Nachfolgend ein Beitrag vom 8.5.2017 von Wozniak, jurisPR-InsR 9/2017 Anm. 3

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die örtliche Zuständigkeit bei Unterbilanzhaftungen ermittelt sich nach den §§ 22, 17 Abs. 1 ZPO. Auf § 17 Abs. 1 Satz 2 ZPO kommt es nur hilfsweise an.
2. Die Vorbelastungshaftung setzt voraus, dass der Beklagte mit der Geschäftsaufnahme der Insolvenzschuldnerin vor deren Handelsregistereintragung einverstanden war. Die Beweislast für ein fehlendes Einverständnis liegt bei dem in Anspruch genommenen Gesellschafter.
3. Der Umfang der Unterbilanzhaftung ist bilanziell zu ermitteln. Dabei sind die Aktiva der Gesellschaft zu Fortführungswerten anzusetzen, die Passiva ebenfalls. Die Aufnahme einer Forderung in die Insolvenztabelle begründet ein Beweisanzeichen dafür, dass es sich bei der Forderung um eine Verbindlichkeit der Insolvenzschuldnerin gehandelt hat, die auch bei der Vorbelastungshaftung zu berücksichtigen ist.

A. Problemstellung

In dem Umfang, wie der Gesetzgeber insolvenzanfechtungsrechtliche Möglichkeiten zur Massegenerierung einschränkt oder praktisch untauglich macht, gewinnen andere Arten der Massegenerierung zusehends an Bedeutung. Gerade in der Gesellschaftsinsolvenz liegt daher das Augenmerk in den letzten Jahren verstärkt auf gesellschaftsrechtlichen Ansprüchen, die im Insolvenzverfahren vom Verwalter geltend gemacht werden können. Bei juristischen Personen in der Insolvenz gewinnt hier vor allen Dingen bei fehlgeschlagenen Neugründungen die so genannte Vorbelastungshaftung an praktischer Bedeutung.
Das LG Meiningen hatte sich mit einem entsprechenden Haftungstatbestand zu befassen. Es erkennt den geltend gemachten Anspruch dem Grunde nach an. Die Sache ist augenblicklich beim OLG Jena unter dem Az. 1 U 848/16 anhängig.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen einer Hotel- und Gaststättengesellschaft und wendet sich mit seinem Klagebegehren an den Beklagten, seinerseits Alleingesellschafter der Insolvenzschuldnerin. Geltend gemacht wird eine Vorbelastungshaftung auf der Basis von § 11 GmbHG.
Am 15.03.2012 pachtete der Vater des Beklagten von einem Zwangsverwalter das hier im Mittelpunkt des Verfahrens stehende Berg-Hotel. Am 17.04.2012 wurde die Insolvenzschuldnerin errichtet. Bis zum 15.05.2012 wurden auf die Stammeinlage 11.000 Euro eingezahlt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hatte die Insolvenzschuldnerin die Geschäfte zum Betrieb des Hotels aufgenommen. Die Eintragung im Handelsregister erfolgte am 15.06.2012. Am 16.07.2012 schloss die später insolvente GmbH mit dem Vater des Gesellschafters einen Untergewerbemietvertrag über das Hotel. Am 15.03.2013 wurde der nunmehrige Beklagte als Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin ins Handelsregister eingetragen und stellte am 26.04.2013 Insolvenzantrag. Am 01.06.2013 wurde das Insolvenzverfahren mit Beschluss des AG Meiningen eröffnet.
Der Kläger macht geltend, dass bis zur Eintragung im Handelsregister das eingezahlte Stammkapital von 11.000 Euro verbraucht worden und die Insolvenzschuldnerin Verbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 39.065,91 Euro übernommen habe. Diesem Verbindlichkeiten-Saldo stünden Vermögenswerte nur i.H.v. 9.183,29 Euro gegenüber. Zum Differenzbetrag i.H.v. 29.882,62 Euro sei das verbrauchte Stammkapital von 11.000 Euro hinzuzusetzen, abzuziehen sei ein Gründungsaufwand von 187,55 Euro, so dass sich in Summe eine Unterbilanzhaftung i.H.v. 40.695,07 Euro ergebe. Diesen Betrag macht der Kläger gegenüber dem Beklagten geltend.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er führte dazu aus, dass das AG Meiningen örtlich unzuständig sei, da der Verwaltungssitz der Insolvenzschuldnerin sich in Berlin befunden habe, von wo er aus alle Geschäftsführerentscheidungen getroffen habe. Außerdem hafte er, der Beklagte, auch deshalb nicht, da ihm die Geschäftsaufnahme der Insolvenzschuldnerin vor deren Eintragung in das Handelsregister nicht bekannt gewesen sei und er auch nicht eingewilligt habe. Den Nachweis dieser Einwilligung hätte der Insolvenzverwalter zu führen, was nicht geschehen sei.
Schließlich wendet sich der Beklagte gegen den Umfang der in Anrechnung gebrachten Verbindlichkeiten. Diverse Rechnungen seien, insbesondere da sie namentlich nicht an die Insolvenzschuldnerin gerichtet seien, nicht in Ansatz zu bringen.
Das LG Meiningen folgt dem Beklagten insofern nicht, als es die Klage für zulässig und dem Grunde nach auch für begründet erachtet.
