Nachfolgend ein Beitrag vom 11.10.2017 von Klocke, jurisPR-ArbR 41/2017 Anm. 2
Orientierungssätze
1. Der Zehnte Senat möchte die Auffassung vertreten, dass ein Arbeitnehmer nach § 106 Satz 1 GewO, § 315 BGB nicht – auch nicht vorläufig – an eine Weisung des Arbeitgebers gebunden ist, die die Grenzen billigen Ermessens nicht wahrt.
2. Damit weicht der Senat von der Rechtsaufassung des Fünften Senats (Urt. v. 22.02.2012 – 5 AZR 249/11 Rn. 24 – BAGE 141, 34) ab. Der Zehnte Senat fragt nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG beim Fünften Senat an, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält.
A. Problemstellung
Die Entscheidung ließ aufhorchen: Gegen heftigen Protest der juristischen Literatur vertrat der Fünfte Senat des BAG die Rechtsansicht, dass ein Arbeitnehmer eine unbillige Weisung befolgen muss. Diese Auffassung teilte der Zehnte Senat jüngst nicht und fragte an, ob der Fünfte Senat an seiner Rechtsprechung festhalten will. Ausweislich der Pressemitteilung vom 19.09.2017 hat der Fünfte Senat mit Beschluss vom 14.09.2017 (5 AS 7/17) hierauf geantwortet, dass er an dieser Rechtsauffassung nicht mehr festhält. Die Rechtsfrage hat größte Bedeutung für das Arbeitsleben in Deutschland.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Anfrage des Zehnten Senats lag ein Streit über die Rechtmäßigkeit einer Weisung zugrunde, die den Kläger an einen anderen Arbeitsort versetzte. Ausgangspunkt des Streits waren innerbetriebliche Probleme der Belegschaft mit dem Kläger. Ausweislich des Arbeitsvertrags war die Arbeitgeberin berechtigt, einen anderen Arbeitsort zuzuweisen. Der Kläger nahm die Arbeit dort nicht auf. Nach zwei Abmahnungen sprach die Arbeitgeberin die fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung aus. Hiergegen wandte sich der Kläger. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht gaben ihm Recht.
Das BAG betonte zunächst, dass das Weisungsrecht des Arbeitgebers bei Fehlen einer speziellen Regelung im Vertrag auch den Ort der Arbeitsleistung erfasst. Da weder Tarifvertrag, noch BetrVG, noch § 612a BGB zur Unwirksamkeit der Weisung führten, war es am BAG, die Billigkeit der Weisung zu überprüfen. Diesbezüglich konstatierte das BAG, dass die Bewertung der Billigkeit einer individualvertraglichen Weisung nach den Grundsätzen der Kontrolle der Interpretation von unbestimmten Rechtsbegriffen zu erfolgen hat und hielt die Bewertung durch das Landesarbeitsgericht als unbillig aufrecht.
Dieser unbilligen Weisung musste der Kläger nach Auffassung des Zehnten Senats nicht Folge leisten. Eine Bindungswirkung einer unbilligen Weisung sei bis zur Entscheidung des Fünften Senats nahezu nicht vertreten worden. Weiter führt der Zehnte Senat § 12 SeeArbG an. Zudem sei eine gerichtliche Bestimmung der Weisung ein unzulässiger Eingriff in die Rechtsstellung des Arbeitgebers. Eine Parallele zur Änderungskündigung bestehe nicht, da es bei einer Weisung nicht um den Vertragsschluss, sondern um die Konkretisierung einer vertraglichen Pflicht gehe. Ein Umkehrschluss aus § 275 Abs. 3 BGB sei ausgeschlossen, weil § 106 GewO einen anderen Maßstab anwende.
Auf § 315 BGB könne zwar zurückgegriffen werden, insbesondere auf die Bindungswirkung einer billigen Weisung, das gelte aber nicht für § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB. Diese Norm habe ihren Sinn in solchen Fällen, in denen der Gläubiger die Leistungsbestimmung andernfalls nicht durchsetzen könnte. Im Arbeitsrecht werde diese Problematik über das Fortbestehen des Vergütungsanspruchs gelöst.
Schließlich folge die Bindungswirkung auch nicht aus Sinn und Zweck des Weisungsrechts. Die Bindungswirkung würde das Risiko einseitig auf den Arbeitnehmer abwälzen, obwohl seine Weigerung eigentlich der objektiven Rechtslage entspricht. Insofern stehe die Formulierung des § 106 GewO für eine Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Bindungswirkung.
Wegen dieser Divergenz sah sich der Zehnte Senat des BAG an einer abschließenden Entscheidung gehindert und legte dem Fünften Senat die Frage vor, ob er an seiner Rechtsprechung festhalten wolle. In seinem Antwortbeschluss vom 14.09.2017 (5 AS 7/17) gab der Fünfte Senat seine Rechtsprechung auf.
