Nachfolgend ein Beitrag vom 18.2.2019 von Steinhauff, jurisPR-SteuerR 7/2019 Anm. 3

Leitsätze

1. Säumniszuschläge sind nicht wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn der Steuerpflichtige seinen vom Finanzamt zurückgewiesenen Einspruch gegen die teilweise Ablehnung von AdV trotz entsprechender Ankündigung nicht begründet.
2. Ob zum Zeitpunkt der AdV-Versagung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids vorgelegen haben, ist im Billigkeitsverfahren nicht zu überprüfen.

A. Problemstellung

Säumniszuschläge sind nur dann in vollem Umfang zu erlassen, wenn eine rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird und der Steuerpflichtige zuvor alles getan hat, um eine Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu erreichen und diese – obwohl möglich und geboten – abgelehnt worden ist (st. Rspr., vgl. BFH, Urt. v. 24.04.2014 – V R 52/13 Rn. 11 und 12 – BStBl II 2015, 106, dazu Loose, jurisPR-SteuerR 37/2014 Anm. 3) Der XI. Senat des BFH führt mit der Besprechungsentscheidung die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung konsequent fort, und zwar auch insoweit, als er im Hinblick auf die Selbstständigkeit der Verfahren eine – inzidente – Rechtmäßigkeitskontrolle der bestandskräftigen – ablehnenden – AdV-Entscheidung bzw. der Steuerfestsetzung ablehnt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist ein eingetragener Verein, der u.a. Einnahmen aus einem Bestattungskostenunterstützungsfonds, der Organisation von Pilgerreisen und des Kurban (islamische Opfergabe – „Kurbanspenden“) erhielt. Für 2000 bis 2006 gab der Kläger Körperschaftsteuererklärungen ab, in denen er nur geringe bzw. keine Einnahmen aus den vorgenannten Tätigkeiten erklärte. Nach Durchführung einer Außenprüfung für den Zeitraum 1995 bis 2005 und hierauf basierender Schätzungen für die Jahre 2006 bis 2008 wurden erhebliche Steuernachforderungen festgesetzt. Dabei wurden u.a. die Einnahmen aus Kurbanspenden sowie Zinsen aus der Türkei der Besteuerung unterworfen.
Der Kläger legte gegen die Bescheide jeweils Einspruch ein und beantragte AdV. Mit Bescheid vom 23.07.2010 bewilligte das Finanzamt teilweise AdV. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Außerdem wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom gleichen Tag die Einsprüche bezüglich der Steuerfestsetzungen 2000 bis 2008 zurück.
Der gegen die teilweise Ablehnung der AdV eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg. Beim Finanzgericht stellte der Kläger keinen Antrag auf AdV der Körperschaftsteuerbescheide 2000 bis 2008.
In dem Klageverfahren vertrat das Finanzgericht in der mündlichen Verhandlung die vorläufige Auffassung, dass die Einnahmen aus Kurbanspenden eindeutig nicht steuerpflichtig seien und bei den Zinsen aus der Türkei zumindest fraglich sei, wem diese zuzurechnen seien. Daraufhin verständigten sich die Beteiligten u.a. dahingehend, dass Einnahmen aus Kurbanspenden und Einkünfte aus Kapitalvermögen entfielen. Die Änderungsbescheide wurden bestandskräftig.
Den Antrag des Klägers, die Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2000 bis 2008 zu erlassen, lehnte das Finanzamt ab und wies den dagegen eingelegten Einspruch als unbegründet zurück. Die anschließende Klage hatte teilweise Erfolg (FG Köln, Urt. v. 24.11.2016 – 10 K 3370/14 – EFG 2017, 363): Das Finanzgericht verpflichtete das Finanzamt, die Säumniszuschläge zur Körperschaftsteuer 2000 bis 2008 zu erlassen, soweit sie auf die Einbeziehung der Kurbanspenden in die festgesetzte Körperschaftsteuer entfallen. Im Übrigen wies es die Klage ab. Gegen das Urteil haben beide Beteiligte Revision eingelegt.
Der BFH entschied, die Revision des Finanzamts sei begründet. Das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Klage abzuweisen; denn die Ermessensentscheidung des Finanzamts über die Ablehnung des Erlasses von Säumniszuschlägen sei nicht zu beanstanden.

I. Nach § 227 AO könnten die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falls – aus persönlichen oder sachlichen Gründen – unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehörten auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der nach § 240 Abs. 1 AO entstehenden Säumniszuschläge (BFH, Beschl. v. 02.03.2017 – II B 33/16 Rn. 14 – BStBl II 2017, 646; Anm. Messbacher-Hönsch, jurisPR-SteuerR 26/2017 Anm. 1).

II. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme sei eine Ermessensentscheidung (§ 102 FGO). Die gerichtliche Prüfung einer Ablehnung des Erlasses sei darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hätten.

III. Sachlich unbillig sei die Festsetzung bzw. Einziehung einer Steuer oder Nebenleistung, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspreche, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderlaufe, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheine. Bei der Billigkeitsprüfung müssten solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringe. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen habe, rechtfertige in der Regel keine Billigkeitsmaßnahme; insbesondere könne § 227 AO nicht als Rechtsgrundlage für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Befreiungsvorschrift dienen (BFH, Urt. v. 10.03.2016 – III R 2/15 Rn. 28 – BStBl II 2016, 508 m.w.N.).

IV. Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO seien Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt werde, ohne dass es auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen ankomme (BFH, Beschl. v. 02.03.2017 – II B 33/16 Rn. 32 – BStBl II 2017, 646 m.w.N.). Säumniszuschläge seien allerdings nicht verwirkt, soweit die Vollziehung des Steuerbescheids ausgesetzt sei (BFH, Urt. v. 10.03.2016 – III R 2/15 Rn. 30 – BStBl II 2016, 508; BFH, Beschl. v. 02.03.2017 – II B 33/16 Rn. 15 – BStBl II 2017, 646).

V. Nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO blieben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert werde. Diese Regelung gelte uneingeschränkt auch für die Beseitigung rechtswidriger Steuerfestsetzungen, da die Vollstreckbarkeit eines Steuerbescheids nicht von seiner Bestandskraft abhänge.
Der Grundsatz der Akzessorietät, nach dem Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 AO) grundsätzlich vom Bestehen der ihnen zugrunde liegenden Steuerschuld abhängig seien, werde durch diese Vorschrift nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 7/4292, S. 39) durchbrochen (BFH, Urt. v. 20.05.2010 – V R 42/08 Rn. 20 f. – BStBl II 2010, 955 m.w.N.; Anm. Pfützenreuter, jurisPR-SteuerR 39/2010 Anm. 1). Die darin liegende Härte sei dem Gesetzgeber bewusst gewesen und rechtfertige daher regelmäßig nicht den Erlass der Säumniszuschläge aus sachlichen Gründen (BFH, Urt. v. 30.03.2006 – V R 2/04 – BStBl II 2006, 612; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 25/2006 Anm. 1; BFH, Urt. v. 20.05.2010 – V R 42/08 Rn. 21 – BStBl II 2010, 955).

VI. Diese Regelung sei verfassungsgemäß (BVerfG, Beschl. v. 30.01.1986 – 2 BvR 1336/85 – DStZ/Eildienst 1986, 101; BFH, Beschl. v. 16.09.2004 – V B 221/03 Rn. 15; BFH, Urt. v. 20.05.2010 – V R 42/08 Rn. 21 – BStBl II 2010, 955). Deshalb komme ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht allein deshalb in Betracht, weil die Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen herabgesetzt worden sei oder möglicherweise geändert werde (BFH, Urt. v. 30.03.2006 – V R 2/04 Rn. 18 – BStBl II 2006, 612; BFH, Urt. v. 20.05.2010 – V R 42/08 Rn. 22 – BStBl II 2010, 955).

VII. Allerdings seien Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben werde und der Steuerpflichtige alles getan habe, um die AdV des Steuerbescheids zu erreichen, das Finanzamt oder das Finanzgericht aber die Aussetzung „obwohl möglich und geboten“ abgelehnt habe (vgl. BFH, Urt. v. 10.03.2016 – III R 2/15 Rn. 31 – BStBl II 2016, 508; BFH, Beschl. v. 18.07.2001 – X B 161/00 Rn. 4 – BFH/NV 2002, 7; BFH, Beschl. v. 02.03.2017 – II B 33/16 Rn. 16 – BStBl II 2017, 646). In derartigen Fällen sei das Ermessen so reduziert, dass nur der Erlass der Säumniszuschläge ermessensfehlerfrei sei (BFH, Urt. v. 20.05.2010 – V R 42/08 Rn. 30 – BStBl II 2010, 955; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 240 AO Rn. 57).

VIII. Ein Erlass komme hingegen nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht habe oder wenn die Vollziehung zu Recht nicht ausgesetzt worden sei, weil – z.B. in Schätzungsfällen – keine ernstlichen Zweifel bestanden hätten und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden sei (st. Rspr.; vgl. BFH, Urt. v. 24.04.2014 – V R 52/13 Rn. 12 – BStBl II 2015, 106 m.w.N.; BFH, Beschl. v. 02.03.2017 – II B 33/16 Rn. 16 – BStBl II 2017, 646). Der Steuerpflichtige müsse zumindest gegenüber dem Finanzamt alles tun, um AdV zu erlangen. Dazu müsse er sich soweit substantiiert um einstweiligen Rechtsschutz bemüht haben, dass eine summarische Prüfung Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung hätte ergeben können. Dies schließe eine Begründung des Einspruchs im Rahmen des geforderten Bemühens um einstweiligen Rechtsschutz mit ein, da nach § 357 Abs. 3 Satz 3 AO mit Einspruchseinlegung auch die Tatsachen, die zur Begründung dienten, und die Beweismittel angeführt werden sollten.