Die örtliche Zuständigkeit ergebe sich bereits aus den §§ 22, 17 Abs. 1 ZPO, da allein der in § 1 der Satzung genannte Sitz bzw. dem Handelsregister eingetragene Sitz maßgeblich seien und beide im jeweiligen Landgerichtsbezirk lägen. Auf einen Verwaltungssitz käme es gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 ZPO nur hilfsweise an.
Auch treffe den Beklagten eine Vorbelastungshaftung infolge der BGH-Rechtsprechung (BGH, Urt. v. 09.03.1981 – II ZR 54/80).
Das eingezahlte Stammkapital i.H.v. 11.000 Euro sei bei Eintragung der Gesellschaft jedenfalls nicht mehr vollständig vorhanden gewesen. Dass die Insolvenzschuldnerin ihre Geschäfte zum Betrieb des Hotels nach dem 17.04.2012 noch vor der Eintragung in das Handelsregister am 15.06.2012 aufgenommen habe, ergebe sich aus den Kontenblättern und der BWA von Mai bis Juni 2012. Weiter setze die Vorbelastungshaftung voraus, dass der Beklagte mit der Geschäftsaufnahme einverstanden gewesen sei. Anders als der Beklagte meint, obliege allerdings der Nachweis eines haftungsausschließenden, fehlenden Einverständnisses bei Geschäftsaufnahme dem betreffenden Gesellschafter. Dies entspreche allgemeiner zivilprozessualer Beweislastverteilung (Zöller, ZPO, vor § 284 Rn. 17 A).
Der Beklagte habe zu einer ihn entlastenden Unkenntnis keinen Vortrag geleistet, obwohl er hierauf auch nochmals in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sei. Auch begründet der Hinweis auf eine Unterbilanzhaftung in der notariellen Gründungsurkunde kein Vertrauen des Beklagten, dass der zunächst bestellte Geschäftsführer die Geschäfte vor der Registereintragung nicht aufnehmen werde. In dem Hinweis werde das zu Recht nicht als unerlaubt dargestellt, ein Vorbelastungsverbot habe bereits damals nicht mehr bestanden. Der Hinweis des Notars sei vielmehr nur vorsorglicher Natur und im Übrigen auch nicht als Reaktion auf die bereits erfolgte Geschäftsaufnahme zum Gründungszeitpunkt aufzufassen.
Der Beklagte müsste nach Ansicht des LG Meiningen zudem auch folgende Überlegungen entkräften, die prima facie für seine Kenntnis von der Geschäftsaufnahme sprechen. Ihm hätte bei Errichtung der Gesellschaft klar sein müssen, dass der Gesellschaftszweck, nämlich der Betrieb des Hotels, nur im Einvernehmen mit seinem Vater, der bereits Pächter des Hotels war, verwirklicht werden könne. Von dem tatsächlichen Betrieb des Hotels bei Errichtung der Gesellschaft habe der Beklagte gewusst und konnte auch nach Ansicht des Gerichts nicht annehmen, dass der tatsächliche Betrieb des Hotels bis zur Eintragung der Gesellschaft ruhe bzw. sein Vater keine Verbindlichkeiten eingehe.
Zum Umfang der Vorbelastungshaftung seien folgende Erwägungen im Vorfeld der konkreten Ermittlung maßgeblich.
Der Umfang der Haftung sei bilanziell zu ermitteln, wobei in der Bilanz die Aktiva der Gesellschaft zu Fortführungswerten anzusetzen seien, auf der Passivseite alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Es genüge für eine schlüssige Darlegung des Haftungsanspruchs durch den Insolvenzverwalter, wenn diese die gesamte Unterbilanz am Eintragungsstichtag geltend mache und darstelle, dass das Stammkapital der Gesellschaft im Gründungsstadium angegriffen oder verbraucht wurde oder sogar ein darüber hinausgehender Verlust entstanden sei. In diesem Fall habe der Gesellschafter, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass eine Unterbilanz nicht bestanden habe. Der Vortrag des Klägers genüge im konkreten Fall zur Annahme einer Unterbilanz.
Insbesondere auch die Rechnungen, die nominell nicht auf die Insolvenzschuldnerin lauten, sondern auf eine dritte Gesellschaft, die im „familiären Dunstkreis“ der Gesellschafter zu verorten ist, ändert hieran nichts. Denn die offene Rechnung, die hier in Ansatz gebracht wird, sei vollständig zur Insolvenztabelle festgestellt worden. Hieraus folge, dass die Rechnung anders als vom Beklagten behauptet, weder seinen Vater persönlich, noch einen sonstigen Dritten treffe. Offensichtlich hat die betreffende Unternehmung von keinem Dritten entsprechende Zahlungen erhalten. Soweit der Beklagte ansonsten Einwände gegen die einzelnen Rechnungen geltend macht, genüge es nicht, die Berechtigung der Rechnungen in Abrede zu stellen, der Beklagte sei vielmehr gehalten, selbst aufzuklären, ob und welche Verbindlichkeiten erst nach deren Eintragungen entstanden sind und nicht erst nur nachträglich verbucht wurden.