C. Kontext der Entscheidung
Die Anfrage des Zehnten Senats erklärt sich aus dem Verfahren vor dem Großen Senat. Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern, wird nach § 45 Abs. 1 ArbGG ein Großer Senat gebildet. Eine Vorlage an diesen ist nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG nur dann zulässig, wenn der erkennende Senat zuvor bei dem Senat angefragt hat, von dessen Rechtsprechung er abweichen will, und dieser erklärt, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält.
Die Anfrage des Zehnten Senats zielte auf die Bindungswirkung einer unbilligen Weisung. Der Fünfte Senat hat in einem vielbeachteten Urteil aus 2012 die Bindungswirkung einer unbilligen Weisung bejaht (BAG, Urt. v. 22.02.2012 – 5 AZR 249/11). Abgeleitet wurde diese Bindungswirkung aus dem besonderen Verfahren in § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB.
Weitgehend unstreitig war, dass diese Rechtsprechung nur für den Fall der Unbilligkeit nach den §§ 106, 315 BGB galt. War die Weisung aus einem anderen Grund unwirksam, so war sie jedenfalls unverbindlich (Müller-Glöge in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 611 Rn. 1021; Hromadka, NZA 2017, 601, 606).
Die zivilrechtliche Literatur akzeptierte bzw. zitierte die Entscheidung (Grüneberg in: Palandt, BGB, 76. Aufl. 2017, § 315 Rn. 16; Hager in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 315 Rn. 22). Die Reaktion der arbeitsrechtlichen Fachliteratur war deutlicher. Die Ablehnung der Rechtsprechung überwog (vgl. nur Thüsing, JM 2014, 20; Boemke, jurisPR-ArbR 30/2012 Anm. 1; Preis, NZA 2015, 1 u.v.m; zustimmend u.a.: Hromadka, NZA 2017, 601).
In der Folge distanzierten sich einige Landesarbeitsgerichte von der Rechtsprechung des Fünften Senats (LArbG Hamm, Urt. v. 17.03.2016 – 17 Sa 1660/15; LArbG Düsseldorf, Urt. v. 06.04.2016 -12 Sa 1153/15; LArbG Erfurt, Urt. v. 17.01.2017 – 1 Sa 212/16; zustimmend hingegen: LArbG Mainz, Urt. v. 17.03.2014 – 3 Sa 535/13), während die Folgeentscheidungen anderer Senate des BAG subtiler kritisierten (BAG, Urt. v. 24.09.2015 – 2 AZR 3/14 Rn. 16).
D. Auswirkungen für die Praxis
Mit dem Antwortbeschluss des Fünften Senats wird eine Entscheidung des Großen Senats entbehrlich. Für die Praxis ist die Entwicklung zu begrüßen. Das gilt sowohl in rechtlicher Hinsicht, als auch im Hinblick auf die betrieblichen Abläufe. Bislang führte der starke Protest aus Praxis und Theorie zu Unsicherheiten in der betrieblichen Praxis. Nunmehr herrscht in diesem Punkt Klarheit. Nicht zu lösen ist einstweilen und in dieser Allgemeinheit, wann im Einzelfall eine Weisung unbillig ist. Diese Rechtsunsicherheit ist unbestimmten Rechtsbegriffen immanent.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
In dieser Hinsicht ist der Anfrage gleichwohl ein weiterer wichtiger Aspekt zu entnehmen. In der Entscheidung musste sich das BAG auch mit dem Maßstab für die Überprüfung der Weisung des Arbeitgebers auseinandersetzen. Hierbei ist zu differenzieren.
Die Tatsachengerichte (hierzu: Pfeiffer in: Natter/Gross, Arbeitsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2013, § 64 Rn. 2) müssen den unbestimmten Rechtsbegriff auf den Fall anwenden. Das bedeutet für die Weisung, dass Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht die Weisung konkret und umfassend auf ihre Billigkeit hin untersuchen.
Das BAG, als Revisionsgericht, ist mit den Bewertungen der unteren Instanzen konfrontiert und muss diese seinerseits bewerten. Hier zeichnet sich in der Entwicklung klar die Tendenz heraus, diese Überprüfungszuständigkeit einzuschränken. Die revisionsrechtliche Überprüfung ist dabei grundsätzlich darauf beschränkt, ob das Landesarbeitsgericht von dem zutreffenden Rechtsbegriff ausgegangen ist, ob es diesen bei der Subsumtion beibehalten hat, ob ihm bei seiner Anwendung Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze unterlaufen sind und ob es alle entscheidungserheblichen Umstände berücksichtigt hat (BAG, Urt. v. 27.08.2008 – 4 AZR 470/07). Speziell betonte der Neunte Senat, entscheidend sei, ob der Rechtsbegriff „billiges Ermessen“ verkannt, der äußere Ermessensrahmen überschritten, innere Ermessensfehler begangen, unsachliche Erwägungen zugrunde gelegt oder wesentlicher Tatsachenstoff außer Acht gelassen worden seien (BAG, Urt. v. 23.06.2015 – 9 AZR 125/14).
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