Nachfolgend ein Beitrag vom 13.6.2018 von Gutt, jurisPR-VerkR 12/2018 Anm. 3

Orientierungssatz

Bei einem scharfen Abbremsen zum Zwecke der Disziplinierung/Verkehrserziehung des Nachfolgenden ergibt sich eine volle Haftung des Bremsers, da ein solcher Akt der Selbstjustiz im Straßenverkehr den in § 1 StVO verankerten Geboten der Vorsicht und Rücksichtnahme in schwerwiegender Weise widerspricht (vgl. OLG München, Urt. v. 22.02.2008 – 10 U 4455/07, LG Mönchengladbach, Urt. v. 16.04.2002 – 5 S 86/01).

A. Problemstellung

Das LG Essen hatte über die Haftung bei einem Auffahrunfall infolge scharfen Abbremsens zum Zweck der Disziplinierung des Nachfolgenden zu entscheiden.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Zwischen dem Kläger und dem Beklagten war es zu einem Verkehrsunfall gekommen, bei dem der Beklagte unstreitig auf das klägerische Fahrzeug auffuhr und dieses beschädigte. Das LG Essen hat trotz dieser Konstellation nicht die volle Haftung bei dem Beklagten gesehen.

Ob hier aufgrund des Auffahrens ein Anscheinsbeweis zulasten der Beklagten etwa dafür bestehe, dass entweder Sicherheitsabstand nicht eingehalten (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVO) oder die Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst gewesen sei (§ 3 Abs. 1 StVO) oder Unaufmerksamkeit vorgelegen habe (§ 1 StVO), könne dahinstehen. Denn das Verhalten des Klägers habe als Akt der Selbstjustiz im Straßenverkehr zur Folge, dass seine Haftung selbst dann mit 100% zu bewerten sei, wenn der Auffahrende den grundsätzlich gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht entkräften könne. Unabhängig davon sei auch die Grundvoraussetzung für den Beweis eines Verschuldens nach Anscheinsregeln, das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs, nicht gegeben. Bei Berücksichtigung aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts liege hier aufgrund des Verhaltens des Klägers kein typischer Geschehensablauf vor; die Beklagten hätten damit den gegen sie sprechenden Anschein widerlegt.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe auf Grundlage aller Umstände zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger plötzlich und ohne verkehrsbedingten Grund sein Fahrzeug absichtlich stark abgebremst habe, um den Beklagten zu disziplinieren. Dies ergebe sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten sowie den Zeugenaussagen. Der Sachverständige sei nachvollziehbar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger gebremst habe. Hierfür habe der Kläger keinen Grund vorgebracht. Das Gericht sei auch davon überzeugt, dass der Kläger sein Fahrzeug abrupt zu dem Zweck abgebremst habe, den Beklagten zu disziplinieren und sich für die vorangegangenen Handlungen zu rächen.

Dies ergebe sich aus dem Geschehen unmittelbar vor dem Verkehrsunfall: Nach eigenem Vortrag des Klägers habe dieser das Einscheren des Beklagten moniert, das ihn zu einem Abbremsen gezwungen habe, mit dem Betätigen der Lichthupe. Die daraufhin vom Beklagten ausgesprochene Beschimpfung bzw. Provokation habe den Kläger dazu veranlasst, seinen PKW vor das vom Beklagten geführte Fahrzeug zu setzen und auszusteigen, um eine verbale Auseinandersetzung mit ihm zu führen. Auch hierdurch habe sich gezeigt, dass der Kläger sich vom Beklagten habe provozieren lassen.
Dies habe nach Überzeugung des Gerichts dazu geführt, dass eine stark emotionale Situation vorgelegen habe, in deren Verlauf der Kläger den Beklagten ausgebremst habe, um ihn zu disziplinieren und sich zu rächen. Ein anderer Grund für das Bremsmanöver, insbesondere ein verkehrsbedingter Grund, sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Er sei bei realistischer Betrachtungsweise auch derart fernliegend, dass ernsthafte Zweifel an der Motivationslage des Klägers, die zu einer anderen Tatsachenbewertung führen könnten, nicht bestünden. Die Betriebsgefahr des klägerischen PKW sei bereits aufgrund des Bremsmanövers des Klägers zu Disziplinierungszwecken maximal erhöht.

Dieses mindestens als grob fahrlässig zu bewertende Verhalten des Klägers führe dazu, dass jegliche (Mit-)Haftung des Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr ausgeschlossen sei. Bei einem scharfen Abbremsen zum Zwecke der Disziplinierung/Verkehrserziehung des Nachfolgenden ergebe sich eine volle Haftung des Bremsers, da ein solcher Akt der Selbstjustiz im Straßenverkehr den in § 1 StVO verankerten Geboten der Vorsicht und Rücksichtnahme in schwerwiegender Weise widerspreche. Der Kläger habe darüber hinaus gegen die §§ 4 Abs. 1 Satz 2, 1 Abs. 2 StVO verstoßen, weil er ohne zwingenden Grund stark abgebremst habe.

