Nachfolgend ein Beitrag vom 18.4.2017 von Schuster, jurisPR-SteuerR 16/2017 Anm. 1

Leitsatz

Mit dem unter den Voraussetzungen des BMF-Schreibens vom 27.03.2003 (IV A 6-S 2140-8/03 – BStBl I 2003, 240; ergänzt durch das BMF-Schreiben vom 22.12.2009 – IV C 6-S 2140/07/10001-01 – BStBl I 2010, 18; sog. Sanierungserlass) vorgesehenen Billigkeitserlass der auf einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer verstößt das BMF gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.

A. Problemstellung

Bis zum Veranlagungszeitraum 1997 waren Sanierungsgewinne nach § 3 Nr. 66 EStG a.F. steuerfrei. Diese Steuerfreiheit wurde durch das Gesetz zur Fortführung der Unternehmenssteuerreform vom 29.10.1997 (BGBl I 1997, 2590) § 3 Nr. 66 a.F. abgeschafft. Seither ist ein Sanierungsgewinn steuerpflichtig. Das BMF-Schreiben vom 27.03.2003 (IV A 6-S 2140-8/03 – BStBl I 2003, 240), der sog. Sanierungserlass, regelt in einer Verwaltungsanweisung, unter welchen Voraussetzungen Ertragsteuern auf den Sanierungsgewinn aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen sind.
Der Große Senat des BFH hatte darüber zu befinden, ob der sog. Sanierungserlass gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 1 EStG ermittelt, erzielte von 2001 bis 2006 fortlaufend Verluste aus Gewerbebetrieb. Im Dezember 2007 verzichteten Banken auf Darlehensforderungen. Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer 2007 entsprechend dem eingereichten Jahresabschluss des Klägers fest, in dem Erträge aus den Forderungsverzichten der Banken enthalten waren. Der Steuerbescheid wurde bestandskräftig.
Im März 2009 beantragte der Kläger den Erlass der auf den Sanierungsgewinn des Jahres 2007 entfallenden Einkommensteuer. Dies lehnte das Finanzamt mit der Begründung ab, die im Sanierungserlass genannten Voraussetzungen lägen nicht vor. Das Finanzgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen des insoweit entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers könne der sog. Sanierungserlass keinen Bestand haben; er verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Für einen Steuererlass sei deshalb kein Raum. Der X. Senat des BFH, bei dem die Revision des Klägers gegen das Finanzgerichts-Urteil anhängig ist, hat den Großen Senat des BFH wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache angerufen.
Nach Auffassung des Großen Senats verstößt der sog. Sanierungserlass gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Zur Begründung führt er aus: Art. 20 Abs. 3 GG binde die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht. Im Abgabenrecht habe dieser Verfassungsgrundsatz in § 85 Satz 1 AO seinen Niederschlag gefunden. Die Finanzbehörden seien verpflichtet, die wegen Verwirklichung eines steuerrechtlichen Tatbestands entstandenen Steueransprüche festzusetzen und die Steuer zu erheben. Zweckmäßigkeitserwägungen dürften bei der Steuerfestsetzung und -erhebung keine Rolle spielen. Dies gelte auch für Verwaltungserlasse.
Rechtliche Grundlage für einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen seien die §§ 163, 227 AO, auf die sich der sog. Sanierungserlass auch beziehe. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme sei zwar eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt würden. Das Merkmal „Unbilligkeit“ könne uneingeschränkt überprüft werden. Bei dem sog. Sanierungserlass handele es sich um eine norminterpretierende – nämlich das Merkmal sachlicher Unbilligkeit konkretisierende – Verwaltungsvorschrift. Solche hätten keine Bindungswirkung in finanzgerichtlichen Verfahren.
