Nachfolgend ein Beitrag vom 26.4.2017 von Kohte, jurisPR-ArbR 17/2017 Anm. 2

Orientierungssatz zur Anmerkung

Die Aufsichtsbehörde kann Anordnungen nach § 17 Abs. 4 ArbZG erlassen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass im untersuchten Betrieb Defizite im Arbeitszeitschutz bestehen.

A. Problemstellung

Die Entgrenzung der Arbeitszeit gehört seit einiger Zeit zu den aktuellen Themen, die regelmäßig diskutiert werden (zuletzt Wiebauer, NZA 2016, 1430). Dabei ist zu unterscheiden zwischen der äußeren und inneren Entgrenzung der Arbeitszeit; einerseits wird der Acht-Stunden-Tag nicht selten überschritten, zum anderen werden die Pausenvorschriften nach § 4 ArbZG in einem beachtlichen Umfang nicht eingehalten (dazu Kohte, NZA 2015, 1417, 1422). Bereits in einer 2012 von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) herausgegeben Untersuchung (Lohmann/Haislah, Stressreport 2012, S. 51) ergab eine repräsentative Umfrage, dass an Arbeitstagen mit mehr als sechs Stunden bei 25% der Beschäftigten die gesetzlich vorgeschriebene Pause „ausfällt“. Die wichtigsten Gründe waren zu hoher Arbeitsanfall und fehlende Pausenorganisation. In einer neuen und umfangreichen Untersuchung der BAuA, dem Arbeitszeitreport 2016 (S. 30) ist dieses Ergebnis bestätigt und präzisiert worden. Bei einer Wochenarbeitszeit von 40 bis 47 Stunden wurde von 27% der Beschäftigten (n = 17.841) ein „häufiger Pausenausfall“ berichtet. Da die Pflicht zur Gewährung der Pausen nach § 4 ArbZG eine öffentlich-rechtliche Pflicht ist, ist es geboten, dass auch die Aufsichtsbehörden auf diese Entwicklung reagieren können. Der vorliegende Fall gibt dazu ein anschauliches Beispiel.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin betreibt Parfümerien an mindestens acht Standorten. Während des Rechtsstreites wurde unstreitig, dass Vertreter der Gewerbeaufsicht im Mai 2015 zwei Filialen aufgesucht und auf die Einhaltung des Arbeitszeitrechts kontrolliert hatten. In der ersten Filiale wurden zwei Angestellte angetroffen, die auf die Frage, wann oder wie lange sie in die Pause gehen könnten, keine Antwort wussten. In der zweiten Filiale war nur eine Angestellte tätig; auch diese konnte keine substantiellen Hinweise geben, wie ihre konkrete Pausenregelung organisiert sei. Für die erste Filiale trug die Klägerin vor, dass es eine schriftliche Anweisung der Geschäftsleitung gebe, wonach die Beschäftigten nach maximal sechs Stunden durchgehender Arbeitszeit eine Pause von 30 Minuten einzulegen hätten. Weitere Details hätten die Filialleiterinnen festzulegen. Die Klägerin stellte allerdings nicht unter Beweis, dass den Beschäftigten diese Regel bekannt war. Für die zweite Filiale trug die Klägerin vor, dass die Angestellte berechtigt sei, den Laden zu schließen und ihre Pause wahrzunehmen. Im Übrigen sei in der Filiale eine freiberufliche Kosmetikerin tätig, welche die Angestellte dann vertreten könne. Wiederum erfolgte für diesen Vortrag kein Beweisangebot, vor allem wurde nicht dargelegt, wie mit einer freiberuflichen Kosmetikerin, die in ihrer Arbeitszeitgestaltung frei ist, verlässliche Absprachen zur Realisierung der jeden Tag erforderlichen Pause erfolgen konnten.
Die Gewerbeaufsicht ging daher von der Notwendigkeit einer vertiefenden Überwachung der Einhaltung von § 4 ArbZG aus; das Verwaltungsgericht folgte dieser Annahme. Als Rechtsfolge ordnete die Gewerbeaufsicht an, dass für drei Filialen für einen Zeitraum von zwei Monaten die Arbeitszeitnachweise, sonstige die Arbeitszeit betreffende Auszeichnungen wie z.B. Stundenlisten, Angaben über regelmäßige tägliche Arbeitszeiten und die Pausenregelungen vorzulegen seien. Schließlich wurde die Klägerin nach § 17 Abs. 4 Satz 1 ArbZG verpflichtet, Angaben zur arbeitszeitrechtlich verantwortlichen Person für die Betriebsstätte vorzulegen.
Zur Begründung der Anordnung hatte die Behörde ausgeführt, dass die Klägerin als Arbeitgeberin verpflichtet sei, Arbeitszeiten nach § 16 Abs. 2 ArbZG aufzuzeichnen und dass angesichts der unklaren betrieblichen Situation konkrete Aufzeichnungen vorzulegen seien. Diese Anordnung werde auf § 17 Abs. 4 Satz 2 ArbZG gestützt. Durch Arbeitszeiten ohne Ruhepausen oder mit zu geringer Dauer der Ruhepausen seien die Beschäftigten in ihrer Gesundheit gefährdet. Zur Abwendung einer möglichen Gesundheitsgefahr sei die Überprüfung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit erforderlich.
Die Klägerin sah in dieser Anordnung eine unzulässige Ausforschung (dazu OVG Berlin v. 18.03.1982 – 2 B 24.79 – GewArch 1982, 279). Außerdem rügte sie eine unzureichende Aktenführung sowie eine nicht rechtzeitige Anhörung.
Das VG Ansbach hat die Klage abgewiesen. In formeller Hinsicht sei zwar keine rechtzeitige Anhörung erfolgt, doch sei diese durch die ausführlichen Stellungnahmen beider Seiten im Gerichtsverfahren geheilt worden. Defizite in der Aktenführung seien hier nicht erheblich, da der wesentliche Sachverhalt unstreitig geworden sei. Dieser Sachverhalt trage auch die Anordnungen nach § 17 Abs. 4 ArbZG. Die Verhältnismäßigkeit sei gewahrt, denn die Aufzeichnungen würden nur für einen begrenzten Zeitraum von zwei Monaten und nur für einen Teil der Filialen, nämlich drei Filialen, verlangt. Damit sei auch eine hinreichende Ermessensausübung gewährleistet; für das Entschließungsermessen reichten die hier nachgewiesenen Anhaltspunkte der Verletzung von § 4 ArbZG aus.

