Der Fakten-Check zu einer modernen Legende: Rechtsanwalt und Zweitberuf
Prof. Dr. Matthias Kilian, Köln
Der Autor ist Direktor des Soldan Instituts. Er lehrt und forscht an der Universität zu Köln.
Im Rahmen der Überprüfung einiger moderner Mythen der Anwaltschaft (siehe bereits AnwBl 2015, 398; 2015, 478) geht das Soldan Institut in seinem „urban legend“-Check in diesem Monat dem Bild des „taxifahrenden Rechtsanwalts“ auf den Grund. Es steht sinnbildlich für einen Teil der Anwaltschaft, der aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen sein soll, sich zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen, weil die Anwaltstätigkeit nicht auskömmlich ist. Der Beitrag zeigt, dass junge Anwältinnen und Anwälte durchaus Nebentätigkeiten ausüben – die Existenzsicherung ist hierfür allerdings ein eher nachrangiger Grund.
I. Einleitung
Wer hat sie nicht schon einmal gehört – die Geschichte vom taxifahrenden Rechtsanwalt, der seine Arbeitszeit unfreiwillig nicht ausschließlich in seiner Kanzlei, sondern auch hinter dem Lenkrad eines Taxis verbringt, weil die Tätigkeit als Rechtsanwalt das Auskommen nicht hinreichend sichert. Besonders häufig taucht das Bild vom taxifahrenden Rechtsanwalt, dies zeigt die Eingabe als Suchbegriff in eine ungenannt bleiben wollende Internetsuchmaschine, in Vorträgen oder Interviews von Funktionären, Blogbeiträgen von Anwaltskollegen oder Zeitungsartikeln zum Anwaltsmarkt auf. Jenseits von solchen Erzählungen ist der taxifahrende Rechtsanwalt freilich eine elusive Gestalt: Veröffentlichte anwaltsgerichtliche Rechtsprechung, die die (mittlerweile zweifelsfreie) Vereinbarkeit einer Paralleltätigkeit im Transportgewerbe mit § 7 Nr. 8 BRAO ausdrücklich hätte klarstellen müssen, ist in all‘ denen Jahren, in denen die Geschichte vom taxifahrenden Rechtsanwalt erzählt worden ist, nicht bekannt geworden. Man berichtet sich sogar von nicht nur einem Feldversuch von Anwaltsfunktionären, die bei dienstlicher Nutzung eines Taxis ihren jeweiligen Fahrer dazu einvernommen haben sollen, ob man im Kollegenkreis jemanden kenne, der über eine Zulassung als Rechtsanwalt verfüge. Erfolgreich gewesen sein sollen diese Feldforschungen nicht.
Die offensichtlich gut erfundene Geschichte vom aus Not taxifahrenden Rechtsanwalt ist also wohl mehr ein anschaulich gezeichnetes Bild dafür, dass es Rechtsanwälten wirtschaftlich so schlecht geht, dass sie eine weitere Berufstätigkeit ausüben müssen, um ihr Auskommen zu sichern. Das Steuern eines Taxis ist hierbei nur einer von einer Vielzahl bisweilen interessanter Berufe, die Rechtsanwälte im Zweitberuf ausüben. Sie reichen vom Außendienstmitarbeiter über den Weinhändler bis hin zum Arzt.
Losgelöst von der im Nachfolgenden zu klärenden Frage, ob die Behauptung der verbreiteten Ausübung von Zweitberufen als Überlebensstrategie zutreffend oder eine „urban legend“ ist, belegt sie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein derjenigen, die sie formulieren: Immerhin unterstellt sie, dass jeder Rechtsanwalt sich nichts Schöneres vorstellen kann, als ausschließlich als Rechtsanwalt tätig zu sein und jede zusätzliche Tätigkeit neben der Anwaltstätigkeit nicht Lust sein kann, sondern Last sein muss. Dies folgt bereits aus der Terminologie, unterstellt doch die Inbezugnahme des parallel zur Anwaltstätigkeit ausgeübten Berufs als „Zweitberuf“, dass die tatsächliche oder intendierte Haupttätigkeit die Anwaltstätigkeit ist.