Eine sachliche Billigkeitsmaßnahme stelle immer auf den Einzelfall ab und sei atypischen Ausnahmefällen vorbehalten. Zwar seien Billigkeitsmaßnahmen auch in durch besondere Ausnahmevoraussetzungen gekennzeichneten Fallgruppen möglich, jedoch müssten in all diesen Einzelfällen die Voraussetzungen der sachlichen Unbilligkeit vorliegen. Typisierende Billigkeitsregelungen könnten nur durch gesetzliche Regelungen geschaffen werden.
Ein aus betrieblichen Gründen erklärter Verzicht auf betriebliche Darlehensforderungen sei eine Betriebseinnahme. Hierbei handele es sich auch nicht um eine atypische, vom Gesetzgeber nicht gewollte Gewinnerhöhung oder Verlustminderung. Vielmehr zeige sich gerade im Fall der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1 EStG), dass die Besteuerung des durch einen solchen Forderungsverzichts entstandenen Gewinns notwendige Folge der gesetzlich vorgegebenen Gewinnermittlungsart sei. Der durch den Forderungsverzicht eines Gläubigers entstandene Gewinn sei zudem nicht nur bilanzieller Natur. Eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen sei bereits mit der ursprünglichen Leistung des Gläubigers eingetreten, die nur wegen des bilanziellen Ausweises einer Verbindlichkeit zunächst steuerneutral geblieben sei. Behalte der Steuerpflichtige die Leistung wegen des Forderungsverzichts endgültig, sei die frühere Steigerung seiner Leistungsfähigkeit in Gestalt einer Gewinnerhöhung ertragsteuerlich zu berücksichtigen.
Dies gelte auch dann, wenn der Forderungsverzicht in Sanierungsabsicht erklärt werde. Außerhalb des Steuerrechts liegende (wirtschafts- und/oder arbeitsmarktpolitische) Gründe könnten keine Billigkeitsmaßnahme rechtfertigen. Sachliche Gründe für eine Billigkeitsentscheidung seien unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen zu beurteilen. Der durch den Forderungsverzicht wiedergewonnene Spielraum sei deshalb ohne Belang.
Der sog. Sanierungserlass sehe keine Einzelfallprüfung vor, sondern enthalte typisierende Regelungen, welche die sachliche Unbilligkeit unter den dort beschriebenen Voraussetzungen ohne Rücksicht auf die Höhe des Sanierungsgewinns und der darauf entfallenden Steuer sowie ungeachtet einer zu befürchtenden Gefährdung der Unternehmenssanierung als gegeben unterstellten.
Mit der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. habe der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Sanierungsgewinne künftig nicht mehr steuerlich privilegiert seien. Zwar seien damit Billigkeitsmaßnahmen nicht von vornherein ausgeschlossen. Daraus folge jedoch nicht, dass diejenigen Voraussetzungen, die dem Gesetzgeber bei Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. bekannt gewesen seien (Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens, Forderungsverzicht der Gläubiger in Sanierungsabsicht sowie Sanierungseignung des Forderungsverzichts), später die sachliche Unbilligkeit der Besteuerung des Sanierungsgewinns begründen könnten. Im Übrigen sei in der Gesetzesbegründung zur Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. hervorgehoben worden, die Bemessungsgrundlage solle verbreitert und Steuervergünstigungen abgeschafft werden. Die Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns sei nach den Grundprinzipien des Einkommensteuerrechts systemwidrig, da der durch den Erlass der Verbindlichkeiten entstehende Gewinn entgegen den allgemeinen ertragsteuerlichen Regeln nicht besteuert werde.

