen Inhaber auf einen neuen Inhaber übergeht und dort unter Wahrung ihrer Identität fortgeführt wird (BAG, Urt. v. 07.04.2011 – 8 AZR 730/09 – NZA 2011, 1231 Rn. 14). Der Begriff der wirtschaftlichen Einheit bezieht sich auf eine hinreichend strukturierte und selbstständige Gesamtheit von Personen und Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck. Unerheblich ist, ob der Betriebsübernehmer Eigentümer der identitätsprägenden sächlichen Betriebsmittel wird (BAG, Urt. v. 06.04.2006 – 8 AZR 222/04 – NZA 2006, 723 Rn. 24).
II. An die Stelle des bisherigen Betriebsinhabers muss ein anderer treten, der den Betrieb in eigenem Namen tatsächlich fortführt und nach außen als Betriebsinhaber auftritt. Der bisherige Inhaber muss seine wirtschaftliche Betätigung in Bezug auf den übergehenden Betrieb einstellen (BAG, Urt. v. 27.09.2012 – 8 AZR 826/11 – NZA 2013, 961 Rn. 21; BAG, Urt. v. 21.08.2008 – 8 AZR 201/07 – NZA 2009, 29 Rn. 46).
III. Bei Betriebsführungsverträgen wird in der Literatur zwischen „echten“ und „unechten“ Betriebsführungsverträgen unterschieden. Beim echten Betriebsführungsvertrag handelt der Betriebsführer nicht im eigenen, sondern im fremden Namen, nämlich im Namen des Auftraggebers – insbesondere auch gegenüber den Arbeitnehmern. Beim unechten oder atypischen Betriebsführungsvertrag handelt der Betriebsführer dagegen im eigenen Namen. Dementsprechend ist § 613a BGB nur bei einem unechten Betriebsführungsvertrag anwendbar. Betriebsinhaber ist im Zweifel derjenige, der tatsächlich die betriebliche Leitungs- und Organisationskompetenz ausübt und zumindest den Arbeitnehmern gegenüber als Betriebsinhaber auftritt, also den Betrieb ihnen gegenüber im eigenen Namen führt (Willemsen in: Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011, G Rn. 77 ff.; Rieble, NZA 2010, 1145).
IV. Hiernach ist die Annahme eines Betriebsübergangs hinsichtlich des Produktionswerkes Berlin im Rahmen eines unechten Betriebsführungsvertrags vertretbar. Die I.W./FHK ist jedenfalls gegenüber den Arbeitnehmern, dem Betriebsrat, den Tarifvertragsparteien und öffentlich-rechtlichen Institutionen als verantwortliche Betriebsinhaberin aufgetreten. Eine darüber hinausgehende Außenwirkung war zwangsläufig durch den auf die Lohnfertigung reduzierten (gleichwohl Werkunternehmer-)Status eingeschränkt.
V. Der Verwirkung unterliegt grundsätzlich jeder Anspruch und jedes Recht. Jedes Recht kann nur unter Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeübt werden. Das Rechtsinstitut der Verwirkung beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes (§ 242 BGB) und dient dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
VI. Die Verwirkung tritt ein, wenn der Inhaber des Rechts ein Zeitmoment und ein Umstandsmoment verwirklicht hat. Dabei beeinflussen sich Zeitmoment und Umstandsmoment wechselseitig. Der erforderliche Zeitablauf kann umso kürzer sein, je gravierender die Umstände sind, und umgekehrt sind an diese Umstände desto geringere Anforderungen zu stellen, je länger der abgelaufene Zeitraum ist (BAG, Urt. v. 12.12.2006 – 9 AZR 747/06 – NZA 2007, 396 Rn. 17, 18).
1. Ein Zeitraum von über vier Jahren kann in der Regel für die Annahme des Zeitmoments als unkritisch angesehen werden.
2. Für das Umstandsmoment kommt es im Wesentlichen darauf an, wie das Verhalten des Gläubigers eines Rechts vom Schuldner aufgefasst werden darf. So hat der Neunte Senat des BAG im Rahmen einer Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit einer Versetzung das Umstandsmoment bei einer nahezu zweijährigen widerspruchslosen Kooperation des Klägers angenommen. Das Verhalten des Klägers – so der Neunte Senat – sei für die Beklagte ein unmissverständliches Zeichen dafür gewesen, dass er die personelle Entscheidung hingenommen habe und diese nicht mehr angreifen werde (BAG, Urt. v. 12.12.2006 – 9 AZR 747/06 Rn. 27).
VII. Danach ist es im vorliegenden Fall gut vertretbar, aus der Sicht der Klägerin die über vierjährige klaglose Weiterarbeit des Beklagten bei der I.W./FHK – gerade vor dem Hintergrund der dort wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ergriffenen gravierenden Maßnahmen – dahingehend zu werten, er werde sich auf ein potentielles Arbeitsverhältnis mit ihr nicht mehr berufen.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde liegt, ist geeignet, die (manchmal schmale) Gratwanderung zwischen einem echten und unechten Betriebsführungsvertrag mit der Folgewirkung auf die Anwendung des § 613a BGB anschaulich zu machen. Die 2. Kammer des LArbG Berlin-Brandenburg hat eine vertretbare Lösung gefunden und die Revision nicht zugelassen.
Dagegen hat die 15. Kammer desselben Gerichts in einem Parallelverfahren (zum Teil mit emotionalem Text) exakt die gegenteilige Auffassung vertreten und einen echten Betriebsführungsvertrag angenommen und demzufolge einen Betriebsübergang abgelehnt und schließlich eine Verwirkung verneint. Die 15. Kammer hat die Revision zugelassen. Die von der Klägerin eingelegte Revision wird beim BAG unter dem Aktenzeichen 8 AZR 338/16 geführt. Das BAG hat das letzte Wort.