Die Studie „Junge Anwaltschaft: Ausbildung, Berufseinstieg, Berufskarrieren“ des Soldan Instituts hat Gelegenheit gegeben, der Frage, wie viele Rechtsanwälte neben der Anwaltstätigkeit einen weiteren Beruf ausüben und aus welchem Grund dies erfolgt, empirisch nachzugehen. Junge Anwälte – konkret: jene der Zulassungsjahrgänge 2004 bis 2010 – sind ein besonders naheliegender Anknüpfungspunkt für eine solche Untersuchung, soll es doch insbesondere Berufseinsteigern schwer fallen, sich in den ersten Jahren der Berufstätigkeit auf das Anwaltsdasein beschränken zu können. Die Berufseinsteiger wurden daher gefragt, ob (hierzu unter II.) und warum (hierzu unter III.) sie einem Zweitberuf nachgehen. Besonders interessant ist naturgemäß, ob ein bestimmter Typus Anwalt besonders häufig einen Zweitberuf ausübt; die Erhebung umfangreicher sozio-demographischer Daten erlaubt eine Aussage auch hierzu (unten IV.) Da die Frage nach zweitberuflichen Tätigkeiten auch in früheren Studien mit jungen Anwälten gestellt wurde, ist zudem eine Langzeitbetrachtung des Phänomens Zweitberuf möglich (hierzu unter V.).
Abb. 1: Ausübung einer weiteren Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf (ohne Syndizi)
II. Ausübung einer Nebentätigkeit neben der Anwaltstätigkeit
19 Prozent der befragten jungen Rechtsanwälte geben an, neben der anwaltlichen Tätigkeit einer weiteren vergüteten Tätigkeit nachzugehen. Mit 81 Prozent widmet sich allerdings die deutliche Mehrheit der jungen Rechtsanwälte ausschließlich dem Anwaltsberuf.
Die mit 43 Prozent aller Nennungen mit Abstand häufigste Nebentätigkeit ist eine solche als Dozent oder Referent. Diese Tätigkeit hat einen unmittelbaren fachlichen Bezug zu der hauptberuflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt. Alle weiteren Nebentätigkeiten wurden, soweit sie sich kategorisieren ließen, mit einem Anteil von weniger als 10 Prozent genannt.
Abb. 2: Art der Nebentätigkeit
Abb. 3: Gründe für die Ausübung einer Nebentätigkeit
Auf niedrigem Niveau häufigere Nennungen erfuhren Tätigkeiten als Geschäftsführer beziehungsweise Unternehmer, gesetzlicher Berufsbetreuer, als „Berater“, Steuerberater oder Autor.
III. Motive für Ausübung einer Nebentätigkeit
Die Motive, weshalb Rechtanwälte eine weitere Tätigkeit neben ihrem Anwaltsberuf ausüben, sind unterschiedlich und beruhen nicht ausschließlich auf finanziellen Erwägungen: Als häufigster Grund wird zu 62 Prozent angegeben, dass die Nebentätigkeit für die anwaltliche Tätigkeit Vorteile bringt. Die Nebentätigkeit ist hier offensichtlich von dem Gedanken des Networkings und der Verankerung in Empfehlungsnetzwerken getragen. Ebenfalls 64 Prozent geben an, nicht ausschließlich anwaltlich tätig sein zu wollen beziehungsweise die Nebentätigkeit aus Spaß, dem Wunsch nach Abwechslung oder aus Interesse an dieser auszuüben. Für 30 Prozent sind unmittelbare wirtschaftliche Erwägungen Grund für die Ausübung einer Nebentätigkeit, da die anwaltliche Tätigkeit zur Existenzsicherung nicht ausreicht. 27 Prozent der jungen Rechtsanwälte, die einer weiteren Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf nachgehen, geben an, die Ausübung der Nebentätigkeit beruhe auf sonstigen Gründen. Diese konnten im Rahmen einer offenen Antwortmöglichkeit näher konkretisiert werden. Am häufigsten genannt wurde der Wunsch nach einem Zusatzverdienst, der in diesem Fall offensichtlich nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit angestrebt wird.