C. Kontext der Entscheidung

I. Für die Steuerfreiheit eines Sanierungsgewinns gemäß § 3 Nr. 66 EStG a.F. (ab dem Veranlagungszeitraum 1977) mussten nach ständiger Rechtsprechung des BFH folgende Voraussetzungen erfüllt sein: die Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens, der volle oder teilweise Erlass seiner Schulden, die insoweit bestehende Sanierungsabsicht der Gläubiger sowie die Sanierungseignung des Schuldenerlasses (zuletzt BFH, Urt. v. 17.11.2004 – I R 11/04 – BFH/NV 2005, 1027, m.w.N.). Die Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens war nach den Verhältnissen zu dem Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Forderungsverzicht vereinbart wurde. Maßgebend waren insoweit die Ertragslage und die Höhe des Betriebsvermögens vor und nach der Sanierung, die Kapitalverzinsung durch die Erträge des Unternehmens, die Möglichkeiten zur Zahlung von Steuern und sonstiger Schulden, d.h. das Verhältnis der flüssigen Mittel zur Höhe der Schuldenlast, die Gesamtleistungsfähigkeit des Unternehmens und die Höhe des Privatvermögens. Die Sanierungsbedürftigkeit war zu vermuten, wenn sich mehrere Gläubiger an einer Sanierung beteiligten (BFH, Urt. v. 14.03.1990 – I R 64/85 – BStBl II 1990, 810). Hinsichtlich der Sanierungseignung war zu prüfen, ob der Schuldenerlass allein oder zusammen mit anderen – auch nicht steuerbefreiten – Maßnahmen das Überleben des Betriebs zu sichern geeignet war (BFH, Urt. v. 19.10.1993 – VIII R 61/92 – BFH/NV 1994, 790 m.w.N.). Aber auch die Aufgabe des Unternehmens hinderte die Annahme der Sanierungseignung nicht; vielmehr sollte es – so bereits der RFH – insoweit genügen, wenn der Schuldenerlass einen Einzelunternehmer in den Stand versetzte, das von ihm betriebene Unternehmen aufzugeben, ohne von weiterbestehenden Schulden beeinträchtigt zu sein.
II. § 3 Nr. 66 ist mit Wirkung vom 01.11.1997 aufgehoben worden durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29.10.1997 (BGBl I 1997, 2590 m.W.v. 01.11.1997. Dies geschah durch Beschluss des Vermittlungsausschusses (BT-Drs. 13/8325). Was diesen hierzu veranlasst hat, ist, wie dies bei Beschlüssen des Vermittlungsausschusses die Regel ist, aus den Gesetzesmaterialien nicht erkennbar. Die Verwaltung ist daran gehindert, den § 3 Nr. 66 und die früher hierzu entwickelten Rechtsgrundsätze wieder als Billigkeitsregelungen „durch die Hintertür“ einzuführen. Der Gesetzgeber hat das Feld nicht zu einer generellen Regelung freigegeben, die über die im Einzelfall möglichen Billigkeitsmaßnahmen nach den §§ 163 und 227 AO hinausgehen. Zu Recht spricht der Große Senat die verfassungsrechtliche Dimension der von ihm zu entscheidenden Frage an: Indem das BMF durch den Sanierungserlass in BStBl I 2003, 240 mit im Rahmen von Billigkeitsmaßnahmen nicht zulässigen typisierenden Regelungen die vom Gesetzgeber aufgehobene Steuerbegünstigung von Sanierungsgewinnen unter (leicht) modifizierten Bedingungen wieder einführt, „wird es in gesetzesvertretender Weise tätig“. „Mit der Schaffung typisierender Regelungen für einen Steuererlass außerhalb der nach §§ 163 und 227 AO im Einzelfall möglichen Billigkeitsmaßnahmen nimmt das BMF eine strukturelle Gesetzeskorrektur vor und verstößt damit gegen das sowohl verfassungsrechtlich (Art. 20 Abs. 3 GG) als auch einfachrechtlich (§ 85 Satz 1 AO) normierte Legalitätsprinzip.“