IX. Zu keiner anderen Beurteilung führe, dass die Finanzbehörde im AdV-Verfahren zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen verpflichtet bleibe (§ 88 AO); denn es dürfe diese auf die dargelegte zweifelhafte Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts begrenzen (Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 361 AO Rn. 719). Die summarische Prüfung könne sich – ebenso wie die finanzgerichtliche Prüfung – insofern auf den Sachverhalt beschränken, der sich aus dem Vortrag des Antragstellers und der Aktenlage ergebe (BFH, Beschl. v. 31.03.2016 – XI B 13/16 Rn. 14 – BFH/NV 2016, 1187; Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 361 AO Rn. 727; jeweils m.w.N.). Da auch in diesem Verfahren die Regeln über die objektive Beweislast (Feststellungslast) gälten, sei es Sache des Antragstellers, die aus seiner Sicht entscheidungserheblichen Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen (BFH, Großer Senat, Beschl. v. 05.03.1979 – GrS 5/77 Rn. 35 – BStBl II 1979, 570; Gosch in: Gosch, FGO, § 69 Rn. 174; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 123). Entsprechend komme ein Erlass nicht in Betracht, wenn Anträge auf AdV nicht „ernsthaft“ bzw. nachvollziehbar begründet worden seien (BFH, Urt. v. 10.03.2016 – III R 2/15 Rn. 32 – BStBl II 2016, 508; OVG Magdeburg, Urt. v. 19.09.2013 – 4 L 205/12 Rn. 33; Anm. Pflaum, HFR 2016, 592, und Anm. Bleschick, EFG 2017, 364, 365).

X. Unter Beachtung dieser Grundsätze sei die vom Finanzamt getroffene Entscheidung, Säumniszuschläge nicht zu erlassen, ermessensfehlerfrei, denn der Kläger hat gegenüber dem Finanzamt nicht alles (Erdenkliche) getan, um AdV zu erlangen, so dass sein Verhalten den Anforderungen nicht genüge, die für einen Erlass an das Bemühen des Steuerpflichtigen zu stellen seien.
Ein substantiierter Vortrag und eine entsprechende Begründung des Einspruchs gegen die Ablehnung der AdV durch den Kläger seien weder zu den Kurbanspenden noch den Türkeizinsen erfolgt. Weder genüge insofern eine etwaige spätere Begründung im Hauptsacheverfahren, ohne hierauf im AdV-Verfahren zu verweisen, noch die Bezugnahme auf eine zukünftige Begründung in einem anderen Verfahren.
Neuer Vortrag sei im Revisionsverfahren grundsätzlich unbeachtlich. Darüber hinaus sei bei der Beurteilung, ob der Kläger sich ausreichend um einstweiligen Rechtsschutz bemüht habe, auf den Zeitpunkt der (ablehnenden) AdV-Entscheidung abzustellen (Gosch in: Gosch, FGO, § 69 Rn. 176). Dies sei der 15.01.2013, an dem das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung entschieden habe. Im Ergebnis komme es somit auch nicht darauf an, ob der Kläger außerdem finanzgerichtlichen Rechtsschutz hätte in Anspruch nehmen müssen.

XI. Die Revision des Klägers sei unbegründet. Die von ihm gerügten Verfahrensfehler lägen nicht vor.
Unabhängig davon, ob die Rügen entsprechend den Vorgaben aus § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO hinreichend dargelegt worden und rechtzeitig erfolgt seien (vgl. BFH, Beschl. v. 30.10.2003 – III R 4/03 Rz 10; BFH, Urt. v. 05.10.2017 – VIII R 13/14 – BFH/NV 2018, 27 Rn. 40; jeweils m.w.N.), kann im Ergebnis dahinstehen, ob das Finanzamt „gewichtige Anhaltspunkte“ oder gewichtige Zweifel i.S.d. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO hätte haben müssen; denn einer dahingehenden inzidenten Überprüfung der AdV-Entscheidung im Billigkeitsverfahren habe es nicht bedurft.