C. Kontext der Entscheidung

Der Sachverhalt dokumentiert anschaulich, dass § 4 ArbZG eine Organisationspflicht des Arbeitgebers voraussetzt (ausführlich Maier, Pausengestaltung als Organisationspflicht, 2012, S. 148 ff.). Die Lage der Pausen muss „im Voraus feststehen“. Spätestens zum Beginn der Arbeit muss den Beschäftigten bekannt sein, wann und wie lange sie ihre Pause nehmen könnten (BAG, Urt. v. 25.02.2015 – 1 AZR 642/13 – NZA 2015, 442, 444, ebenso BAG, Urt. v. 25.02.2015 – 5 AZR 886/12 – NZA 2015, 494, 496; Reim in: HaKo-ArbSchR, § 4 ArbZG Rn. 19 ff.; Jerchel in: HK-ArbZR, § 4 ArbZG Rn. 23; Neumann/Biebl, ArbZG 16. Aufl. 2013, § 4 Rn. 3). Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Pause „nicht in Vergessenheit gerät“ (so zutreffend und anschaulich der Neunte Senat des BAG, Urt. v. 13.10.2009 – 9 AZR 139/08 – NZA-RR 2010, 623, 627). Gerade für Filialen, in denen nur eine Person beschäftigt ist, bedarf es einer hinreichend klaren Regelung, wie eine regelmäßige Pause gesichert werden kann. Der Vortrag, dass eine verlässliche Pausenregelung mithilfe einer freiberuflichen Kosmetikerin möglich sei, dokumentierte bereits eine auffällige Geringschätzung des Arbeitszeitrechts, denn freiberufliche Personen sind frei in der Wahl ihrer Arbeitszeit, so dass mit Ihnen eine verlässliche und stabile Pausenregelung schwerlich organisiert werden kann. Auch der Vortrag, dass es eine Pausenregelung bei den Akten gibt, ist nicht ausreichend: Die Pause kann nur in Person genommen werden, so dass allen Beschäftigten die Pausenregelung effektiv und rechtzeitig bekannt sein muss. Pausengewährung bedeutet weiter, dass auch die organisatorischen Voraussetzungen einer Pause vorliegen; die formelle Gestattung der Pause reicht nicht aus, wenn es den Beschäftigten tatsächlich nicht möglich ist, die Pause zu nehmen (Schliemann, ArbZG, 3. Aufl. 2017, § 4 Rn. 11).
Aufzeichnungspflichten gehören zu den bekannten Regelungsmöglichkeiten im Arbeitszeitrecht (zur Bedeutung solcher Aufzeichnungen im Prozess um die Bezahlung von Überstunden zuletzt BAG, Urt. v. 21.12.2016 – 5 AZR 362/16). Für bestimmte typischerweise gesundheitlich problematische Arbeitszeitpraktiken schreibt § 16 Abs. 2 ArbZG eine regelmäßige Aufzeichnungspflicht vor (Kohte in: HK-ArbSchR, § 16 ArbZG Rn.10; Buschmann/Ulber, ArbZG, 8. Aufl. 2015, § 16 Rn. 5 ff.); zur Durchsetzung gibt § 17 Abs. 4 Satz 2 ArbZG die Ermächtigung, konkrete Arbeitszeitnachweise zu verlangen. Solange von dieser Möglichkeit in einem limitierten Umfang Gebrauch gemacht wird, handelt es sich bei solchen für die Überwachung des ArbZG erforderlichen Auskünften nicht um eine unzulässige Ausforschung, wie das Verwaltungsgericht in Abgrenzung von einer Entscheidung des OVG Berlin (GewArch 1982, 289) zutreffend dargelegt hat (dazu Arndt-Zygar/Busch in: HK-ArbSchR, § 17 ArbZG Rn 13; Neumann/Biebl, ArbZG, § 17 Rn. 3). Die weiteren konkreten Anordnungen, die hier verlangt worden sind, flankieren diese Regelung und sind hier von § 17 Abs. 4 Satz 1 ArbZG gedeckt (dazu Anzinger/Koberski, ArbZG, 4. Aufl. 2013, § 17 Rn. 19 ff.; Sitzenfrei in: HK-ArbZR, 2014, § 17 ArbZG Rn. 14).
Zutreffend hat die Behörde bei diesem offenen Sachverhalt (noch) nicht von der Anordnung nach § 17 Abs. 2 ArbZG Gebrauch gemacht. Mit diesen Anordnungen wird – oft klarstellend – die Einhaltung konkreter Arbeitszeitpflichten (z.B. Gewährung „im Voraus festgelegter“ Pausen, Einhaltung von Ruhezeiten und Beachtung der Arbeitszeitgrenzen nach § 3 ArbZG) verlangt (Arndt-Zygar/Busch in HaKo-ArbSchR, § 17 ArbZG Rn. 35; VG München, Urt. v. 19.03.2012 – M 16 K 11.4058, dazu Kohte, jurisPRArbR 15/2013, Anm. 6). Die Auskünfte nach § 17 Abs. 4 ArbZG erfolgen typischerweise im Vorfeld solcher Anordnungen; sie können dazu führen, dass diese entweder durch innerbetriebliche Korrekturen überflüssig werden oder zielgenauer erfolgen.
In diesem Verfahren stellte sich außerdem ein klassisches verwaltungsverfahrensrechtliches Problem: Kann die fehlende Anhörung vor Erlass des Verwaltungsakts auch noch im Gerichtsverfahren geheilt werden? Das VG Ansbach bejaht diese Möglichkeit, wenn die Behörde im Verfahren rechtzeitig ihre Feststellungen und Ermessenserwägungen offenlegt, so dass der betroffene Arbeitgeber dazu noch rechtliches Gehör erlangt und dessen Äußerungen von der Behörde berücksichtigt werden können. In der Gerichtspraxis – auch zu § 17 ArbZG – ist diese Frage hinreichend geklärt (z.B. VGH München, Beschl. v. 26.10.2011 – 22 CS 11.1989 – PflR 2012, 596; Kugele, VwVfG, 2014, § 45 Rn. 10); die Heilung wird wesentlich erleichtert, wenn es – anders als im vorliegenden Fall – einen rechtzeitig erstellten Besichtigungsbericht gibt, zu dem Stellung genommen werden kann.