Abb. 4: Ausübung einer weiteren Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf nach Anwaltstyp
Soweit eine Nebentätigkeit ausgeübt wird, bestreiten die befragten Rechtsanwälte im Durchschnitt 30 Prozent ihres Lebensunterhalts aus ihrer sonstigen beruflichen Tätigkeit, 70 Prozent ergeben sich aus der anwaltlichen Tätigkeit.
Diejenigen Rechtsanwälte, die ihre Nebentätigkeit nicht ausschließlich aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausüben, wurden ergänzend gefragt, ob sie mit der anwaltlichen Tätigkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Lediglich 73 Prozent können dies uneingeschränkt bejahen. 12 Prozent können ihren Lebensunterhalt aus der anwaltlichen Tätigkeit nur mit Einschränkungen bestreiten, 16 Prozent sind auf weitere Einnahmequellen angewiesen. Die Gruppe der Rechtsanwälte, die eine Nebentätigkeit aus wirtschaftlichen Gründen ausüben, ist damit größer als jene 30 Prozent, die dies auf Befragen unmittelbar eingeräumt haben. Ihr Anteil an allen jungen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten lässt sich auf 9,6 Prozent schätzen.
Abb. 5: Gründe für die Ausübung einer Nebentätigkeit nach Art der Berufsausübung
Abb. 6: Einkommensanteil durch anwaltliche und sonstige berufliche Tätigkeit nach Art der Berufsausübung
IV. Einfluss der Art der Berufstätigkeit auf Ausübung einer Nebentätigkeit
Differenziert nach Anwaltstyp, zeigen sich deutliche Unterschiede, ob berufliche Nebentätigkeiten ausgeübt werden: Am häufigsten üben Kanzlei(mit)inhaber eine weitere vergütete Tätigkeit aus (28 Prozent), angestellte Rechtsanwälte einer Kanzlei sind hierauf hingegen am seltensten angewiesen (10 Prozent). Als freie Mitarbeiter tätige Rechtsanwälte üben zu 22 Prozent eine Nebentätigkeit aus. Eine weitergehende Differenzierung verdeutlicht, dass Gründer einer Einzelkanzlei mit 36 Prozent signifikant häufiger auf ein Einkommen aus einer weiteren Tätigkeit angewiesen sind als Kollegen, die Kanzlei(mit)inhaber sind. Rechtsanwälte, die Gesellschafter einer von ihnen neu gegründeten Sozietät sind, üben von allen Gründern am seltensten eine Nebentätigkeit aus (24 Prozent).
Signifikante Unterschiede ergeben sich bei der Frage nach den Motiven der Ausübung der Nebentätigkeit: Angestellte Rechtsanwälte geben lediglich zu 10 Prozent an, dass die anwaltliche Berufsausübung zur Sicherung ihrer Existenz nicht ausreicht und sie dies zur Aufnahme einer weiteren vergüteten Tätigkeit bewegt. Mehr als jeder dritte Kanzlei(mit)inhaber (36 Prozent) und freie Mitarbeiter (34 Prozent) nimmt eine Nebentätigkeit auf, weil er seine Lebenshaltungskosten nicht vollumfänglich aus dem anwaltlichen Einkommen bestreiten kann. Angestellte Rechtsanwälte geben mit 42 Prozent am seltensten an, dass sie nicht ausschließlich anwaltlich tätig sein möchten. Zwei Drittel der freien Mitarbeiter geben dieses Motiv als Beweggrund für ihre Nebentätigkeit an (66 Prozent).
