Die Urteile des BGH zur Kenntnis werfen neue Fragen auf
Bertin Chab, München
Der Autor ist Rechtsanwalt und bei der Allianz Versicherung München tätig. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.
Der Bundesgerichtshof hat mit zwei Urteilen im vergangenen Jahr die Position von Mandanten im Regressprozess gegen ihren Anwalt gestärkt (AnwBl 2014, 654 und AnwBl 2014, 359). Die Verjährung von Haftungsansprüchen beginnt jetzt erst, wenn der Mandant die rechtliche Lage richtig einschätzen kann. Solange er seinem Anwalt vertraut, kann praktisch der Lauf der Verjährung nicht beginnen. Der Autor hält diese Rechtsprechung im Ansatz für richtig, warnt aber davor, die „mangelnde Kenntnis“ des Mandanten zu einer bloßen Fiktion werden zu lassen. Gleichzeitig gibt er Hinweise, wie auch im problematisch gewordenen Mandat – trotz Mandatsfortsetzung – der Lauf der Verjährung in Gang gesetzt werden könnte.
Etwa 10 Jahre hat es gedauert, bis der IX. Zivilsenat des BGH die Möglichkeit bekam, zur seit dem 15. Dezember 2004 geltenden neuen Rechtslage zur Regressverjährung bei Berufshaftungsfällen von Rechtsanwälten erste echte Leitlinien hinsichtlich des Merkmals der Kenntnis zu ziehen. Das Ergebnis darf getrost als mandanten- oder verbraucherfreundlich bezeichnet werden. Welche rechtlichen Überlegungen stecken hinter den BGH-Entscheidungen vom 6. Februar 2014 und was können die Folgen für die Mandatsführung sein?
I. Die beiden BGH-Urteile vom 6. Februar 2014
Im Urteil des BGH mit dem Aktenzeichen IX ZR 217/12 ging es darum, dass im Vorprozess Ende Dezember 2006 eine aussichtsreiche Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG zurückgenommen wurde; vorausgegangen waren zwei Aufklärungsgespräche mit streitigem Inhalt. Das Thüringer OLG hatte als Berufungsgericht im Haftpflichtprozess für die Kenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB ausreichen lassen, dass die Mandantin von den Beratungsgesprächen und von der Tatsache der Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde wusste, so dass die Verjährung nach dieser Ansicht mit dem 1. Januar 2007 anlief. Dem trat der BGH entgegen. Der IX. Zivilsenat führte aus, dass der Mandant nicht nur die tatsächlichen Umstände hinsichtlich des anwaltlichen Fehlverhaltens kennen müsse; entscheidend sei, dass sich für ihn ergebe, dass der Rechtsberater vom üblichen rechtlichen Vorgehen abgewichen sei oder Maßnahmen nicht eingeleitet habe, die zur Vermeidung eines Schadens erforderlich waren. Der Mandant müsse Umstände kennen, die auf eine Pflichtverletzung des Anwalts und damit auf entsprechende Schadenersatzansprüche deuten (Rz. 9 des Urteils).
Das zweite Urteil vom gleichen Tag zum Aktenzeichen IX ZR 245/12 befasst sich ebenfalls mit der Frage, welche Umstände für die Kenntnis des Mandanten von Bedeutung sind. Besonderheit war hier, dass der Mandant aufgrund gerichtlicher Hinweise bereits im Jahr 2006 darauf aufmerksam gemacht wurde, dass seine Ansprüche verjährt sein könnten. Allerdings hatte ihm sein Anwalt erläutert, dass die Rechtsauffassung des Amtsgerichts zur Verjährung nicht richtig sei, und deshalb nach verlorener I. Instanz auch noch zu einer Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil geraten, die das LG allerdings durch einstimmigen Beschluss Anfang 2008 zurückwies. Der BGH vertrat die Auffassung, dass die im Verlauf des Jahres 2010 eingereichte Regressklage noch rechtzeitig erfolgt war.
II. Bezugspunkte der Kenntnis im Sinne des § 199 BGB
Die bis zu diesem Zeitpunkt herrschende OLG-Rechtsprechung ließ es ausreichen, dass der Mandant Kenntnis von der fehlerhaften Vorgehensweise selbst hatte, ohne dass es auf die jeweilige rechtliche Bewertung ankam. Der IX. Zivilsenat macht in beiden Urteilen deutlich, dass das nicht genügt. Es müssen auch Umstände bekannt sein, die den Schluss auf eine Pflichtverletzung zulassen. Das setzt eine rechtliche Bewertung der Situation voraus, die bislang nur ganz ausnahmsweise als relevant angesehen wurde. In vielen Entscheidungen wurde betont, dass der Anspruchsgläubiger nur tatsächliche Umstände kennen müsse, ohne rechtliche Schlüsse hieraus zu ziehen. Noch das OLG Hamm war der Ansicht, dass Kenntnis nicht auch eine irgendwie geartete Parallelwertung in der Laiensphäre voraussetze.