D. Auswirkungen für die Praxis

Nicht nur die äußere, sondern auch die innere Entgrenzung der Arbeitszeit gehört zu den aktuellen Problemen des Arbeitszeitrechts. Es ist daher geboten, dass die Organisationspflicht des § 4 ArbZG effektiv umgesetzt wird (Kohte, NZA 2015, 1417, 1422). In Betrieben mit Betriebsrat ist die Konkretisierung im Rahmen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu regeln; in anderen Betrieben bedarf es hierzu einer Anordnung durch den Arbeitgeber, die hinreichend konkret, transparent und bekannt ist und in der Realität auch wahrgenommen wird.
In den letzten Jahren ist parallel zum Personalabbau in der staatlichen Aufsicht auch die Zahl von Anordnungen im Arbeitszeitrecht deutlich zurückgegangen, wie sich aus den Jahresberichten nach § 25 SGB VII ergibt (zuletzt BT-Drs. 18/10620, S. 139 ff., Rückgang der Anordnungen im „sozialen Arbeitsschutz“ in den letzten drei Jahren um mehr als 20%, antizyklischer Anstieg solcher Anordnungen allerdings in NRW, Hamburg, Brandenburg und Sachsen-Anhalt) . Im Arbeitszeitrecht zeigen sich die negativen Konsequenzen des Rückgangs der Stellenbesetzung in der Aufsicht (dazu ausführlich Kohte, WSI-Mitteilungen 2015, 170) am deutlichsten, weil diese Anordnungen durch die Aufsichtsbeamten der Träger der Unfallversicherung nicht kompensiert werden können. Das ILO-Übereinkommen 81, das die Bundesrepublik bereits vor 60 Jahren ratifiziert hat, verlangt von den Staaten, dass eine hinreichende Zahl von Aufsichtsbeamten bestellt wird. Eine Empfehlung der ILO hat dazu einen Schlüssel von 1:10.000 empfohlen, dem 2014 das Europäische Parlament zugestimmt hat. Der Sachverständigenausschuss der Europäischen Sozialcharta hat festgestellt, dass die Anforderungen, die Art. 3 der ESC an eine effektive Aufsicht stellt, in Deutschland nicht mehr gewährleistet sind. Dies ist auf der Ebene der einzelnen Bundesländer zu korrigieren; durch Bundesgesetz ist jedoch in § 21 ArbSchG, § 17 ArbZG eine Anforderung an die zu bestellende Zahl der Aufsichtsbeamten zu stellen, die der Norm des § 18 SGB VII entspricht.