C. Kontext der Entscheidung

Bei einem klassischen Auffahrunfall geht man typischerweise von einem Verstoß des Auffahrenden aus, was im Wege des Anscheinsbeweis vermutet wird. Das gilt aber nicht immer. Von einem Anscheinsbeweis kann in der Regel dann ausgegangen werden, wenn nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig von einem bestimmten Ereignis auf eine bestimmte Folge geschlossen werden und umgekehrt von einem bestimmten Ergebnis auf einen bestimmten zugrunde liegenden Ablauf (BGH, Urt. v. 03.07.1990 – VI ZR 239/89 – NZV 1990, 386) geschlossen werden kann, und zwar sowohl hinsichtlich des Ursachenzusammenhanges sowie hinsichtlich des Verschuldens (Staab, DAR 2015, 241). Ein Anscheinsbeweis wird also nur angenommen, wenn feststehende Tatsachen nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Erfolgseintritt hinweisen. Es muss ein typischer Geschehensablauf feststehen, der nach der Erfahrung des Lebens den Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertigt (BGH, Urt. v. 13.02.1996 – VI ZR 126/95 – NJW 1996, 1405; OLG Hamm, Urt. v. 23.09.2003 – 9 U 70/03 – NJW-RR 2004, 172) und dass die besonderen individuellen Umstände in ihrer Bedeutung zurücktreten (von Pentz, ZfSch 2012, 64). Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weshalb er nur anzuwenden ist, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung dahingehend typisch ist, dass derjenige schuldhaft gehandelt hat, gegen den der Anscheinsbeweis angewendet wird (BGH, Urt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10).

Bei der Prüfung, ob ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der die Grundsätze des Anscheinsbeweises eingreifen lässt, sind sämtliche bekannten Umstände eines Falles in die Bewertung einzubeziehen (BGH, Urt. v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84 – VersR 1986, 343, 344; BGH, Urt. v. 19.03.1996 – VI ZR 380/94 – VersR 1996, 772; BGH, Urt. v. 04.12.2000 – II ZR 293/99 – VersR 2001, 457). Es darf nicht nur der Sachverhaltskern berücksichtigt werden. Vielmehr ist eine Gesamtschau des Geschehensablaufs geboten (BGH, Urt. v. 19.03.1996 – VI ZR 380/94). Ob ein Sachverhalt im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (BGH, Urt. v. 19.03.1996 – VI ZR 380/94). Dementsprechend muss bereits bei der Bestimmung des typischen Lebenssachverhalts geprüft werden, ob Anhaltspunkte für andere Ursachen als die, die der Geschädigte vorgetragen hat, bestehen (BGH, Urt. v. 19.01.2010 – VI ZR 33/09).
Derjenige, gegen den der Beweis des ersten Anscheins spricht, kann diesen „erschüttern“, denn der Anscheinsbeweis erbringt nur vorläufigen Beweis (von Pentz, ZfSch 2012, 64; Lepa, NZV 1992, 129, 131). Dies gelingt dann, wenn Umstände bewiesen sind, die einen anderen als den typischen Geschehensablauf ernstlich als möglich erscheinen lassen (BGH, Urt. v. 03.07.1990 – VI ZR 239/89 – NZV 1990, 386; OLG Hamm, Urt. v. 23.09.2003 – 9 U 70/03 – VersR 2005, 1303). Das bedeutet, dass der schlichte Gegenbeweis genügt (von Pentz, ZfSch 2012, 64). Konsequenz hieraus ist, dass die beweisbelastete Partei die Anspruchsvoraussetzungen dann komplett beweisen muss, sich also nicht mehr auf den Anscheinsbeweis berufen kann.
So liegt der Fall hier. Nach der nicht zu beanstandenden Beweisaufnahme kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger grundlos bremste und so den Beklagten disziplinieren wollte. Damit liegt schon kein typischer Fall vor, bei dem der Auffahrende regelmäßig Sicherheitsabstand unterschreitet oder zu schnell fährt. Denn mit einem grundlosen Bremsen muss der nachfolgende Verkehr (in der Regel) nicht rechnen, § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO. Folgerichtig spricht schon nicht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Beklagten.

Jedenfalls aber könnte dieser den Anscheinsbeweis nach Maßgabe der obigen rechtlichen Ausführungen erschüttern mit der Folge, dass eine „normale“ Haftungsabwägung vorzunehmen ist. Nicht zu beanstanden ist, dass das Gericht von einer vollen Haftung des Klägers aufgrund seiner versuchten Disziplinierung ausgeht. In einer solchen Konstellation tritt nicht nur die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs, sondern auch ein solches – hier mögliches, jedenfalls aber nicht gravierendes, weit untergeordnetes – Verschulden der Beklagten vollständig hinter dem schwerwiegenden verkehrswidrigen Verhalten des Klägers zurück (vgl. LG Mönchengladbach, Urt. v. 16.04.2002 – 5 S 86/01 – NJW 2002, 2186).

Bei einem scharfen Abbremsen zum Zwecke der Disziplinierung/Verkehrserziehung des Nachfolgenden ergibt sich konsequenterweise eine volle Haftung des Bremsers, da ein solcher Akt der Selbstjustiz im Straßenverkehr den in § 1 StVO verankerten Geboten der Vorsicht und Rücksichtnahme in schwerwiegender Weise widerspricht (vgl. OLG München, Urt. v. 22.02.2008 – 10 U 4455/07 – NJW-Spezial 2008, 393; LG Mönchengladbach, a.a.O.).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung zeigt sehr schön auf, dass auch die Annahme eines Anscheinsbeweises bestimmten Voraussetzungen unterliegt. Es gilt, diese herauszuarbeiten und darzulegen. Ein pauschaler Verweis genügt indes nicht.

Abbremsen zur Disziplinierung
Andrea KahleRechtsanwältin

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