Gründer einer Einzelkanzlei möchten überdurchschnittlich häufig nicht ausschließlich anwaltlich tätig sein (58 Prozent), wohingegen dieses Motiv für die Aufnahme einer Nebentätigkeit von Gründern einer Bürogemeinschaft signifikant seltener genannt wird (36 Prozent). Die allgemeinen Schwierigkeiten infolge der Übernahme einer Einzelkanzlei
Abb. 7: Ausübung von Nebentätigkeiten – Langzeitbetrachtung
beziehungsweise dem Einstieg in eine Bürogemeinschaft spiegeln sich zudem in den Motiven wieder, weshalb eine Nebentätigkeit aufgenommen wird: 37 Prozent geben als ausschlaggebendes Motiv an, die anwaltliche Tätigkeit reiche zur Existenzsicherung nicht aus, wohingegen dies lediglich 14 Prozent der Kanzleieinsteiger einer schon länger bestehenden Sozietät angeben. Die Anstellung bei einem Einzelanwalt führt überdurchschnittlich häufig (26 Prozent) aufgrund der wirtschaftlichen Situation zur Aufnahme einer Nebentätigkeit. Liegt eine Anstellung in einer Sozietät vor, so wird dieses Motiv lediglich in 7 Prozent der Fälle genannt.
V. Einkommen aus anwaltlicher und nicht-anwaltlicher Tätigkeit
Soweit eine nicht-anwaltliche Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf ausgeübt wird, so liegt der Einkommensanteil durch diese sonstige berufliche Tätigkeit bei angestellten Rechtsanwälten mit knapp 12 Prozent am niedrigsten. Kanzlei(mit)inhaber bestreiten 35 Prozent ihres Einkommens durch eine Nebentätigkeit, freie Mitarbeiter sogar 37 Prozent. Dies verdeutlicht, dass Kanzlei(mit)inhaber und freie Mitarbeiter nicht nur signifikant häufiger überhaupt eine Nebentätigkeit ausüben, sondern dass sie auch einen signifikant höheren Anteil ihrer Lebenshaltungskosten aus dieser Tätigkeit bestreiten. Diejenigen Rechtsanwälte, die als Motiv angaben, ihre anwaltliche Tätigkeit reiche zur Existenzsicherung nicht aus, erwirtschaften sogar 45 Prozent ihres Einkommens durch eine sonstige nicht-anwaltliche Tätigkeit.
VI. Langzeitbetrachtung
Ein Vergleich mit früheren Zulassungsjahrgängen verdeutlicht, dass sich der Anteil derjenigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die einer weiteren juristischen oder nicht-juristischen Tätigkeit neben dem Anwaltsberuf nachgehen, deutlich verringert hat. 1997 übte mit 30 Prozent noch fast jeder Dritte junge Rechtsanwalt eine Nebentätigkeit aus. Dies dürfte ein Indikator dafür sein, dass sich die wirtschaftliche Situation junger Rechtsanwälte verbessert hat.
VII. Resümee
Ob es in Deutschland (versprengte) taxifahrende Rechtsanwälte gibt, muss auch nach diesem Beitrag unbeantwortet bleiben – unter den im Rahmen der vorstehend referierten Studie befragten 3.525 jungen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten hat sich jedenfalls keiner gefunden. Die Ausübung eines Zweitberufs, sei es taxifahrend oder in sonstiger Weise, gibt es allerdings. Freilich geht weniger als jeder fünfte junge Rechtsanwalt einem solchen weiteren Erwerb nach. Der Anteil junger Rechtsanwälte, die aus wirtschaftlicher Not und nicht aus Neigung, zum Zwecke des Networkings oder aufgrund des Wunsches, mehr als „nur“ Anwalt zu sein, zwischen anwaltlicher und anderer Tätigkeit hin- und herwechseln, ist noch einmal deutlich kleiner: Es handelt sich um weniger als jeden zehnten jungen Rechtsanwalt. Im Vergleich zur Vergangenheit ist der Anteil der Rechtsanwälte mit Nebenerwerb rückläufig: In den 1990er Jahren lag er noch um rund die Hälfte höher als in der Gegenwart. Rückläufige Studierenden- und Absolventenzahlen dürften dazu beitragen, dass der Anteil weiter zurückgehen wird.