Indes: Von einem Regressanspruch kann nur ausgehen, wer die Fehlerhaftigkeit eines bestimmten Vorgehens durch den Berater kennt, nicht allein dieses Vorgehen selbst. Damit folgt der BGH der schon zuvor geäußerten Kritik des Verfassers an den zitierten OLG-Entscheidungen. Der IX. Senat gleicht damit grundsätzlich die Rechtsprechung zur Verjährung bei Rechtberaterregressen derjenigen zur Arzthaftung, zu Amtshaftungsansprüchen und zu Ersatzansprüchen geschädigter Anleger an. In allen Bereichen muss zur Kenntnis der eigentlich fehlerhaften Handlung (also Fehldiagnose oder Kunstfehler bei der Operation bzw. fehlerhafte Amtshandlung oder fehlerhafte Beratung) noch eine weitere, sozusagen höhere Ebene der Kenntnis hinzukommen, nämlich das Wissen darum, dass die entsprechenden Handlungen als fehlerhaft einzuschätzen sind und zu einem irgendwie gearteten Schaden geführt haben.
Das ist aber – anders als es zum Beispiel noch Bitter/ Alles meinten – keineswegs Charakteristikum einer speziellen Art von Ansprüchen. Bei genauer Betrachtung gilt das beispielsweise auch für den Fall einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung. Hier genügt zum Anlaufen der Verjährung nur deshalb in aller Regel, dass Tat und Täter bekannt sind, weil unterstellt wird, dass jedermann weiß, dass ein solcher Sachverhalt nun einmal Schadenersatzansprüche nach sich zieht. Sieht man aber der jeweiligen Handlung nur bei näherer medizinischer, rechtlicher oder ähnlich gearteter Bewertung, die üblicherweise nur von einem Experten vorgenommen werden kann, die Fehlerhaftigkeit an, wird es – eben auch für den Geschädigten – komplizierter. Dann erlangt er in aller Regel nur durch Hinweise weiterer Experten diejenigen Kenntnisse, die ihn schlussfolgern lassen (müssen), überhaupt Schadenersatzansprüche zu haben. Dabei dürfte es allerdings ausreichen, wenn diese Hinweise auf eine Pflichtverletzung und einen entsprechenden Schadenersatzanspruch hindeuten, ohne dass eine in sich völlig konsistente Beratung über etwaige Regressansprüche erfolgen muss. So jedenfalls wird man den Stand der Dinge derzeit interpretieren können.
III. Zumutbarkeit, faire Chance und Vernunft
Häufig wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die Verjährungsfrist nicht beginnen könne, wenn dem Geschädigten eine Klage noch nicht zumutbar sei. Dabei stellt das Kriterium der Zumutbarkeit allerdings keine eigenständige Voraussetzung für den Verjährungsbeginn dar. Ob jemand etwas weiß oder nicht, ist keine Frage von Bewertungen, sondern Tatfrage. Die Zumutbarkeit betrifft hingegen nicht die Kenntnis selbst, sondern ihren Gegenstand, also die Frage, was der Betreffende wissen soll, um die Verjährungsfrist beginnen zu lassen. Es geht darum, dass der Gläubiger eine faire Chance haben soll, eine Klage gegen den Schuldner einzureichen, bevor dessen Zeit herunterzählt. Nassall verweist in diesem Zusammenhang zusätzlich auf den Begriff der Vernunft, der in anderen Gesetzen schon Gebrauch findet. Die notwendige Kenntnis und deren Gegenstände derart unterfüttert, kommt er dann zur eigentlich entscheidenden Frage, ob der jeweilige Anspruchsinhaber auch um seine Gläubigerstellung wissen muss.
IV. Verjährungseintritt bei laufendem Mandat und bei Anwaltswechsel
Anhand eben dieser Kriterien entschied nun der BGH eine Sachverhaltskonstellation, die der Verfasser ganz ähnlich bereits an gleicher Stelle im November-Heft 2013 des Anwaltsblatts diskutiert hatte, nämlich die Frage, wann der Mandant die maßgeblichen Kenntnisse hat, wenn ihm während der rechtlichen Auseinandersetzung von dritter Seite bedeutet wird, dass seine Ansprüche bei Klageeinreichung bereits verjährt waren, sein Anwalt aber gegenteiliger Auffassung ist und das Mandat entsprechend fortsetzt. Der BGH meint, dass Besonderheiten zu beachten sind, solange das Mandat noch nicht beendet ist.