D. Auswirkungen für die Praxis

Nach der Entscheidung des Großen Senats herrscht nun Rechtssicherheit, die angesichts der unterschiedlichen Entscheidungen der Finanzgerichte überfällig war. Der sog. Sanierungserlass verstößt nach dem Beschluss des Großen Senats des BFH gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und künftig können deshalb keine Ertragssteuern mehr nach dessen Vorgaben erlassen werden. Bereits bestandskräftig erlassene Steuern aufgrund des sog. Sanierungserlasses werden durch die Entscheidung hingegen nicht tangiert (vgl. hierzu auch § 176 AO). Steuererlasse aufgrund persönlicher oder sachlicher Unbilligkeit im Einzelfall sind jedoch weiter möglich.
Der Gesetzgeber hat zwischenzeitlich auf den Beschluss des Großen Senats des BFH reagiert. Gegenwärtig läuft ein Gesetzgebungsverfahren, in dem der Bundesrat vorgeschlagen hat, eine neue Vorschrift über die Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen in das EStG einzufügen (§ 3a EStG-Entwurf; BT-Drs. 18/11531). Die Vorschrift nimmt in ihren Tatbestandsvoraussetzungen weitestgehend die Voraussetzung des bisherigen Sanierungserlasses auf. Die neue Bestimmung soll zugunsten der Steuerpflichtigen rückwirkend für alle offenen Fälle gelten (§ 52 Abs. 4a EStG-Entwurf). Die Bundesregierung steht diesem Vorschlag jedenfalls nicht ablehnend gegenüber und hat selbst das Bestehen eines dringenden Handlungsbedarfs anerkannt (BT-Drs. 18/11531, 17).
Am 24.04.2017 soll die Anhörung im Finanzausschuss durchgeführt werden; die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses folgt dann am 17.05.2017. Der Beschluss des Deutschen Bundestags ist für den 22.06.2017 vorgesehen und am 07.07.2017 soll das Gesetzgebungsverfahren mit der Befassung des Bundesrats abgeschlossen werden.
Schließlich wäre die Neuregelung wohl bei der EU-Kommission notifizierungspflichtig. Ansonsten besteht die Gefahr, dass § 3a EStG-Entwurf gegen das unionsrechtliche Beihilfeverbot verstößt (vgl. zu 8c Abs. 1a KStG: EuG, Urt. v. 04.02.2016 – T-620/11 – DStR 2016, 390 = IStR 2016, 249). Es wird hingewiesen auf die Anmerkung von Fritze, jurisPR-InsR 5/2017 Anm. 2.
Bis zur Erteilung der beihilferechtlichen Genehmigung wird das Gesetz nicht in Kraft treten.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die geplante Neuregelung nicht unproblematisch. Der Gesetzentwurf sieht zwar eine Rückwirkung für alle offenen Steuerfestsetzungen vor; er beachtet dabei jedoch nicht, dass die bei den Gerichten anhängigen Streitfälle das Billigkeitsverfahren betreffen. Dieses ist vom Steuerfestsetzungsverfahren verfahrensrechtlich unabhängig. Der Erfolg eines Billigkeitsantrags setzt – gleichgültig, ob er auf § 163 AO oder auf § 227 AO gestützt wird – nicht voraus, dass die zugrunde liegende Steuerfestsetzung noch nicht bestandskräftig ist (§ 227 AO gehört zudem nicht zum Steuerfestsetzungs-, sondern zum Erhebungsverfahren). In diesem Punkt müsste der Gesetzgeber m.E. dringend „nachbessern“.
Eine Aussetzung der bei den Gerichten anhängigen Verfahren nach § 74 FGO bis zum Inkrafttreten der gesetzliche Neuregelung dürfte nicht in Betracht kommen. Eine mögliche Gesetzesänderung ist kein Rechtsverhältnis im Sinne der Vorschrift (vgl. auch BFH, Urt. v. 29.11.2006 – VI R 14/06 – BFHE 216, 167 = BStBl II 2007, 129). M.E. kann § 74 FGO jedoch analog angewendet werden. In jedem Fall können die Gerichte jedoch das Ruhen der Verfahren bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens anordnen (§ 155 FGO i.V.m. § 251 ZPO). Dies müssen die Beteiligten aber beantragen.
Die Gerichte sollten deshalb die Beteiligten vom laufenden Gesetzgebungsverfahren informieren und anfragen, ob diese das Ruhen des Verfahrens beantragen. Notfalls sollten die Gerichte m.E. die anhängigen Streitfälle bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung einfach „liegenlassen“.