Beschluss vom 10. Oktober 2012

1 BvL 6/07

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat seine Rechtsprechung zur Rückwirkung von Steuergesetzen im Anschluss an mehrere Beschlüsse des Zweiten Senats vom Juli 2010 weiterentwickelt. Rückwirkende Änderungen des Steuerrechts für einen noch laufenden Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum sind als Fälle unechter Rückwirkung nicht grundsätzlich unzulässig. Sie stehen den Fällen echter Rückwirkung allerdings nahe und unterliegen daher besonderen Anforderungen unter den Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit. Das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage wird durch die Einbringung eines Gesetzentwurfs in Frage gestellt und jedenfalls durch den endgültigen Beschluss des Deutschen Bundestages über das rückwirkende Gesetz zerstört. Im hier vorliegenden Fall einer Regelung, die erstmals im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat vorgeschlagen worden ist, wird das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage durch den Vorschlag des Vermittlungsausschusses beseitigt.

Die Vorlage des Finanzgerichts Münster betrifft die Frage, ob der frühere § 36 Abs. 4 des Gewerbesteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung des Unternehmens¬steuerrechts vom 20. Dezember 2001 (BGBl I S. 3858, im Folgenden: GewStG a. F.) die Anwendung des § 8 Nr. 5 GewStG mit verfassungsrechtlich unzulässiger Rückwirkung bereits für den Erhebungszeitraum 2001 anordnet.

Gemäß dem Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2012 ist das rückwirkende Inkraftsetzen verfassungsgemäß, soweit es den Zeitraum nach dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 betrifft. Soweit hingegen bis einschließlich 11. Dezember 2001 beschlossene und zugeflossene Vorabausschüttungen erfasst werden, ist dies unvereinbar mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und deshalb verfassungswidrig.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Die rückwirkend in Kraft gesetzte Hinzurechnungsvorschrift des § 8 Nr. 5 GewStG steht im Zusammenhang mit dem Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht vom früheren Anrechnungs-verfahren zum sogenannten Halbeinkünfteverfahren. Die nach Einkommen- oder Körperschaft-steuerrecht außer Ansatz bleibenden Gewinnanteile (Dividenden) aus sogenannten Streubesitz-beteiligungen von weniger als 10 % (seit 2008: weniger als 15 %) werden im Gewerbesteuerrecht dem Gewinn wieder hinzugerechnet.

2. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hatte zu dieser Frage zunächst keine Regelung vorgesehen. Erst die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 enthielt die später Gesetz gewordene Vorschrift. Der Bundestag beschloss am 14. Dezember 2001 entsprechend dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses, der Bundesrat stimmte am 20. Dezember 2001 zu. Am 24. Dezember 2001 wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet.

3. Die Regelung des § 36 Abs. 4 GewStG a. F., nach der § 8 Nr. 5 GewStG erstmals für den Erhebungszeitraum 2001 anzuwenden ist, führt zu einer unechten Rückwirkung.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt eine echte Rückwirkung im Steuerrecht nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (vgl. zuletzt die Beschlüsse des Zweiten Senats vom 7. Juli 2010; BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61). Die Änderung steuerrechtlicher Normen mit Wirkung für einen noch laufenden Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum ist der Kategorie der unechten Rückwirkung zuzuordnen und – im Gegensatz zur echten Rückwirkung – nicht grundsätzlich unzulässig.

b) Rückwirkende Regelungen innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums stehen den Fällen echter Rückwirkung jedoch in vielerlei Hinsicht nahe. Für die Vereinbarkeit mit der Verfassung gelten daher gesteigerte Anforderungen. Wenn der Gesetzgeber das Gewerbe¬steuerrecht während des laufenden Erhebungszeitraums umgestaltet und die Rechtsänderungen auf dessen Beginn bezieht, müssen die belastenden Wirkungen einer Enttäuschung schutz¬würdigen Vertrauens verhältnismäßig sein.

4. Gewinnausschüttungen beruhen nicht zwingend auf einer besonderen Vertrauensdisposition eines Streubesitzbeteiligten; gleichwohl kann dieser sich jedenfalls innerhalb eines Erhebungs¬zeitraums grundsätzlich auf sein Vertrauen in die geltende Rechtslage berufen. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 hat das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage beseitigt.

a) Steuerpflichtige können ab der Einbringung eines Gesetzentwurfs im Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ nicht mehr uneingeschränkt darauf vertrauen, das gegenwärtig geltende Recht werde auch in Zukunft unverändert fortbestehen. Jedenfalls ab dem endgültigen Bundestagsbeschluss müssen die Betroffenen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen.

b) Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit geprägt, dass die rückwirkend in Kraft gesetzte Hinzurechnungsvorschrift erstmals in der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 enthalten war. Hinsichtlich ihrer vertrauensbeeinträchtigenden Wirkung entspricht die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses nicht nur einem Gesetzentwurf, sondern geht darüber hinaus. Die Annahme eines solchen Vermittlungsvorschlags durch den Bundestag ist regelmäßig erheblich wahrscheinlicher als die eines Gesetzentwurfs, weil der Vermittlungsvorschlag am Ende des parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesses einschließlich der Kompromissbemühungen des Vermittlungsausschusses steht und deren Ergebnis markiert.

5. § 36 Abs. 4 GewStG a. F. ist verfassungsgemäß, soweit er § 8 Nr. 5 GewStG auf Dividendenvorabausschüttungen für anwendbar erklärt, die nach dem 11. Dezember 2001 zugeflossen sind. Das gilt auch, soweit der Zufluss noch vor der Verkündung im Bundesgesetzblatt vom 24. Dezember 2001 erfolgt ist. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einem seiner Beschlüsse vom 7. Juli 2010 Vertrauensschutz für den Fall gewährt, dass der Mittelzufluss vor Verkündung der Neuregelung erfolgt ist (BVerfGE 127, 31). Dabei ging es jedoch um Abfindungsvereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit deren Abschluss der Arbeitnehmer über den Bestand seines Arbeitsvertrags und so über Teile seiner wirtschaftlichen Existenz disponiert. Die vorliegende Fallkonstellation ist damit nicht vergleichbar.

(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 9. November 2012)