Der Grund dafür liegt auf der Hand. Der Mandant hat seine rechtlichen Belange einem dazu berufenen Fachmann bewusst anvertraut. Gleichgültig, ob Jurist oder Laie: Wer einen Anwalt beauftragt, darf sich darauf verlassen, was dieser ihm sagt. Das ist kaum bestreitbar und gilt umso mehr, wenn während einer rechtlichen Auseinandersetzung der Ausgang noch gar nicht klar ist. Erst das Gericht entscheidet nach eigener Sachverhaltsaufklärung und Bewertung zum Beispiel über die Frage der Verjährung. Einreden der Gegenseite, wie sie im vom BGH entschiedenen Fall Mitte 2006 erfolgten, haben keine Verbindlichkeit, sind allenfalls Diskussionsgrundlage. Ein Hinweis des Gerichts – auch der war konkret noch 2006 erfolgt – bleibt immer ein Hinweis, der ja in der Regel gerade erteilt wird, um den Parteien noch Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Das Urteil des Amtsgerichts erging erst im Mai 2007, so dass es für die Regressfrage nicht mehr darauf ankam, ob nicht vielleicht zumindest dieses Urteil dem Mandanten die notwendige Kenntnis verschafft hätte. Dennoch nimmt der BGH – ganz am Schluss der Entscheidung – auch dazu Stellung: „Für die Klägerin bestand unter diesen Umständen auch nach Erlass des amtsgerichtlichen Urteils vom 21. Mai 2007 kein hinreichender Anhalt, an der Richtigkeit der vom Beklagten verfolgten Rechtsauffassung zu zweifeln.“
Abgesehen davon, dass diese Bemerkung „obiter dictum“ ist, stellt sich die Frage, ob der BGH an dieser Stelle nicht doch etwas zu apodiktisch vorgeht. Ein Urteil stellt eine Zäsur dar. Die Durchführung der Rechtsmittelinstanz bedeutet für den Anwalt einen neuen Auftrag. Auch wenn dem Mandanten ein Rechtsmittel angeraten wird, steht ihm in der Regel deutlich genug vor Augen, dass die Entscheidung in der nächsten Instanz nicht unbedingt anders ausfallen muss. Üblicherweise kommt kein Anwalt auf die Idee, den Erfolg des Rechtsmittels zu garantieren. Auch wenn er selbst die Rechtsauffassung des Gerichts nicht teilt, wird er im Regelfall auch über Risiken des Rechtsmittels aufklären, selbst wenn er sie pflichtwidrig als zu gering darstellt.
In einer solchen Situation sollte man dem Mandanten ausreichende Kenntnisse zusprechen, die ein Anlaufen der Verjährung zumindest möglich machen. Entsprechende Reaktionen und Vorkehrungen hinsichtlich seines Schadenersatzanspruches sind ihm nun zumutbar. Das Vertrauensverhältnis würde nicht stärker belastet als bei Anwendung des alten Rechts nach den zur Vermeidung der Sekundärverjährung geschuldeten Hinweisen. Auch in dieser Situation musste sich der Mandant überlegen, ob er nun zusätzlich anderweitigen Rechtsrat einholt, ob er gleichzeitig das laufende Mandat sofort beendet oder ob er zunächst noch zuwartet. Immerhin bleiben ihm jetzt nach neuem Recht noch volle drei Jahre zuzüglich des restlichen angelaufenen Jahres bis zum Eintritt der Verjährung, und zwar auch dann, wenn der Schadeneintritt vielleicht schon fünf Jahre zurückliegt. Damit würde eine Besserstellung des Mandanten, wie es zweifellos Intention des Gesetzgebers bei der Anpassung der Verjährungsvorschriften war, durchaus erreicht. Er soll seinen Anspruch jedenfalls nicht verlieren, bevor Pflichtverletzung und Schaden für ihn erkennbar werden. Das ist gewährleistet, wenn diese Erkennbarkeit zum Beispiel durch ein Urteil vermittelt wird.