C. Kontext der Entscheidung

Die obergerichtlichen Entscheidungen zur Vorbelastungshaftung im Speziellen sowie zu gesellschaftsrechtlichen Haftungsnormen im Generellen gewinnen zusehends an Bedeutung. Man mag dies, wie eingangs dargelegt, auf die zum Teil verwalterunfreundliche Aktivität des gegenwärtigen Gesetzgebers zurückführen. Gerade die Vorbelastungshaftung stellt hierbei ein für den Verwalter interessantes Mittel zur Massegenerierung dar, ist jedoch auch mit einem zum Teil nicht unerheblichen Erfassungs-, Prüfungs- und Dokumentationsaufwand verbunden, der sich allerdings – wie der vorliegende Fall zeigt – durch einige Erleichterungen der Judikatur durchaus handhaben lässt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass das GmbH-Recht vorsieht, eine Gesellschaft müsse bei Gründung im Zeitpunkt der Eintragung zumindest einmal in ihrem „Leben“ über das ungeschmälerte, haftende Kapital auch tatsächlich verfügen. Hieran kann es fehlen, wenn die Gesellschaft bereits vor ihrer Eintragung im Handelsregister die Geschäfte aufgenommen hat und zum Eintragungszeitpunkt ein Wertverzehr eingetreten ist, der eine entsprechende Verfügungsbefugnis der Gesellschaft verhindert. In diesem Fall haften die Gesellschafter auf Ausgleich. Praktisch problematisch sind derartige Haftungsfälle regelmäßig deshalb, da eine retrograde Ermittlung zwar nicht per se ausgeschlossen ist, jedoch häufig mit dem im Insolvenzverfahren im wieder auftretenden Problem unzureichender Buchhaltungsunterlagen zu Rande zu kommen hat. Hier bietet die Entscheidung des LG Meiningen einige interessante Gedanken an, die dem Verwalter seine praktische Arbeit merklich erleichtern.
In der Sache wendet sich der hiesige Beklagte gegen seine Inanspruchnahme einerseits mit dem Argument der fehlenden Zustimmung zur Geschäftsaufnahme und andererseits mit Einwendungen gegen die in Ansatz gebrachten Verbindlichkeiten. Diese beiden Argumente dürften auch regelmäßig den Kernbestand der denkbaren Einwendungen in Unterbilanzhaftungsfällen von Beklagtenseite darstellen. Das LG Meiningen geht auf das erste Argument insofern ein, als es in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung sowie der Literatur dem Beklagten den Entlastungsbeweis für die fehlende Zustimmung zur Aufnahme des Geschäftsbetriebs auferlegt. Einen derartigen Beweis wird der Beklagte regelmäßig nicht führen können, wenn nicht tatsächlich ein entsprechender fehlender Wille zum maßgeblichen Zeitpunkt vorhanden und dokumentiert war.
Auch das zweite maßgebliche Verteidigungsargument, die fehlende Zurechnung bestimmter Rechnungen zu den Passiva der Gesellschaft, löst das LG Meiningen sehr pragmatisch. Streitgegenständlich war im konkreten Fall u.a. eine Rechnung, die nicht direkt an die Insolvenzschuldnerin gerichtet war, jedoch wohl ihrem Inhalt nach relativ eindeutig der Insolvenzschuldnerin zuzuordnen. Das Gericht argumentiert hier damit, dass die Rechnung offenbar von demjenigen, an den sie gerichtet worden ist (familiäres Umfeld des Beklagten), nicht beglichen wurde, weshalb die Rechnung zur Insolvenztabelle angemeldet und der Betrag auch festgestellt worden ist.
Man mag dies für eine Überdehnung der Wirkungen einer Tabellenfeststellung halten; zumindest einen indiziellen Charakter wird man der entsprechenden Tabellenfeststellung jedoch wohl kaum absprechen können. Mit vorgenannten Erwägungen gelangt das LG Meiningen zu einer Haftung dem Grunde nach.
Die genaue Höhe der geltend gemachten Forderung scheint aus im Urteil nicht näher dargelegten Gründe noch nicht abschließend geklärt, so dass kein abschließendes Urteil ergangen ist. Die Argumentation des Landgerichts ist gut begründet und aus Verwaltersicht begrüßenswert.

D. Auswirkungen für die Praxis

Insolvenzgesellschaftsrechtliche Ansprüche stellen in jüngerer Zeit vermehrt eine interessante Alternative zum klassischen Insolvenzanfechtungsrecht bei der Massegenerierung dar. Es ist davon auszugehen, dass sich die gerichtlich entschiedenen Fälle hier noch vermehren werden. Aus Beratersicht kann nur von einer vorzeitigen Aufnahme der Geschäftstätigkeit einer juristischen Person vor Eintragung, die finanzielle Belastungen mit sich bringt, gewarnt werden. Als Alternative kommt eine ordnungsgemäß gegründete Vorratsgesellschaft in Betracht.