XII. Ob zum Zeitpunkt der AdV-Versagung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide i.S.v. § 361 Abs. 2 Satz 2 AO bzw. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO vorgelegen hätten, d.h. die Entscheidung bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag des Klägers und der Aktenlage ergeben habe, rechtmäßig gewesen sei, sei nicht zu überprüfen (BFH, Urt. v. 10.03.2016 – III R 2/15 Rn. 26 – BStBl II 2016, 508; Klein/Rüsken, AO, 14. Aufl., § 240 Rn. 65; a.A. im Sinne einer vollen Überprüfung der AdV-Entscheidung: VG München, Urt. v. 12.11. 2015 – M 10 K 14.4662 Rn. 39; FG München, Urt. v. 21.05.2013 – 10 K 1310/10 Rn. 47).
Zum einen würde einem – eventuell abweichenden – Prüfungsergebnis bereits die materielle Bindungswirkung der im Eilverfahren ergangenen Entscheidung entgegenstehen (VG Potsdam, Urt. v. 26.02.2014 – 8 K 1031/12 Rn. 28 – LKV 2014, 236). Auch würde es bei gerichtlich versagter AdV möglicherweise zu divergierenden gerichtlichen Entscheidungen kommen.
Zum anderen solle und könne das Erlassverfahren nicht dazu dienen, die Säumnis des Steuerpflichtigen in Bezug auf das Ergreifen von Rechtsbehelfen durch die Anwendung des § 227 AO auszugleichen (BFH, Beschl. v. 30.09.2015 – I B 62/14 Rn. 5 – BFH/NV 2016, 369; BFH, Urt. v. 31.05.2017 – I R 77/15 Rn. 15 f. – BFH/NV 2017, 1409; Seer in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl., § 21 Rn. 338). Eine vollumfängliche Rechtmäßigkeitskontrolle, obwohl Rechtsmittel versäumt worden seien, stelle das Erlassverfahren, das insbesondere unter Beachtung des einzelfallspezifischen Verhaltens des Steuerpflichtigen einen gesetzgeberischen Überhang korrigieren solle, nicht zur Verfügung. Darüber hinaus habe der Kläger gegenüber dem Finanzamt nicht alles getan, um AdV zu erlangen.

C. Kontext der Entscheidung

I. Sachlich unbillig ist die Festsetzung bzw. Einziehung einer Steuer oder Nebenleistung, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte – im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH, Urt. v. 20.09.2012 – IV R 29/10 – BStBl II 2013, 505 m.w.N.; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 9/2013 Anm. 4).

II. Bei der Billigkeitsprüfung müssen solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt in der Regel keine Billigkeitsmaßnahme (BFH, Urt. v. 07.10.2010 – V R 17/09 – BFH/NV 2011, 865 m.w.N.). Insbesondere kann § 227 AO nicht als Rechtsgrundlage für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Befreiungsvorschrift dienen.

III. Die Billigkeitsprüfung darf sich je nach Fallgestaltung nicht nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze und verfassungsmäßige Wertungen beschränken; sie verlangt vielmehr eine Gesamtbeurteilung aller Normen, die für die Verwirklichung des in Frage stehenden Steueranspruchs im konkreten Fall maßgeblich sind (BFH, Urt. v. 26.10.1994 – X R 104/92 – BStBl II 1995, 297 m.w.N.).

IV. Säumniszuschläge sind in der Regel zur Hälfte zu erlassen, wenn ihre Funktion als Druckmittel ihren Sinn verliert (st. Rspr., BFH, Urt. v. 30.03.2006 – V R 2/04 – BStBl II 2006, 612; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 25/2006 Anm. 1; jurisPR-SteuerR 26/2016 Anm. 1 unter C. VIII.).

V. Die gesetzgeberische Entscheidung in § 240 Abs. 1 Satz 4 AO, dass Säumniszuschläge nicht akzessorisch zur Hauptschuld sind, ist auch dann zu beachten, wenn die angefochtene Steuerfestsetzung ersatzlos – oder nur teilweise – aufgehoben wird, ohne dass der Steuerpflichtige Aussetzung der Vollziehung beantragt hatte, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre (vgl. BFH, Urt. v. 30.03.2006 – V R 2/04 – BStBl II 2006, 612).

D. Auswirkungen für die Praxis

Entsprechend der auch durch die Besprechungsentscheidung erneut bestätigten ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung kann der Steuerpflichtige nur dann den Erlass von kraft Gesetzes anfallenden Säumniszuschlägen trotz späterer Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Steuerfestsetzung erfolgreich erlangen, wenn er seinerseits alle außergerichtlichen und gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen.
Durch eine Aussetzung der Vollziehung wird die Fälligkeit der durch die Steuerfestsetzung geforderten Leistung gehemmt mit der Folge, dass keine Säumniszuschläge anfallen (BFH, Beschl. v. 26.11.1986 – VIII B 87/86 – BFH/NV 1988, 711).

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