Einzelfälle, in denen aus bestimmten Gründen ausnahmsweise doch die notwendigen Kenntnisse fehlen, sind denkbar. Aber: Macht der Mandant einen solchen Ausnahmefall geltend, sollte man ihm dafür die Darlegungs- und Beweislast auferlegen. Notwendige Differenzierungen wären möglich. Welche Kenntnisse ein Individuum hat, hängt von dessen Verarbeitungsmöglichkeiten ab. Und diese wiederum sind je nach Vorkenntnissen unterschiedlich. Natürlich darf also auch der juristisch vorgebildete Mandant darauf vertrauen, dass sein Anwalt ihn richtig berät. Selbstverständlich wird man ihm auch keine „besseren Kenntnisse“ unterstellen dürfen als sie der Berater selbst offenbart. Die Tätigkeit des Anwalts eigenständig zu überprüfen, obliegt keinem Mandanten, gleichgültig welche Vorbildung er besitzt. Dennoch wird man erfahrenen und juristisch vorgebildeten Mandanten wesentlich früher die Kenntnis von einer Pflichtverletzung ihres Anwalts zuordnen dürfen als einem völlig unbedarften und unerfahrenen Laien.
Ob der BGH bei entsprechenden Konstellationen den Anwälten wenigstens noch diese Türen öffnet, bleibt abzuwarten. Noch ist jedenfalls nicht entschieden, ob und inwieweit dem Anwalt Möglichkeiten verbleiben, die Verjährungsfrist durch eigenes Agieren während des Mandats anlaufen zu lassen. Eine offene und ausführliche Belehrung zur rechtlichen Situation – auch hinsichtlich eines möglichen Regressanspruchs – sollte dem Mandanten zweifellos die notwendige Kenntnis verschaffen. Wer weiß, dass die Dinge so liegen, dass ihm Schadenersatzansprüche zustehen können, dem kann man zumuten, sich binnen weiterer drei Jahre zu entscheiden, ob er zumindest verjährungshemmende Maßnahmen einleiten möchte. Ausreichen würde schon eine entsprechende Erklärung des Anwalts, die zur Hemmung bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage zum Beispiel durch höhere Instanzen führen kann. Es ist nicht recht einzusehen, dass der Gläubiger die Verjährung hinauszögern kann, allein indem er das Mandat fortsetzt.
Andernfalls würde die mangelnde Kenntnis zur bloßen Fiktion mutieren, nur weil man dem Mandanten zugesteht, ein wie auch immer geartetes Vorgehen gegen den eigenen Anwalt im laufenden Mandat sei unzumutbar. Ließe man hingegen die Kenntniserteilung durch ausreichende Belehrung – sei es nun durch den Anwalt selbst oder von dritter Seite her – zu, würde man faktisch eine Situation schaffen, die der Belehrung zur Vermeidung der Sekundärverjährung nach altem Recht ähnlich wäre. Anders als zum früheren Recht würde aber mit solchen Hinweisen erst das Anlaufen der dreijährigen Frist zum Beginn des Folgejahres bewirkt, während eine die Sekundärverjährung nach früherem Recht hindernde Belehrung dem Mandanten bisweilen nur noch eine recht kurze Spanne Zeit übrig ließ. Dem Mandanten bliebe eine faire Chance, seine Rechte zu behaupten.
Wird das Mandat fortgesetzt und muss der Mandant sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt die Verjährung seiner Regressansprüche befürchten, lassen sich verjährungshemmende Abreden treffen. Das ist schon bislang und gerade zum alten Recht tägliche Praxis gewesen. Der Vorteil für die Berater bestünde darin, dass zumindest nach Rechtskraft einer ungünstigen Entscheidung nach absehbarer Zeit auch die Regressverjährung eintreten kann, während sie nach derzeitiger Rechtsprechung des BGH faktisch überhaupt erst mit Beendigung der Zusammenarbeit anlaufen kann. Umgekehrt muss selbstverständlich auch ein Anwaltswechsel nicht zwingend die notwendigen Kenntnisse vermitteln; es kommt auf die Beratung durch den neuen Anwalts an.
V. Fazit
Der BGH rückt zu Recht in weiten Bereichen davon ab, schon bei der schlichten Kenntnis der reinen äußeren Fakten von Kenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB auszugehen, sondern konzediert dem Gläubiger, dass eine rechtliche Bewertung zwingend erforderlich ist, will er auch seine Gläubigerstellung erkennen. Darauf kommt es an. Das Wissen, das für die rechtliche Bewertung von Bedeutung ist, kann aber auch von dritter Seite vermittelt werden, auch wenn das Mandat zum potentiellen Regressschuldner noch besteht. Es kann in Ausnahmefällen durch einseitige anderweitige Beratung „überlagert“ werden. Dafür trägt allerdings dann der Mandant im Regressprozess eine erhöhte Darlegungslast, wenn er der Verjährungseinrede mit Erfolg begegnen will.